Am Morgen nach ihrem Streit war der Umgang zwischen den Reisegefährten leichter und entspannter als seit Wochen. Rhapsody konnte sich erst nicht recht erklären, warum es so war, kam aber dann zu dem Schluss, dass all das Misstrauen zwischen ihnen, das bis zum gestrigen Abend unausgesprochen geblieben war, sich im Lauf der Reise immer mehr angestaut, nun endlich ein Ventil gefunden und sich entladen hatte.
Es war seltsam; er hatte sie mit seiner Waffe bedroht, sie hatte ihn beleidigt, und nun fühlten sie sich viel wohler miteinander, als sie sich seit ihrem Aufbruch von Ylorc jemals gefühlt hatten, gerade so, als hätte plötzlich ein Fieber nachgelassen. Der ständige Kontakt mit den Bolg macht mich allmählich sonderbar, dachte Rhapsody mit einem amüsierten Seufzer. Das abstoßende Verhalten der Männer in ihrer Bekanntschaft, das ihre Brüder veranlasst hätte, ihre Ehre zu verteidigen, gehörte inzwischen zu ihrem Alltag. All ihre männlichen Freunde behandelten sie grob.
Vielleicht war es das, was ihr an Ashe gefiel. Anders als die anderen Menschenmänner, die sie kannte, behandelte er sie wie eine Freundin oder sogar eine höflich distanzierte Bekannte. Er wies nicht ständig Anzeichen von Erregung auf; von Nana, der Besitzerin des Bordells, in dem sie in Serendair gelebt hatte, hatte sie gelernt, amouröse Absichten früh zu erkennen, und diese Fähigkeit leistete ihr gute Dienste. Ihr war klar geworden, dass Männer mit wenigen Ausnahmen zu denen Ashe gehörte in einem Zustand ständiger Erregung lebten. Ashe behandelte sie freundlich und ein wenig spöttisch, ganz ähnlich wie ihre Brüder es getan hatten, schäkerte zwar gelegentlich mit ihr, bedrängte sie aber nie. Ob seine platonische Haltung ihr gegenüber ein Zeichen von Gleichgültigkeit oder ein körperliches Problem war, spielte dabei keine Rolle. Auf alle Fälle entstand so eine angenehm kameradschaftliche Stimmung, die sie sehr schätzte. Ashe wusste, dass sie in diesem Irrglauben lebte, und das erleichterte ihm das Atmen. Nichts jedoch hätte von der Wahrheit weiter entfernt sein können. Sein Nebelmantel, seine verhasste Verkleidung vor den Augen der Welt, war hier ein Segen, denn er verbarg seine Sehnsucht nach ihr ebenso wie seine ganz und gar nicht noblen Wünsche. Rhapsodys seltsames Talent zur Selbsttäuschung trug das seine zu dieser Situation bei. So setzten sie ihre Reise fort er gab ihr keinen Grund, seine Absichten in Zweifel zu ziehen, und sie ignorierte jedes Anzeichen dafür, dass sie überhaupt existierten.
Als der Regen sie einholte, wurde das Wandern zur Strapaze. Je weiter sie nach Westen gelangten, desto dichter war der Wald, wodurch sie noch langsamer vorwärtskamen. Der Schnee zu Füßen der Bäume war geschmolzen und hatte Ringe braunen Grases zurückgelassen, Vorboten des wärmeren, wenn auch vielleicht nicht unbedingt besseren Wetters.
Nachdem sie sich stundenlang durch verwachsenes Dickicht und Dornenbüsche geschleppt hatten, machten sie eines Spätnachmittags am Rand eines Sumpfs Halt. Rhapsody entdeckte einen einigermaßen gemütlich aussehenden Blätterhaufen unter einer Ulme und ließ sich erschöpft darauf sinken. Ashe wich zurück, als sie mit lautem Kreischen wieder aufsprang, sich den Allerwertesten rieb und in der Firbolg-Sprache hässliche Flüche ausstieß. Als sie die Fassung wiedergewonnen hatte, kniete sie sich unter den Baum, fegte die Blätter beiseite und legte einen großen viereckigen Stein mit eingemeißelten Runen frei. Die Worte waren vom Schmutz verkrustet. Vorsichtig kratzte sie die harte Erde weg und atmete tief aus, als sie die Inschrift entzifferte.
Cyme we inne frið,
fram the grip of deaþ to lif
inne ðis smylte land
Diese Inschrift hatte Llauron ihr vor langer, langer Zeit gezeigt; Gwylliam hatte Merithyn, dem Entdecker, aufgetragen, mit diesen Worten alle Wesen zu begrüßen, denen er auf seinen Reisen begegnete, mit den Worten, die er auf Elynsynos’ Grab eingemeißelt hatte. Kommen wir in friedlicher Absicht, den Klauen des Todes entronnen, um in diesem schönen Land zu leben. »Das ist ein cymrisches Zeichen«, murmelte sie, mehr zu sich selbst als laut. Auch Ashe bückte sich, um den Stein näher in Augenschein zu nehmen. »Tatsächlich«, meinte er freundlich. »Erkennst du ihn wieder?«
Verwundert blickte Rhapsody ihn an. »Was meinst du? Wenn ich gewusst hätte, dass der Stein hier ist, glaubst du, ich hätte mir daran wehgetan?«
Ashe richtete sich wieder auf. »Nein«, antwortete er. »Ich habe mich nur gefragt, ob du ihn vielleicht schon einmal gesehen hast.«
»Wann sollte das gewesen sein? Wenn ich schon einmal hier gewesen wäre, würde ich dich kaum als Führer brauchen.« Damit nahm sie ihren Umhang ab und legte ihn auf den Boden. Ashe entledigte sich seines Tornisters. »Ich dachte, du hast den Stein vielleicht gesehen, als er aufgerichtet wurde.«
Rhapsody stieß einen ärgerlichen Seufzer aus. Ständig ließ Ashe irgendwelche Andeutungen dieser Art fallen oder machte versteckte Anspielungen auf die Cymrer der Ersten Generation. Schon lange war sie zu dem Schluss gekommen, dass er versuchte, ihr eine Falle zu stellen, sie als eine von ihnen zu entlarven. Allerdings war dies sein bisher deutlichster Versuch.
»Ich habe wirklich genug von diesem Spielchen«, sagte sie. »Wenn du wissen möchtest, ob ich mit der Ersten Flotte gesegelt bin, warum fragst du mich nicht einfach?«
Offensichtlich überrascht, richtete Ashe sich noch gerader auf. »Bist du mit ihr gesegelt?«
»Nein.«
»Oh.« Anscheinend erstaunte ihn ihre Antwort. »Mit der Zweiten? Oder der Dritten vielleicht?«
»Nein. Ich war überhaupt noch nie auf einem Schiff, abgesehen von Ruderbooten und Fähren.«
»Dann bist du nie auf See von einem Land zum anderen gereist? Du bist überall hin gewandert?«
Unwillkürlich musste Rhapsody an ihren Marsch denken, an der Wurzel entlang, mitten durch die Erde. Sie schauderte. »Zu Fuß oder auf dem Pferderücken. Würdest du jetzt bitte das Thema wechseln?«
Ashe ließ seinen Tornister zu Boden fallen. »Das Thema wechseln?«
»Seit wir aufgebrochen sind, hast du mich mit verstohlenen Fragen über die Cymrer gequält. Das gefällt mir nicht.«
»Aber weißt du denn, wer sie waren?«
»Ja«, räumte sie ein, »aber was ich über sie weiß, habe ich aus historischen Schriften erfahren und von denen, die sie studierten. Wenn du also so freundlich wärst, könnten wir dieses Katz-und-Maus-Spiel beenden.«
Ashe lachte leise. »Wenn ich mich nicht irre, endet ein Katz-und-Maus-Spiel im Allgemeinen damit, dass die Katze die Maus frisst.« Er holte seine Kochutensilien aus dem Tornister. »Ich vermute, ich muss dir nicht erklären, wer von uns beiden bei diesem Vergleich welche Rolle übernimmt.«
Rhapsody sammelte Zweige und Torf für das Lagerfeuer. »Möchtest du das heute Abend gern machen?«
»Ist das ein Angebot?«, fragte er in viel sagendem Ton zurück.
»Nun«, meinte sie, während sie sich bückte und weiter Äste aufsammelte, »ich denke, es ließe sich einrichten. Wenn ich das Feuer in Gang gebracht habe, sehe ich mich ein bisschen um, ob ich ein paar kleine Nagetiere zum Abendessen auftreiben kann.« Während sie sich weiter ums Brennholz kümmerte, begann sie unbewusst zu pfeifen. Schon bald erkannte Ashe die Melodie: Es war eine Hymne an die Erntegöttin, ein Lied aus dem alten Land. Sie musste eine Cymrerin sein, da war Ashe sich praktisch sicher, und er beschloss, eine andere Methode zu versuchen, um eine Antwort von ihr zu bekommen. Er überlegte, welche Sprachen sie in der alten Welt gesprochen hätte, wenn sie tatsächlich cymrisch war, doch seine Kenntnis des Altlirin war begrenzt. Also entschied er sich, erst eine Bemerkung in der archaischen Lirin-Sprache und dann auf Altcymrisch zu versuchen. Er wartete, bis er ihr Gesicht auf der anderen Seite des Feuers gut sehen konnte.
»Weißt du, Rhapsody, ich finde dich äußerst anziehend«, sagte er in der ausgestorbenen Lirin-Sprache und wechselte dann zur Sprache der Cymrer. »Ich sehe es schrecklich gern, wenn du dich bückst.« Sie warf ihm einen seltsamen Blick zu, sagte jedoch nichts, und der Drache in ihm spürte nichts davon, dass ihr das Blut in den Kopf stieg. Bei seiner ersten Bemerkung war die Falte auf ihrer Stirn deutlicher ausgeprägt gewesen als bei der zweiten; vielleicht hatte sie in einem lirinschen Dorf oder in einem Langhaus auf den Marschen gelebt, wo man nur Lirinsch sprach. Er versuchte es noch einmal.
»Und du hast ein unglaubliches Hinterteil«, sagte er und wartete auf eine Reaktion. Sie sammelte Torf ein und warf ihn ins Feuer, aber anscheinend wurde sie allmählich ärgerlich.
»Ich verstehe dich nicht«, meinte sie und warf ihm durch den Qualm hindurch einen zornigen Blick zu. »Bitte hör auf, mich mit diesem Geplapper zu belästigen.« Seufzend machte er sich wieder daran, sein Kochgeschirr auszupacken; Rhapsody wartete, bis er sich umdrehte, dann grinste sie breit. Tahn, Rhapsody, evet marva hidion Hör mir mit Wohlwollen zu, Rhapsody, ich finde, du bist wunderschön, wie ein Magnet. Abria jirist hyst ovetis bec Ich liebe es, dir zuzusehen, wie du dich bückst. Kwelster evet re marya du hast das allerschönste Brötchen. Rhapsody musste sich sehr anstrengen, nicht vor Lachen zu ersticken. Ashes Altcymrisch war nicht so schlecht, aber sein Lirinsch war noch gebrochener, als er wahrscheinlich ahnte.
Und doch sagte sie wie immer die Wahrheit: Sie verstand überhaupt nicht, was er sagen wollte.
Die beiden waren dazu übergegangen, kürzere Wachen abzuhalten, hauptsächlich wegen Rhapsodys Albträumen. Nach ungefähr einer Stunde Schlaf wälzte sie sich meist herum, murmelte leise vor sich hin, weinte manchmal oder erwachte voller Schrecken und nach Atem ringend. Ashe hätte sie gern beruhigt, wenn sie solche Träume litt, und er überlegte oft, ob er sie nicht vorsichtig wecken sollte, um sie vor ihnen zu bewahren, aber er wusste auch, dass sie wahrscheinlich Visionen hatte, Visionen von der Zukunft, die vielleicht notwendig waren, ganz gleich, wie sehr sie ihr zusetzten. So saß er da und beobachtete frustriert und sorgenvoll, wie sie die Nächte durchlitt und immer wieder zitternd aus ihrem leichten Schlaf aufschreckte.
Tagsüber sprachen sie nur wenig miteinander. Erst am Abend wurde die Spannung geringer und das Gespräch leichter. Dunkelheit hüllte den Wald ein, seine Geräusche wurden lauter und mischten sich unter das Knistern des Feuers und das Wispern des Windes in den Bäumen, das im Tageslicht kaum zu hören war. Bei Tag schien es so, als würden die Worte prüfend gegen das Licht gehalten, deshalb gebrauchte man sie nur spärlich. Doch die Nacht verbarg sie, und wenn es dunkel war, konnten Rhapsody und Ashe sich viel eher austauschen. Inzwischen waren sie nur noch wenige Tage von ihrem Ziel entfernt. Ashe hatte gesagt, bis zum Ende der Woche würden sie Elynsynos’ Höhle erreichen. Noch lag ein breiter Fluss vor ihnen, den sie überqueren mussten, noch hatten sie viele Meilen zu bewältigen, aber sie befanden sich in unmittelbarer Nähe.
In dieser Nacht lag Einsamkeit in der Luft. So lange wanderten sie nun schon durch den Wald, dass sie kaum mehr wussten, wie es war, nicht von Bäumen umgeben zu sein. Rhapsodys Abendgebete schienen vom Baumdach verschlungen zu werden, als wären ihre Lieder plötzlich zu schwer, um zu den Sternen aufzusteigen. Nun saß sie auf dem Hang eines kleinen Waldhügels und sah zu, wie die Sterne einer nach dem anderen im Dämmerlicht aufgingen und sich wieder hinter den ziehenden Wolken verbargen, die sie achtlos verschluckten. Rhapsody musste an winzige Elritzen denken, deren Schuppen im Wasser eines dunklen Sees schimmerten, verfolgt von weißen Raubfischen, die sie auffraßen und dann weiterschwammen.
»Rhapsody?« Ashes Stimme drang in ihre Einsamkeit, und sie wandte sich zu ihrem Gefährten um, der schattengleich am Feuer kauerte. An seinem Nebelumhang brach sich das Licht der Flammen und hüllte ihn in dichten Dunst.
»Ja?«
»Fühlst du dich sicher hier mit mir?«
Sie überlegte kurz. »So sicher wie irgendwo, denke ich.«
Die verhüllte Gestalt blickte auf. »Was meinst du damit?« Seine Stimme klang sanft, beinahe zärtlich.
Rhapsody blickte wieder zum Himmel empor. »Vermutlich kann ich mich nicht mehr erinnern, wie es ist, sich sicher zu fühlen.«
Ashe nickte und versank wieder in seine eigenen Gedanken. Einen Augenblick später jedoch begann er wieder zu sprechen.
»Ist es wegen der Träume?«
Rhapsody zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. »Zum Teil.«
»Hast du Angst, Elynsynos zu begegnen?«
»Ein wenig«, antwortete sie mit einem leichten Lächeln.
Ashe nahm den Kessel und goss sich noch eine Tasse Tee ein. Als wollte er sein unhöfliches Betragen von früher wettmachen, trank er jetzt im Lauf der Nacht das meiste aus dem Kessel, was Rhapsody amüsierte. »Ich könnte mit dir gehen, wenn das eine Hilfe wäre.«
Wieder überlegte Rhapsody, schüttelte dann aber den Kopf»Ich glaube, das wäre nicht klug, aber trotzdem vielen Dank.«
»Hast du dich jemals sicher gefühlt?« Er nahm einen Schluck aus seinem Becher.
»Ja, doch, aber nun schon lange nicht mehr.«
Ashe spielte mit dem Gedanken, sie direkt nach dem zu fragen, was er wissen wollte, entschied sich dann aber dagegen. »Wann?«
Rhapsody rutschte ein wenig näher ans Feuer. Auf einmal war ihr kalt, und sie zog sich den Umhang enger um die Schultern.
»Als ich noch ein kleines Mädchen war, glaube ich, bevor ich von zu Hause weggelaufen bin.«
Ashe nickte. »Warum bist du weggelaufen?«
Sie hob ruckartig den Kopf und sah ihn an. »Warum läuft man schon weg? Ich war dumm, gedankenlos und selbstsüchtig; vor allem selbstsüchtig.«
Ihm wären noch andere Gründe eingefallen. »Und warst du als kleines Mädchen auch schon so schön?«
»Himmel, nein«, lachte Rhapsody. »Und meine Brüder haben es mir ständig unter die Nase gerieben.«
Auch Ashe musste lachen. »Das ist die Hauptaufgabe eines Bruders seine Schwester in ihre Grenzen zu verweisen.«
»Hast du Schwestern?«
Eine lange Pause trat ein. »Nein«, antwortete er endlich. »Also warst du eine Spätzünderin?«
Sie blinzelte. »Wie bitte?«
»Nennt man so nicht die Mädchen, die, na ja, die als Kind nicht so hübsch sind, aber als Frau wunderschön werden?«
Rhapsody warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Findest du mich schön?«
»Natürlich«, antwortete Ashe und lächelte unter seiner Kapuze. »Du nicht?«
Sie zuckte die Achseln. »Schönheit ist Ansichtssache. Wahrscheinlich bin ich ganz zufrieden damit, wie ich aussehe, zumindest fühle ich mich wohl. Aber für mich hat es nie eine Rolle gespielt, ob andere Leute das auch finden oder nicht.«
»Das ist eine sehr lirinsche Einstellung.«
»Tja, falls dir das bisher entgangen ist ich bin eine Lirin.«
Ashe gab einen theatralischen Seufzer von sich. »Vermutlich bedeutet das, dass man sich nicht bei dir einschmeicheln kann, indem man dir Komplimente für dein Aussehen macht.«
Gedankenverloren strich sie sich durchs Haar. »Nein, eigentlich nicht. Es ist mir unangenehm, vor allem, wenn du es gar nicht so meinst.«
»Wie kommst du auf den Gedanken, dass ich es nicht so meine?«
»Hierzulande scheint es eine ganze Menge Leute zu geben, die finden, ich sehe ungewöhnlich aus, sonderbar; aber meistens macht mir das nichts aus.«
»Was? Das ist doch lächerlich.« Ashe stellte seinen leeren Becher ab.
»Nein, das ist nicht lächerlich. Ich werde öfter angestarrt, als du vielleicht denkst. Wenn du mich die Straße hinuntergehen sähest, könntest du verstehen, was ich meine.«
Ashe wusste nicht, ob er sich über ihre Begriffsstutzigkeit amüsieren oder ärgern sollte.
»Rhapsody, ist dir schon mal aufgefallen, dass die Männer dir folgen, wenn du die Straße hinuntergehst?«
»Ja, aber das kommt daher, dass ich eine Frau bin.«
»Allerdings.«
»Eben, und das machen Männer nun mal sie folgen einer Frau, meine ich. Das ist ihre Natur. Sie sind darauf aus, sich zu paaren, und fast immer, nun ja, fast immer dazu bereit. Dafür können sie nichts. Aber es muss ziemlich anstrengend sein, so zu leben.«
Ashe ließ es sich lieber nicht anmerken, dass er sich amüsierte. »Du glaubst also, dass jede Frau diese Wirkung auf jeden Mann ausübt?«
Wieder blinzelte Rhapsody. »Hm, ja. Es ist Teil der Natur, der Fortpflanzungszyklus, Anziehung und Paarung.«
Nun konnte Ashe sein Lachen nicht mehr zurückhalten. »Da bist du aber leider auf dem Holzweg.«
»Das glaube ich nicht.«
»Aber ich. Du irrst dich gewaltig, wenn du denkst, dass alle Frauen die gleiche Wirkung auf die Männer haben wie du. Du beurteilst es aus deiner eigenen Erfahrung, und die ist ganz anders als die der meisten Leute.«
Allmählich wurde das Gespräch ihr unbehaglich; Ashe merkte es daran, dass sie nach ihrem Tornister griff und darin kramte, bis sie ihre Lerchenflöte fand. Gelegentlich spielte sie das winzige Instrument im Wald; sein Klang verschmolz mit der Waldluft und dem Vogelgesang. Doch nur bei Tag, denn jetzt waren die Vögel still, und die einzige Musik in dieser Stunde stammte vom Wind. Rhapsody lehnte sich an einen Baum und betrachtete Ashe voller Sarkasmus.
»Und du glaubst, dass du Männer und Frauen besser beurteilen kannst?«
Wieder lachte Ashe. »Nun, nicht besser als die meisten, aber besser als du.«
Unvermittelt begann Rhapsody zu spielen, eine Melodie, bei der sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Dann nahm sie die Flöte von den Lippen und lächelte.
»Ich finde, du bist genauso wenig geeignet, ein Urteil zu fällen, wie ich.«
Neugierig richtete Ashe sich auf. »Ach ja? Warum?«
»Weil du ein Wanderer bist.«
»Und was hat das damit zu tun?«
»Meiner Erfahrung nach sind Waldläufer und Wanderer ganz anders als die Mehrzahl der Männer«, behauptete sie leichthin. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen; ihre Augen suchten den Himmel ab, fanden aber nicht, was sie suchte.
»Wie das?«
»Zum einen suchen sie bei Frauen etwas anderes. Das heißt, von den Frauen, mit denen sie zeitlich begrenzt zu tun haben.«
Sie konnte nicht sehen, ob Ashe wirklich lächelte oder ob sie sich nur einbildete, in seiner Stimme ein Lächeln zu vernehmen. »Und was mag das sein?«
Gedankenverloren nahm Rhapsody ihr Flötenspiel wieder auf. Nun war die Melodie luftig, aber melancholisch, und Ashe stellte sich vor, er könnte die Farben und das Gewebe sehen, das sie mit ihren Tönen erschuf, Muster tiefer, weicher Wirbel in Blau und Purpurschattierungen, wie Meereswogen vor einem sich verdunkelnden Sturmhimmel. Dann jedoch wurde das Lied fröhlicher, die Farben hellten sich auf und breiteten sich aus, bis sie wie Wolken auf einem warmen Wind bei Sonnenuntergang dahinschwebten. Fasziniert lauschte Ashe, bis Rhapsody geendet hatte, hielt den Gedanken, den sie nicht beantwortet hatte, jedoch die ganze Zeit über fest.
»Nun?«
Sie zuckte zusammen. Offensichtlich war sie in Gedanken weit weg. »Ja?«
»Entschuldige. Was suchen die meisten Männer in einer zeitlich begrenzten Beziehung zu einer Frau?«
Rhapsody lächelte. »Vergnügen und Ablenkung.«
Ashe nickte. »Und was suchen Wanderer?«
Einen Augenblick dachte sie nach. »Kontakt.«
»Kontakt?«
»Ja. Menschen, die ihr Leben lang allein durch die Welt gehen, verlieren manchmal ihr Verhältnis zur Wirklichkeit, sie wissen nicht mehr, was wirklich ist und was nur in ihrer Erinnerung lebt. Männer, die den größten Teil ihres Lebens auf Wanderschaft sind, wünschen sich von den Frauen, mit denen sie für eine kurze Zeit zusammen sind, in erster Linie Kontakt die Bestätigung, dass sie wirklich existieren. Zumindest ist das nach meiner Erfahrung so.«
Eine Weile schwieg Ashe. Als er wieder sprach, war seine Stimme sanft. »Erkennen sie denn manchmal auch, dass sie nicht existieren?«
»Das kann ich nicht wissen. Ich bin kein Wanderer, zumindest nicht freiwillig. Ich hoffe, es nur für eine kurze Zeit sein zu müssen. Mir sagt dieses Leben nicht zu, ich habe längst genug davon.«
Schweigend saßen sie da, bis Rhapsodys Wache begann, dann stand Ashe langsam auf, bereitete seine Sachen für die Nacht vor und verschwand auf der anderen Seite des Feuers im Schatten. Rhapsody sah zu, wie er sich hinlegte, und glaubte einen tiefen Seufzer zu hören. Vielleicht las sie auch ihre eigenen Gefühle in diesem Laut, aber sie hörte eine tiefe Einsamkeit, ihrer eigenen nicht unähnlich. Schon mehrmals hatte sie sich in seinen Gefühlen geirrt und war betroffen gewesen, wenn sie versucht hatte, ihn zu trösten oder zu beruhigen, nur um zu erkennen, dass er kein Bedürfnis danach verspürte und sich über ihre Bemühungen ärgerte. Einen Augenblick lang überlegte sie, welche Möglichkeiten sie hatte, dann beschloss sie, sich lieber dahingehend zu irren, dass sie zu nett war.
»Ashe?«
»Hmmm?«
»Du existierst, selbst wenn du manchmal schwer zu sehen bist.«
Die Stimme aus dem Schatten klang unverbindlich. »Danke vielmals, dass du mir das sagst.«
Rhapsody duckte sich. Wieder einmal hatte sie die falsche Entscheidung getroffen. So hielt sie Wache, suchte den Horizont nach Lebenszeichen ab, entdeckte aber keine. Abgesehen vom Knistern der Flammen und dem gelegentlichen Flüstern des Windes war die Nacht still. In der Stille hörte sie Ashe leise, wie zu sich selbst, sprechen.
»Ich freue mich, dass du das denkst.«
Um Mitternacht weckte sie ihn zu seiner Wache, kroch dankbar in ihre Bettrolle und war schon eingeschlafen, bevor sie sich richtig ausgestreckt hatte. Etwa eine Stunde später kamen die Albträume und überfielen sie so heftig, dass Ashe seinen Entschluss, sich herauszuhalten, in den Wind schlug und Rhapsody vorsichtig wachrüttelte. Tränenüberströmt fuhr sie hoch, und es dauerte über eine Stunde, ehe sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Es war ein alter Traum, ein Traum, der sie zum ersten Mal heimgesucht hatte, als sie erfahren hatte, dass Serendair nicht mehr existierte, dass es vor vierzehnhundert Jahren zerstört worden war, als sie und die beiden Bolg durch den Bauch der Erde gekrochen waren. In ihrem Traum stand Rhapsody in einem Dorf, das von einem schwarzen Feuer verzehrt wurde; Soldaten ritten durch die Straßen und erschlugen alles, was sie sahen. In der Ferne sah sie Augen am Horizont, rote Augen, die sie auslachten. Und dann, als ein blutüberströmter Krieger auf einem schwarzen Schlachtross mit feurigem Blick wie ein Besessener auf sie zu galoppierte, wurde sie von den Klauen eines riesigen kupferroten Drachens gepackt und in. die Lüfte emporgetragen.
Sie zog die Decke um die Schultern und warf immer wieder einen Blick hinaus in die Dunkelheit jenseits des glühenden Rings ihres Lagerfeuers. Ashe hatte ihr einen Becher Tee in die Hand gedrückt und beobachtete, wie sie ihn zwischen beiden Händen hielt und in die Flammen starrte, bis das Getränk zweifellos kalt war. Schweigend saßen sie im Schatten des Feuers. Endlich sagte er: »Wenn die Erinnerung an den Traum dich beunruhigt, kann ich dir helfen, sie loszuwerden.«
Doch Rhapsody schien ihn kaum zu hören.
Ashe stand auf, griff in eine Falte seines Umhangs und zog einen Augenblick später die Geldbörse hervor, die Jo ihm in Bethe Corbair auf der Straße hatte abnehmen wollen. Er knotete die Schnur auf und zog eine kleine leuchtende Kugel heraus, die er Rhapsody in die Hände legte. Ihre Brauen zogen sich zusammen.
»Eine Perle?«
»Ja. Eine Perle besteht aus vielen Schichten Meerestränen. Sie ist eine Art natürliche Schatzkammer, die so vergängliche Dinge bewahren kann wie Schwüre und Erinnerungen nach alter Tradition werden Staatenbündnisse oder wichtige Abkommen in Gegenwart einer Perle von großem Wert besiegelt.« Rhapsody nickte schwach; sie wusste, dass im alten Land Bräute sich Perlen in die Haare flochten oder sie aus demselben Grund eingefasst als Schmuckstück trugen. »Du bist eine Canwr«, fuhr Ashe fort. »Wenn du von dem Albtraum frei sein möchtest, dann musst du den wahren Namen der Perle sprechen und wollen, dass sie die Erinnerung festhält. Sobald der Gedanke dein Gedächtnis verlassen hat und in der Perle eingefangen ist, dann zertritt sie mit der Ferse. Danach ist der Traum für immer verschwunden.«
Rhapsodys Augen wurden schmal. Canwr war das lirinsche Wort für Benennerin. »Woher weißt du, dass ich eine Benennerin bin?«
Ashe lachte und verschränkte die Arme. »Willst du etwa behaupten, du seiest keine?«
Rhapsody schluckte schwer. Schon seine Frage bewies, dass er die Antwort wusste, denn er hatte sie so gestellt, dass sie lügen müsste, um es abzustreiten. »Nein«, antwortete sie wütend.
»Genau genommen glaube ich, dass ich ab jetzt überhaupt nichts mehr sage. Nur deinen Vorschlag mit der Perle lehne ich dankend ab.« Wieder verfiel sie in Schweigen und starrte in die Nacht hinaus.
Ashe setzte sich ans Feuer und goss sich Tee nach. »Nun, meine Absicht war es, dich von deinem Albtraum abzulenken. So hatte ich es mir zwar nicht vorgestellt, aber zumindest war mein Versuch erfolgreich. Ich weiß nicht genau, warum du verärgert bist. Ich wollte dir nur helfen.«
Rhapsody blickte in den Himmel hinauf. Die Sterne waren verschleiert vom Qualm des Feuers.
»Vielleicht kommt es daher, dass ich zwar deinen Wunsch respektiere, mir keine Einzelheiten über dein Leben und deine Vergangenheit preiszugeben, du aber nichtsdestotrotz ständig versuchst, mir sehr persönliche und bedeutsame Erkenntnisse aus der Nase zu ziehen«, entgegnete sie. »Für die Lirin ist das Benennen kein Thema für eine oberflächliche Unterhaltung, sondern ein religiöser Glaube.«
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann meinte Ashe leise: »Du hast Recht, bitte entschuldige.«
»Außerdem bist du regelrecht darauf versessen herauszufinden, ob ich Cymrerin bin oder nicht. Nach dem, was Herzog Stephen mir gesagt hat, würde man es vielerorts als schweren Affront betrachten, dass du mich für eine Cymrerin hältst.«
»Damit hast du wieder Recht.« Lange sah er sie an, während sie ohne ein bestimmtes Ziel in die Nacht starrte. Da er nicht der Grund für ihre schweigende Bestürzung sein wollte, unternahm er einen weiteren Versuch, ein freundliches Gesprach zu beginnen. »Vielleicht ist es am besten, wenn wir einfach nicht über die Vergangenheit reden. Abgemacht?«
»Einverstanden«, antwortete sie, während ihre Augen immer noch etwas in der Dunkelheit suchten.
»Warum unterhalten wir uns nicht über etwas, was uns beiden Freude macht? Vielleicht vertreibt das ja die Erinnerung an deine Träume. Du wählst das Thema, und vielleicht beantworte ich sogar deine Fragen.«
Mit einem Ruck kam Rhapsody in die Gegenwart zurück, sah Ashe an und lächelte.
»In Ordnung.« Sie dachte einen Augenblick nach, bis ihr ihre adoptierten Enkel einfielen, Gwydion und Melisande, und das Dutzend kleiner Firbolg. Sie waren ihr Prüfstein, das, womit sie sich ablenkte, wenn ihr unangenehme Gedanken durch den Kopf gingen.
»Hast du Kinder?«, fragte sie.
»Nein. Warum?«
»Nun, ich halte immer Ausschau nach Enkeln, die ich adoptieren kann.«
»Nach Enkeln?«
»Ja«, antwortete Rhapsody und ignorierte den beinahe groben Unterton in seiner Stimme.
»Enkel. Weißt du, adoptierte Enkel kann man verwöhnen, wenn man bei ihnen ist, aber man hat nicht die ganze Zeit über die Verantwortung für ihre Erziehung. Das ist gut für mich, denn so habe ich Kinder, die ich lieben kann, obgleich ich nicht ständig bei ihnen sein muss wozu mir schlichtweg die Zeit fehlte. Ich habe zwölf Firbolg-Enkel und zwei menschliche, und ich liebe sie alle sehr.«
»Nun, ich habe keine Kinder. Tut mir Leid, damit kann ich nicht dienen. Aber vielleicht könnten wir etwas arrangieren. Wie wichtig ist es für dich, und wie lange bist du bereit zu warten?« Rhapsody konnte sein Grinsen beinahe hören.
Aber sie ging auf seine seltsame Schäkerei nicht weiter ein. »Bist du verheiratet?«
Ein Lachen war die Antwort.
»Entschuldige warum ist die Frage so komisch?«
»Die meisten Frauen mögen mich nicht. Genau genommen mögen mich die meisten Menschen nicht, aber das ist schon in Ordnung es beruht auf Gegenseitigkeit.«
»Du meine Güte, was für eine verschrobene Einstellung! Nun, ich kann dir im Vertrauen, aber mit absoluter Sicherheit sagen, dass du in Ylorc durchaus einige Verehrerinnen hast.«
»Du meinst damit doch nicht etwa eine der Firbolg-Hebammen, oder?«
»Himmel, nein. Brrrr.«
»Genau so hätte ich es auch ausgedrückt.«
»Nein, aber meine Schwester ist ein bisschen in dich verliebt.«
Ashe nickte unbehaglich. »Oh. Ja.«
»Ist das ein Problem?«
»Nein. Aber es wird zu nichts führen.«
Rhapsody spürte einen Stich. »Wirklich? Ich glaube dir, aber macht es dir etwas aus, wenn ich dich nach dem Grund dafür frage?«
»Nun, zum einen liebe ich zufällig eine andere, wenn du entschuldigst.« Er klang ärgerlich. Vor Verlegenheit wurde Rhapsody knallrot. »Tut mir Leid«, meinte sie. »Wie dumm von mir. Ich wollte nicht unhöflich sein.«
Ashe goss sich noch einmal Tee nach. »Warum nicht? Ich bin oft genug unhöflich zu dir und entschuldige mich nicht einmal dafür. Ein anderer wichtiger Grund ist die Tatsache, dass sie noch ein Kind ist.«
»Ja, du hast vollkommen Recht.«
»Außerdem ist sie ein Mensch.«
»Wäre daran etwas auszusetzen?«
»Nein. Aber meine eigene Rassenzugehörigkeit führt dazu, dass ich eine längere Lebensdauer habe, genau wie du.«
»Dann bist du auch lirinsch?« Dieser Gedanke war ihr nie in den Sinn gekommen.
»Zum Teil, genau wie du.«
»Aha. Nun, das leuchtet mir ein. Aber ist das wirklich so wichtig? Meine Eltern waren Lirin und Mensch, genau wie es das in deiner Familie auch einmal gegeben haben muss. Es hat sie nicht voneinander fern halten können.«
»Nun, manche Lebenserwartungen sind ähnlicher als andere. Wenn du beispielsweise wirklich eine Cymrerin bist, was ich glaube, auch wenn du es nicht zugeben willst, dann hast du ein großes Problem.«
»Warum?«
»Weil nicht einmal die größere Lebensspanne der Lirin dazu passt.«
»Was willst du damit sagen?«
Ashe stand auf und warf noch eine Hand voll Zweige aufs Feuer. Dann sah er sie wieder an. Rhapsody erspähte etwas wie ein Kinn mit einem struppigen Bart, aber im Flackerlicht war es unmöglich, etwas Genaueres zu erkennen.
»Als die Erste Generation der Cymrer eintraf, war es, als käme die Zeit für sie zum Stillstand«, sagte er. »Ich bin nicht sicher, wie es geschehen konnte. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass sie den Hauptmeridian überquert hatten. Ich habe keine Ahnung. Aber aus welchem Grund auch immer schien der Zahn der Zeit den Cymrern nichts anhaben zu können. Sie alterten nicht, und während Jahre und dann Jahrhunderte verstrichen, wurde deutlich, dass sie es auch nicht tun würden. Im Grund waren sie unsterblich geworden. Und wenn sie sich fortpflanzten, waren ihre Nachkommen zwar nicht vollkommen unsterblich, aber doch zumindest außergewöhnlich langlebig. Je weiter sich die Generationen von der ersten entfernen, desto kürzer wird natürlich ihre Lebensspanne, bis sie sich irgendwann wieder den anderen angleichen wird. Aber das hat keinen Einfluss auf die Unsterblichen. Noch heute gibt es Cymrer der Ersten Generation, allerdings leben sie meist im Verborgenen.«
»Warum? Warum verstecken sie sich?«
»Viele sind verrückt, dem Wahnsinn anheim gefallen durch den ›Segen‹ der Unsterblichkeit. Weißt du, Rhapsody, wenn sie von Anfang an unsterblich gewesen wären, hätte es sie vielleicht nicht so mitgenommen, aber sie waren Menschen und Lirin und Nain und so weiter, außergewöhnlich nur durch die Reise, die sie angetreten hatten. Sie hatten sich bereits auf eine bestimmte Lebensdauer eingestellt, und dieser Zyklus wurde nun unterbrochen er kam einfach an dem Punkt zum Stillstand, an dem sie sich gerade befanden.
Stell dir vor, du wärst ein Mensch, der bereits siebzig oder achtzig Jahre gelebt, der die Stadien von Kindheit, Jugend, Erwachsensein und schließlich Alter hinter sich gebracht hat und sich auf seinen baldigen Tod einstellt, und dann würdest du plötzlich merken, dass du für immer so weiterleben wirst, alt und gebrechlich.« Wieder schenkte er sich Tee nach und bot auch Rhapsody, die im Feuerschein ganz still geworden war, welchen an. Gedankenverloren schüttelte sie den Kopf.
»Kinder wuchsen heran, bis sie erwachsen waren, wurden aber nie älter. Manche sind noch am Leben und sehen nicht älter aus als du. Aber viel mehr kamen im Krieg ums Leben oder starben von eigener Hand, nur um einer Ewigkeit zu entgehen, der sie nicht die Stirn bieten konnten, zum Teil ausgestattet mit Kräften, die sie nicht verstanden. Praktisch jeder Cymrer der Ersten Generation hat zumindest ein kleines Stück grundlegendes Wissen mit von der Insel genommen, ob er es nun weiß oder nicht.
Deshalb habe ich gesagt, du könntest ein Problem haben. Wenn du eine Cymrerin einer späteren Generation bist, dann wirst du sehr lange leben und dich zweifellos dem gegenüber sehen, was auch die anderen verkraften mussten: der Aussicht zuzusehen, wie deine Liebe alt wird und stirbt, in einem Zeitraum, der dir vorkommt wie ein Augenblick. Und wenn du eine Cymrerin der Ersten Generation bist, dann ist es noch schlimmer, denn wenn du nicht getötet wirst, lebst du ewig. Stell dir vor, wie es ist, immer wieder jemanden zu verlieren, der dir nahe ist deine Geliebten, deinen Mann, deine Kinder ...«
»Hör auf«, unterbrach ihn Rhapsody. Ihre Stimme klang barsch. Sie stand auf und ging ans Feuer, dann schüttete sie den Rest Tee aus ihrer Tasse mit Schwung in die Dunkelheit. Als sie zurückkam, ließ sie sich ein Stück weiter weg von Ashe nieder, sodass er ihr Gesicht nicht mehr so gut sehen konnte.
Lange schwiegen sie; Rhapsody sah zu, wie der Qualm mit knisternden Funken emporstieg, wie bei einer lirinschen Leichenverbrennung, hinauf in den dunklen Himmel, wo er zwischen den verstreuten Sternen dahinzog und sich schließlich auflöste. Endlich sagte Ashe: »Tut mir Leid.« Seine Stimme klang ungewöhnlich leise. »Ich wollte dich nicht beunruhigen.«
Rhapsody sah ihn direkt an. »Ich bin nicht beunruhigt«, meinte sie kühl. »Über dergleichen mache ich mir keine Sorgen.«
»Wirklich?«, entgegnete er belustigt. »Nicht mal ein klein wenig?«
»Nicht im Geringsten«, beharrte sie. »Ich bezweifle sogar, dass ich auch nur das Ende dessen erleben werde, was jetzt auf uns zukommt, ganz zu schweigen davon, dass ich ewig lebe.«
»Ach ja?« Ashes Stimme klang, als gäbe er sich Mühe, fest zu sprechen. »Wie kommst du darauf?«
»Nur so ein Gefühl«, erwiderte sie und griff nach ihrem Umhang. Sie schüttelte Schmutz und Blätter ab und wickelte sich ein.
»Verstehe. Du würdest lieber sterben, als dich damit abzufinden, dass du ewig leben könntest?«
Rhapsody lachte leise. »Du bist wirklich hartnäckig, Ashe, aber nicht sehr raffiniert. Hat deine Fragerei denn überhaupt einen anderen Sinn, als herauszufinden, ob ich das bin, was du vermutest?«
Ashe beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Ich erkläre dir nur, dass ich mich nie für eine Frau wie Jo interessieren könnte, weil sie eine vollkommen andere Lebenserwartung hat als ich. Und wenn du aus der Ersten Generation stammst, steht dir nur eine sehr geringe Anzahl von Partnern zur Auswahl, die genauso lange leben werden wie du und nicht schon tot sind, bevor du sie richtig kennen gelernt hast.«
Rhapsody lächelte und machte sich daran, den Schlamm von ihren Stiefeln zu bürsten. »Nun, danke für deine Fürsorge, aber du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Erstens habe ich sowieso nicht vor zu heiraten, sondern werde mich mit meinen Enkeln zufrieden geben sie sind meine Familie. Zweitens habe ich keine Angst vor Zeitunterschieden. Als ich noch ganz klein war, hat meine Mutter mir einmal gesagt, dass die Zeit, die man zusammen hat, den Verlust wert ist. Wenn man den Schmerz nicht akzeptiert, hat man auch nichts Wertvolles zu verlieren. Und da Achmed, wie du ja weißt, mein Zeitgenosse ist, wird er immer da sein. Grunthor kommt natürlich nicht in Frage.«
»Wofür wird Achmed immer da sein?«, fragte Ashe, und seine Stimme hatte einen eindeutig erschrockenen Unterton.
Rhapsody antwortete nicht, aber ihr Lächeln wurde breiter, während sie unermüdlich ihre Schuhe bürstete.
»Das muss ein Witz sein. Bitte sag mir, dass das ein Witz war das ist doch ekelhaft.«
»Warum?«
»Ich denke, das ist offensichtlich.« Obwohl sie ein ganzes Stück weit von ihm entfernt saß, konnte Rhapsody spüren, wie er schauderte.
»Nun, das soll nicht deine Sorge sein, du bist ja bereits vergeben. Übrigens«, fuhr sie ernster fort, »macht es ihr eigentlich etwas aus, dass du hier bist? Du weißt schon für so lange?«
»Wem soll das etwas ausmachen?«
»Deiner ... na ja, was immer sie für dich ist. Vermutlich nicht deine Frau, denn wie ich dich vorhin verstanden habe, bist du nicht verheiratet. Aber eigentlich hast du das gar nicht gesagt, oder?« Da sie keine Antwort erhielt, versuchte sie, den Gedanken zu Ende zu bringen. »Du weißt doch ... ich meine diese Frau, in die du verliebt bist. Ist es schwer für sie, dass du diese Reise machst?«
»Nein.«
Rhapsody stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Da bin ich aber froh. Ich bemühe mich wirklich, die Beziehungen anderer Leute nicht durcheinander zu bringen, vor allem nicht, wenn sie verheiratet sind. Ich habe großen Respekt vor der Ehe.«
»Warum willst du dann nicht heiraten?«
Rhapsody stand wieder auf und breitete ihre Bettrolle aus. »Nun, es ist nicht gerecht, jemanden zu heiraten, ohne ein Herz zu haben, das man mit ihm teilen kann, ein Herz, mit dem man ihn liebt. Aber das habe ich eben nicht, weißt du. Deshalb wäre es nicht richtig.«
»Das glaube ich nicht.«
»Wie du willst«, entgegnete Rhapsody und kroch unter die Decke. »Auf alle Fälle danke ich dir, dass du ehrlich warst, was meine Schwester angeht.«
»Nur aus Neugier warum nennst du sie eigentlich so? Ihr seid doch ganz offensichtlich nicht verwandt.«
Wieder seufzte Rhapsody. »Ich kann nicht glauben, dass du das nicht verstehst, Ashe. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, eine Familie zu bilden. Man kann hineingeboren werden oder man kann sie sich aussuchen. Die Bande zu einer Familie, die man sich ausgesucht hat, sind oftmals stärker als diejenigen zu einer, in die man hineingeboren wurde, denn man hat wirklich den Wunsch, zu ihr gehören, statt dazu gezwungen zu sein.«
Auf der anderen Seite des Feuers packte Ashe jetzt ebenfalls sein Bettzeug aus und setzte sich für seine Wache zurecht. »Ich weiß nicht recht, ob das stimmt.«
»Nun«, entgegnete Rhapsody und versuchte es sich gemütlich zu machen. »Ich denke, es kommt immer darauf an, wer du bist. Die beiden Arten von Liebe schließen sich nicht gegenseitig aus die Liebe zu beiden Arten von Familie kann gleich stark sein. Aber deshalb habe ich so viel Respekt vor der Ehe, weil Männer und Frauen einander auswählen, unter allen anderen Menschen der Welt. Deshalb finde ich, sie ist die tiefste Beziehung von allen.«
Von der anderen Seite des Feuers kam ein Geräusch, halb ein leises Lachen, halb ein Seufzen.
»Du hast wirklich ein behütetes Leben geführt, Rhapsody.«
Sie dachte kurz über eine Antwort nach, verwarf sie dann aber. »Gute Nacht, Ashe. Weck mich, wenn ich mit Wachen an der Reihe bin.«
»Hast du nie daran gedacht, es auf die normale Art zu tun?«
»Was?«
»Enkel zu bekommen.«
»Hmmm?« Sie war schon fast eingeschlafen.
»Weißt du, einen Ehemann zu finden, Kinder zu bekommen, sie deine Enkel in die Welt setzen zu lassen bist du mit diesen Vorgängen vertraut?«
Tief aus ihren Decken ertönte ein musikalisches Gähnen. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich nicht damit rechne, so lange zu leben.«
Als es Zeit für ihre Wache war, weckte er sie. Sie spürte, wie er sie sanft rüttelte.
»Rhapsody?«
»Hmmm? Ja?«
»Zeit für deine Wache. Möchtest du ein bisschen länger schlafen?«
»Nein«, antwortete sie und befreite sich aus ihren Decken. »Aber vielen Dank.«
»Du hast das, was du vorhin gesagt hast, nicht ernst gemeint, oder? Über Achmed.«
Sie schaute ihn benebelt an. »Was denn?«
»Du würdest dich doch niemals, nun, niemals mit Achmed vermählen, nicht wahr? Der Gedanke hat mir die letzten Stunden schwer im Magen gelegen.«
Jetzt war Rhapsody hellwach. »Weißt du, Ashe, mir gefällt deine Einstellung ganz und gar nicht. Und offen gestanden geht dich die Sache überhaupt nichts an. Jetzt leg dich schlafen.«
Sie machte Pfeil und Bogen fertig und stocherte in dem heruntergebrannten Feuer, das aufloderte, als hätte es aus unbekannter Quelle neuen Brennstoff erhalten. Einen Augenblick stand Ashe noch neben ihr, dann verschluckte ihn der Schatten auf der anderen Seite des Feuers. Hätte Rhapsody ihn nicht genau beobachtet, hätte sie nicht gewusst, wo er lag.