Stahl traf klirrend auf Stahl, während die beiden Liringlas-Frauen im Hof von Oelendras Garten ihre Kräfte maßen. Einen Schlag nach dem anderen vollführte Rhapsody, einen Schlag nach dem anderen parierte Oelendra. Hin und wieder holte die Lirin-Kriegerin mit der flachen Klinge aus und versetzte Rhapsody einen Hieb gegen die Wade oder auch einmal gegen die Flanke, aber die meisten Angriffe auf lebenswichtige Körperteile wurden von der Sängerin erfolgreich abgewehrt oder mit einem geschickten Ausweichmanöver pariert. In Gedanken konnte sie fast hören, wie Grunthor sie anbrüllte.
SCHLAG ENDLICH ZU! Gebrauch dein hübsches Köpfen. Pass auf, sonst reiß ich es dir noch ab und steck es auf meine Streitaxt!
Rhapsody umfasste das Heft der Tagessternfanfare mit beiden Händen und drängte nach vorn. Mit aller Kraft ließ sie ihr Schwert auf die Kriegerin niedersausen. Doch Oelendra parierte den Angriff mühelos mit der linken Hand. Dann stieß sie mit der rechten Faust zu und landete einen Treffer auf Rhapsodys Kinn. Die Welt verschwand für einen Augenblick in einem weißen Blitz.
Sie stolperte, taumelte drei Schritte zurück und stürzte. War sie von Grunthor schon einmal härter geschlagen worden? Mühsam blinzelte sie die Flecken weg, die vor ihren Augen tanzten, während sie flach am Boden lag, unsicher, wo und sogar wer sie war. Über ihr erschien ein von Sonne und Wind gegerbtes Gesicht.
»Du bist kein Bolg, Rhapsody«, sagte Oelendra, über ihre Schülerin gebeugt. »Wenn du versuchst, wie einer zu kämpfen, kann es dein Tod sein. Ich habe dir schon gesagt, dass deine Stärke nicht in deiner Körperkraft liegt; du solltest sie deshalb nicht auf diese Weise einsetzen. Wenn du Kraft brauchst, kannst du sie dir aus dem Schwert holen, aber auch darauf solltest du dich keinesfalls verlassen. Wenn du zulässt, dass das Schwert dich handhabt statt umgekehrt, wirst du als Iliachenva’ar nicht lange leben! Ist alles so weit in Ordnung mit dir?«
»Ja«, antwortete Rhapsody, deren blutige Lippe rasch anschwoll. »Mir ist nur ein wenig schwindlig.«
»Gut, dann machen wir eine kleine Pause, ehe wir es das nächste Mal versuchen.«
»Nein, das ist nicht nötig.« Vorsichtig berührte Rhapsody ihr ramponiertes Kinn, während sie sich aufrappelte. Sie ging in die Ausgangsposition, und der Zweikampf begann von neuem. Dieses Mal waren ihre Bewegungen überlegter, und am Ende der Runde nickte Oelendra anerkennend.
Endlich spürte Rhapsody den Rhythmus in ihrem Blut, und sie landete immer mehr Treffer, trieb ihre Lehrerin in die Enge und brachte sie gelegentlich sogar aus dem Gleichgewicht. Rhapsody atmete tief, konzentrierte sich auf die Musik in ihrem Körper und darauf, wie sie zu dem Dunst aus Schwingungen passte, der nichts anderes war als ihre Gegnerin und Freundin. Mit fast geschlossenen Augen wartete sie den Moment ab, in dem Oelendras Hand sich mit gezücktem Schwert erhob, schlug ihre Lehrerin in die Seite und ließ blitzschnell einen Hieb auf ihr Handgelenk niedersausen. Erschrocken riss sie die Augen auf, als sie Oelendras Schwert klirrend aufs Kopfsteinpflaster fallen hörte.
Doch Oelendra war unverletzt und lächelte breit; so erfreut hatte Rhapsody ihre Mentorin überhaupt noch nie gesehen. Die Kriegerin streckte die Hand aus und gratulierte ihrer Schülerin.
»Gute Arbeit. Jetzt ist Schluss mit der Spielerei, jetzt wird es ernst.«
Entsetzt starrte Rhapsody sie an. »Das war nur Spielerei?«
Das Lächeln erlosch auf Oelendras Gesicht. »Ja, ich fürchte schon, Liebes. Angesichts dessen, was dir bevorsteht, hält dich das, was du soeben vollbracht hast, vielleicht gerade lange genug am Leben, dass du mit ansehen kannst, wie dein Feind dich tötet.«
»Na wunderbar.«
»Nun, das ist doch ein Fortschritt. Bisher hättest du nicht einmal gewusst, wie dir geschieht.«
Rhapsody verzog das Gesicht. »Und das haltet Ihr tatsächlich für einen Fortschritt? Kein Wunder, dass man Euch für verrückt hält, Oelendra.«
Lachend legte die Kriegerin den Arm um sie, und zusammen gingen sie zurück ins Haus. Bald kehrte eine wohltuende Regelmäßigkeit in Rhapsodys Tagesablauf ein. Jeden Morgen nach den Gebeten meditierte sie, machte ihren Kopf frei von Gedanken und versuchte, den Rhythmus ihres Körpers und der Welt um sie herum zu spüren. War dies bewältigt, ließ Oelendra sie die Schwertübungen durchführen und die Bewegungen langsam und sorgfältig einüben, auf dass sie ihr zur zweiten Natur werden würden. Danach folgte ein gestellter Zweikampf, den Oelendra immer wieder unterbrach, um auf Fehler oder auch auf Fortschritte hinzuweisen.
Die Nachmittage verbrachten sie mit Wanderungen im Wald oder Spaziergängen durch die Stadt, unterhielten sich über die Geschichte der neuen Welt oder tauschten sich über persönliche Erlebnisse aus; so lernten sie sich immer besser kennen. Rhapsody spürte, dass sie in Oelendra eine verwandte Seele gefunden hatte, eine Frau, die noch besser als sie selbst verstand, woher sie stammte. Auch wenn sie einige Einzelheiten ihrer Unternehmungen und alles, was sie über Ashe wusste, für sich behielt, vertraute sie der Lirin-Kämpferin ihre Ängste und Träume an, was sie bisher bei niemandem getan hatte. Oelendra war eine wunderbare Zuhörerin; Fragen beantwortete sie ganz offen und steuerte auch immer wieder etwas aus ihrem eigenen Herzen und ihrer eigenen Vergangenheit mit bei. Für Rhapsodys seelische Entwicklung waren diese Stunden ebenso wichtig wie die körperlichen Übungen für ihre Fähigkeiten als Schwertträgerin. Die Abende waren mentalen Übungen vorbehalten, die Rhapsodys Verbindung mit dem Schwert und ihre natürlichen Talente festigen sollten.
»Als Sängerin weißt du ja bereits, dass die Welt aus Schwingungen besteht, Wellen von Farbe, Licht und Tönen«, erklärte Oelendra eines Abends nicht lange nach Rhapsodys Ankunft, als sie ins Haus traten. »Die Welt ist ständig voller Bewegung, was die meisten Leute gar nicht merken, aber durch diese Bewegung, durch diese Schwingungen, kannst du die Welt mit Hilfe von Musik beeinflussen. Dies trifft auch auf den Einsatz der Tagessternfanfare zu. Wenn du dich sammelst und dich auf die Muster konzentrierst, die du als Benennerin bereits siehst, dann kannst du Schwachstellen in der Rüstung deines Gegenübers ebenso erkennen wie Verletzungen oder Schwachpunkte. Sobald du im Kampf mehr Erfahrungen mit dieser Art Konzentration gewonnen hast, werde ich ein paar Lirin-Soldaten bitten, gegen dich anzutreten, vor allem solche, deren Technik noch nicht ganz ausgereift ist. So bekommst du Übung darin, im Kampf die Schwächen deines Gegners ausfindig zu machen.«
Rhapsody machte ein verblüfftes Gesicht. »Machen wir das nicht jetzt schon?«
Oelendra lächelte. »Kannst du es mit verbundenen Augen?«
»Oh.«
»Anfangs werde ich dafür sorgen, dass sie vorsichtig mit dir umgehen.«
»Das ist wirklich nicht nötig«, meinte Rhapsody mit einem Lächeln. »Meine Bolg-Freunde sind nie vorsichtig mit mir umgegangen, und ich neige zu der Auffassung, dass es auch meine Feinde nicht tun werden, deshalb könnt Ihr sie ruhig auf mich loslassen, ohne dass sie sich zurückhalten. Wenn ich überlebe, ist das umso besser für mich.«
Oelendra erwiderte das Lächeln. Rhapsodys bodenständige Natur und ihre schlichte Ehrlichkeit erinnerten die Kriegerin an sich selbst in jüngeren Jahren. Allerdings hatte die junge Sängerin eine andere Einstellung, als sie sie gehabt hatte. Da sie unter Menschen aufgewachsen war, ging ihr wahrscheinlich die gewöhnliche Reserviertheit der Lirin ab, und stattdessen stürzte sie sich mit einem Eifer ins Leben, der Oelendras Herz wegen seiner Unbesonnenheit zuweilen regelrecht rührte.
In Rhapsody lebte ein starker Wunsch, die Freude zu feiern, die sie überall um sich herum wahrnahm, ein beharrlicher Glaube an das Gute, selbst in Situationen, in denen Oelendra nichts davon entdecken konnte. Alter und Erfahrung hatten sie gelehrt, dass man mit einer solchen Weltanschauung verletzlich wurde, aber es inspirierte sie, Rhapsody zuzusehen, und es war aufregend dazuzugehören. Sie hoffte, dass Rhapsodys Bedürfnis, hell zu brennen, mehr ihrer Verbindung zu den Sternen und ihrem unermüdlichen, stetigen Licht entsprang und nicht so sehr der kurzlebigen Pracht des Feuers, mit dem sie ebenfalls verbunden war und das leidenschaftlich aufzulodern pflegte, aber dann, wenn sein Brennmaterial verbraucht war, schnell in sich zusammenfiel.
Der Mangel an Vorsicht, der in fast jeder von Rhapsodys Handlungen erkennbar war, bezog sich jedoch nicht auf ihre Herzensverpflichtung, denn diese bewahrte sie gewissenhaft und äußerst wachsam. Oelendra hatte bemerkt, dass sie die jungen Lirin-Männer zwar anlächelte, die ihr auf den Straßen Blumen schenkten oder kleine Geschenke auf Oelendras Schwelle hinterließen, aber nie auf ihre Einladungen einging, sich mit ihnen im Wald zu treffen oder im Mondlicht spazieren zu gehen.
Wenn ein Mann den Mut aufbrachte, Rhapsody direkt zu fragen, richtete sie es entweder so ein, dass er sich zum Essen zu beiden Frauen gesellte wohl wissend, wie einschüchternd es war, mit der berühmten Lirin-Kämpferin zu speisen, oder sie lehnte mit der Begründung ab, dass sie lernen müsse und deshalb keine Zeit habe. Oelendra respektierte ihre Privatsphäre, wunderte sich aber dennoch. Sie war klug genug zu wissen, dass sie Rhapsodys Körper, aber nicht ihren Geist schulen konnte. Ryle hira, dachte sie. Das Leben ist, was es ist, ein alter Lirin-Spruch. Sie konnte nur ihren Teil beisteuern und auf das Beste hoffen.
Eines Abends saßen sie vor einem munteren Feuer an Oelendras Kamin und tranken in Ruhe einen Becher dol mwl. Oelendra starrte in die Flammen, während ihre Gedanken auf alten Pfaden einherwanderten. Rhapsody schwebte näher in der Gegenwart, in der Welt, in der sie sich jetzt zurechtfinden musste. »Oelendra?« »Hmmm?«
»Wie können wir den F’dor finden? Wenn Ihr die ganze Zeit über erfolglos geblieben seid, bedeutet das womöglich, dass man ihn überhaupt nicht aufspüren kann? Dass wir warten müssen, bis er wieder zuschlägt, und darauf reagieren?«
Oelendra stellte ihren Becher weg und betrachtete die Sängerin nachdenklich. »Ich wollte, ich wüsste darauf eine Antwort«, sagte sie schließlich. »Jedenfalls wäre es ein großes Unglück, und der F’dor hätte alle Vorteile auf seiner Seite.
Ich habe jahrhundertelang über Methoden nachgedacht, wie man ihn finden könnte, und ich hatte gehofft, die Cymrer wären weit früher wieder vereint. Seit langer, langer Zeit arbeitet Llauron schon auf dieses Ziel hin. In diesem Volk ruht eine große Kraft, und all diejenigen, die sich noch an den serenischen Krieg erinnern, wären gewiss begierig, ihre Fähigkeiten auf die Zerstörung des F’dor zu konzentrieren, wenn man sie davon überzeugen könnte, dass er existiert. Dafür wären jedoch neue, klügere Anführer vonnöten, als wir sie in Anwyn und Gwylliam hatten.
Solange die Cymrer nicht wieder vereint sind, könnte die Krone der Lirin nützlich sein, um den Dämon zu finden wenn es nur einen Monarchen gäbe, der sie trüge. Leider ist die größte Macht des Reinheitsdiamanten die Fähigkeit, den Dämon aufzuspüren und in sich gefangen zu halten nun für immer vernichtet. Genau das war ja der Grund, warum der F’dor nach seiner Zerstörung trachtete.
Als ich im alten Land die Iliachenva’ar war, konnte ich durch die Flammen der Tagessternfanfare manchmal verborgene böse Dinge sehen. Deine Verbindung mit dem Feuer verleiht dir vielleicht eine ähnliche Fähigkeit, wie ich sie nun leider nicht mehr habe vor allem, weil der F’dor ebenfalls mit dem Feuer verbunden ist. Vielleicht erscheinen auch die Drei doch noch, wie es einst prophezeit wurde, obwohl ich die Hoffnung darauf fast aufgegeben habe. Ansonsten wäre die einzige Möglichkeit, die mir noch einfällt, diejenige, dass wir irgendwo auf der Welt einem Dhrakier begegnen; sie haben als einzige von Natur aus die Fähigkeit, den F’dor aufzuspüren.«
Rhapsody machte den Mund auf, um nach den Drei zu fragen, aber nach Oelendras letzter Bemerkung verbiss sie es sich lieber. Sie erinnerte sich, wann sie zum ersten Mal von den Dhrakiern gehört hatte, nämlich in der Finsternis der Wurzel, in jener Nacht, als ihr zum ersten Mal bewusst geworden war, dass Achmed etwas anderes sein könnte als nur ein Hindernis.
Du dachtest wohl, das einzige Halbblut auf der Welt zu sein.
Grunthor ist zur Hälfte Bengard.
Und du?
Ich bin ein halber Dhrakier. Wir sind also alle drei Mischlinge.
»Könnt Ihr mir etwas über die Dhrakier erzählen, Oelendra?«
Oelendra stand auf und warf noch ein Stück Holz aufs Feuer. »Die Dhrakier waren eine der älteren Rassen, älter als alle außer den Erstgeborenen, und sie waren die uralten Feinde der F’dor. Der Hass, den sie als Volk den Dämonengeistern entgegenbrachten, war immens tief, und sie begaben sich schon in uralten Zeiten auf einen Kreuzzug, um die Welt von ihnen zu befreien.
Die Dhrakier waren zwar in vielerlei Weise menschlich, aber in mancher Hinsicht ähnelten sie den Insekten; sie lebten in tiefen Höhlen in der Erde vielleicht tun das manche noch immer. Angeblich waren sie sehr flink, sehr behände, und konnten die Welt in den Schattierungen ihrer Schwingungen sehen, wie auch du es gelernt hast. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, auf diese Weise konnten sie auch die F’dor wahrnehmen. Sie hatten eine natürliche Gabe, sie zu überlisten, sie auf eine gewisse Art zu binden.
Durch die seltsamen Muster seines eigenen natürlichen Rhythmus kann ein Dhrakier einen F’dor in Bann schlagen und ihn, während das Ritual in Kraft ist, daran hindern, aus seinem Wirt zu entfliehen. Theoretisch könnte ein Dhrakier uns helfen, den Dämon aufzuspüren und ihn in seinem Wirtskörper festzuhalten, während ein anderer diesen töten würde. Ich habe lange Zeit gehofft, einem Dhrakier zu begegnen, aber natürlich war es mir nie vergönnt.«
Rhapsody dachte daran zurück, wie sie Achmed unabsichtlich in den Straßen von Ostend neu benannt hatte. »Kanntet Ihr den Bruder?«
»Den Bruder?« Oelendra warf ihr einen merkwürdigen Blick zu. »Nun, diesen Namen habe ich sehr lange nicht mehr gehört. Nein, ich habe den Bruder nicht gekannt. Wieso fragst du nach ihm?«
Rhapsody zögerte einen Moment. »Jemand hat den Namen einmal erwähnt, und ich habe überlegt, was er wohl bedeutet.«
»Der Bruder war der größte Mörder, den die Welt jemals gekannt hat, wenn die Geschichten wahr sind. Er ist Halb-Dhrakier, und man sagt, er wurde als Erster seiner Rasse auf Serendair geboren und ging dadurch eine Verbindung zu diesem Land ein, die seine naturgegebene Empfindlichkeit für Schwingungen verstärkte. Die Dhrakier sind allesamt sehr empfindsam für Schwingungen, aber teilweise auf Grund seines Körpers und teilweise wegen seines Status als Ältestem war seine Begabung größer als die aller anderen. Noch mehr: Er besaß eine Verbindung zum Blut, wie du eine zum Feuer hast. Zusammen genommen machten diese Fähigkeiten ihn zu einem tödlichen Feind.
Es hieß, er könne den Herzschlag eines von ihm ausersehenen Opfers überall im Land hören und seinen eigenen daran heften; ich denke, das war einer der Gründe für seinen Namen. War das erst geschehen, gab es auf der ganzen Insel kein Versteck mehr, in dem sein Opfer sich vor ihm verbergen konnte. Und seine Fähigkeit beschränkte sich nicht nur auf Suchen und Finden, sondern erstreckte sich vor allem auch aufs Töten. Er kannte mehr Methoden, jemanden umzubringen, als jeder andere, aber am gefährlichsten waren seine Schnelligkeit und seine Genauigkeit. Die meisten Gegner erschlug er, ehe sie Zeit fanden, das Schwert gegen ihn blank zu ziehen, und das auch nur, falls sie das Glück hatten, ihn herannahen zu sehen. Denn der Bruder brauchte sein Opfer nicht zu sehen; mit seiner Schwingungswahrnehmung musste er es nur in den Einflussbereich seiner Waffe bringen und diese abfeuern und die Cwellan, die Waffe seiner Wahl, hatte eine erstaunliche Reichweite.«
»Ungefähr eine Viertelmeile«, meinte Rhapsody gedankenverloren.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Oelendra, und Rhapsody blickte ihr ins Gesicht, denn sie merkte plötzlich, dass die Lirin-Frau sie unverwandt anstarrte.
»Entschuldigung; bitte erzählt weiter.«
Oelendra warf ihr noch einen langen, nachdenklichen Blick zu, dann fuhr sie fort. »Er handelte stets unabhängig, neutral gegenüber allen Angelegenheiten, niemals als Diener eines einzelnen Herrn. Und er übernahm nur die Aufträge, die ihn interessierten und für die er gut bezahlt wurde.
Doch irgendwann veränderte sich all das. Wir vermochten es nie genau zu sagen, aber in den Anfangstagen des serenischen Krieges schien es, als diente er den Feinden des Königs. Nun erfüllte er Aufträge, die nicht nur als gewöhnliche Meuchelmorde anzusehen waren; einige unserer Führer und Verbündeten kamen durch die tödlichen Scheiben seiner Cwellan ums Leben.
Das kam uns sonderbar vor, denn wie ich dir erzählt habe, sind die Dhrakier seit jeher Feinde der F’dor. Es war erstaunlich genug, dass der Bruder in einem politischen Streit Stellung bezogen hatte, aber dass er den F’dor oder auch nur ihren Verbündeten diente, schien vollkommen gegen die natürliche Ordnung der Dinge zu laufen. Dann verschwand er eines Tages und ward nie mehr gesehen. Das Rätsel blieb ungelöst.«
Rhapsody nickte, schwieg jedoch, drehte sich ein Stück vom Feuer weg und hoffte, dass Oelendra sie nicht mit Fragen bedrängen würde. Was die Lirin-Frau auch nicht tat. Eine Weile betrachtete sie Rhapsody aufmerksam, aber schließlich wandte sie ihren Blick wieder zum Feuer und starrte stumm in die Flammen.
In dieser Nacht wurde sie wie schon seit Wochen im Traum von Ashes Gesicht heimgesucht. Als sie in der ersten Nacht in ihrem Albtraum laut aufgeschrien hatte, war Oelendra zu ihr geeilt und hatte sie aufrecht im Bett sitzend vorgefunden, fröstelnd unter all den schweren Felldecken, mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen. »Ist alles in Ordnung, Liebes?«
Nach kurzem Nachdenken hatte Rhapsody genickt. »Es tut mir sehr Leid, Oelendra, aber ich fürchte, so etwas passiert mir häufig. Vielleicht sollte ich lieber im Garten schlafen.« Damit wollte sie auch schon aufstehen.
»Sei nicht albern«, hatte sie die ältere Frau beruhigt und sich auf der Bettkante niedergelassen. Sanft hatte sie der Sängerin übers Haar gestrichen. »Du kannst nichts dafür, dass du hellseherisch veranlagt bist. Das ist eigentlich ein nützliches Talent, jedenfalls wenn du dir deswegen nicht aus Schlafmangel die Gesundheit ruinierst.«
»Oder die meiner Freunde«, hatte Rhapsody entgegnet. »Kennt Ihr noch andere Leute, denen es ebenso ergeht?«
»Viele aus der Ersten Generation hatten eine hellseherische Gabe. Ich denke, das trug dazu bei, dass sie irgendwann wahnsinnig wurden.«
Rhapsody hatte geseufzt. »Ja, das kann ich mir gut vorstellen.«
»Lass dich nicht davon entmutigen, Rhapsody, und unterschätze nicht die Bedeutung dieser Gabe. Ein Traum kann unter Umständen eine Warnung oder ein Hinweis sein. Was ist schon ein bisschen weniger Schlaf, wenn es dein Leben rettet oder einen drohenden Krieg abwendet?«
Als Rhapsody jetzt nass und kalt vom Angstschweiß aufwachte, musste sie erneut an diese Worte denken. In ihrem Traum suchte Ashe sie unablässig, jagte ihr nach, wo auch immer sie hinging. Jedes Mal, wenn sie sich in Sicherheit glaubte, fand er sie doch wieder und folgte ihr von neuem. Schließlich fing er sie, und sie konnte sich nicht losreißen, während er sie heftig herumdrehte, ihren Kopf mit den Händen packte und drehte, sodass sie zum Himmel hinauf blickte. Dann nahm er ihre Schwerthand in seine, hob die Tagessternfanfare und zielte damit auf einen fernen Stern.
»Hiven vet.« Sag es. »Ewin vet.« Nenne seinen Namen.
Im Traum flüsterte sie den Namen des Sterns, doch beim Aufwachen hatte sie ihn vergessen. Mit einem lauten Dröhnen fuhr Sternenfeuer aus dem Himmel herab und traf eine Gestalt, die ein Stück entfernt stand, deren Körper sich in Qualen aufbäumte und in Flammen aufging. Vor Rhapsodys Augen wandte sich die brennende Gestalt langsam zu ihr um. Es war Llauron.
Wieder war sie erwacht, allein im Dunkeln, zitternd.
»Rhapsody, du konzentrierst dich nicht richtig.« Oelendras Stimme klang geduldig, hatte aber einen tadelnden Unterton. »Schön, dass es dir so leicht fällt, dir die vier Aspekte des Schwerts zunutze zu machen. Du hast eine natürliche Begabung dafür, die ich selbst nie gehabt habe. Dadurch kannst du leichter mit dem Schwert Verbindung aufnehmen; aber wenn du mit dem Feind kämpfen willst, der auf dich wartet, musst du in der Lage sein, dir all seine Möglichkeiten zunutze zu machen. Feuer reicht nicht aus, um den F’dor zu besiegen das ist sein eigenes Element. Du musst die Verbindung zu den ätherischen Eigenschaften der Tagessternfanfare herstellen. Du musst nach den Sternen greifen. Wenn du den Seren nicht kennst, dann wirst du sterben, wenn du dem F’dor gegenübertrittst. Jetzt versuche es noch einmal, und konzentrier dich dieses Mal.«
»Ich weiß, es tut mir Leid.« Rhapsody bemühte sich, ihre Gedanken zu klären und sich auf die Atmung zu besinnen. Sie hielt das Schwert vor sich, schloss die Augen und holte in Gedanken weit aus. Kurz darauf sah sie die Welt wie ein Gitter, Linien, die grob die Silhouette von Bäumen und Felsen bildeten. Oelendra erschien als eine funkelnde menschliche Gestalt. Sie summte ihre Namensnote, ela, und das Schwert schien seine Schwingung der Melodie anzupassen.
Sofort wurde alles klarer, und obwohl die Sonne hell strahlte, sah es aus, als funkelten die Sterne. Der Garten erschien auf dem imaginären Raster, alles in der richtigen Proportion und am richtigen Platz, bis auf den Bach, der durch die Wiese floss. Ihr fiel auf, dass sie nicht durch ihn hindurchsehen konnte. Er verursachte eine Störung, und sie überlegte, ob sie Ashe wohl auch auf diese Weise wahrnehmen würde. Doch diese Idee durchbrach ihre Konzentration, und ihre innere Sicht der Welt löste sich auf. Rhapsody seufzte tief auf und senkte das Schwert.
»Entschuldigt. Meine Gedanken schweifen ständig ab.« Oelendra setze sich auf eine Gartenbank und deutete neben sich. »Möchtest du mir davon erzählen?«
Einen Augenblick blieb Rhapsody still stehen, dann kam sie herüber und setzte sich neben Oelendra. »Wie kann man sicher wissen, ob man jemandem trauen darf oder nicht?«
»Gar nicht«, antwortete Oelendra. »Man muss die anderen als Individuen sehen, darauf hören, was sie zu sagen haben, und es mit dem vergleichen, was man selbst weiß. Im Zweifelsfall muss man sich zu jemandes Gunsten entscheiden, aber ein Stückchen Vertrauen in Reserve behalten, bis sich der Betreffende auf die eine oder andere Art beweist. Du bist mit außerordentlicher Weisheit gesegnet, Rhapsody. Schau in sein oder ihr Herz hinein und sieh, was du dort vorfindest.«
»Was, wenn man keine Zeit hat zu warten, bis sich jemand beweist? Was, wenn man nichts über die Person weiß? Was, wenn man nicht in ihr Herz schauen kann? Was, wenn man ihr Gesicht nicht sehen kann?«
Oelendra seufzte, und ihre Augen verschleierten sich, weil sie sich an etwas erinnerte. »Das ist eine sehr schwierige Situation, Rhapsody. Eigentlich habe ich so etwas nur ein einziges Mal erlebt. Ganz zu Anfang meiner Zeit als Iliachenva’ar begegnete ich einem Mann, der bereit zu sein schien, mir zu helfen, aber es waren sehr unruhige Zeiten, und ich war eine gejagte Frau. Er kam aus dem Nichts und bot mir seine Unterstützung an. Ich wusste nicht, ob ich ihm vertrauen konnte. F’dor sind Meister der Täuschung; in jenen Tagen gab es noch mehr von ihnen, und meine Feinde hatten zahllose Diener. So befand ich mich in einem großen Dilemma; wenn ich die falsche Entscheidung traf, bedeutete das, dass ich getötet werden und die Tagessternfanfare unseren Feinden in die Hände fallen würde. Einen solchen Schlag hätten meine Verbündeten womöglich nicht überlebt. Doch schließlich musste ich auf mein Herz vertrauen. Das ist alles, was uns am Ende wirklich bleibt.«
Rhapsody blickte sie niedergeschlagen an. »Das ist keine gute Nachricht. Mein Herz hat sich nicht als zuverlässig erwiesen.«
Doch Oelendra lächelte. »Wir alle machen Fehler. Ich denke, du solltest deinem Herzen vielleicht noch eine Gelegenheit geben. Ich kenne dich gut genug, um darauf zu vertrauen, dass du urteilen kannst.«
»Ihr solltet Euer Leben nicht auf irgendetwas setzen, was ich entscheide.«
»In gewisser Hinsicht habe ich das bereits getan«, entgegnete Oelendra und berührte das Gesicht der jungen Sängerin. »Und ich bin zuversichtlich, dass ich gewinnen werde.«
Rhapsody lächelte und schlug die Augen nieder. »Was ist am Ende mit diesem Mann geschehen?« »Ich habe ihn geheiratet«, antwortete Oelendra mit einem breiten Grinsen. »Sein Name war Pendaris, und in der kurzen Zeit, die wir gemeinsam verbrachten, liebten wir uns für ein ganzes Leben.«
»Was ist passiert?«, fragte Rhapsody.
»Er ist im serenischen Krieg gefallen; er erlebte den Exodus der Cymrer nicht mehr mit«, antwortete Oelendra. Ihr Lächeln wurde wehmütig. »Nicht lange nachdem wir geheiratet hatten, wurden wir von den F’dor und ihren Knechten gefangen genommen. Sie haben ihn zu Tode gefoltert.«
Behutsam berührte Rhapsody ihre Hand. »Das tut mir Leid, Oelendra.«
»Es war ein schrecklicher Krieg, Rhapsody, und du solltest dankbar sein, dass du ihn nicht miterleben musstest. Aber letztendlich konnten Pendaris und ich wenigstens eine Zeit lang miteinander verbringen, und das haben wir getan. Hätte ich ihm nicht vertraut, wäre ich wahrscheinlich nicht daran gestorben, aber ich hätte die glücklichsten Momente meines Lebens nie erlebt. Das ist etwas, was man immer bedenken sollte, wenn man vor einer Entscheidung steht den Preis dessen, was hätte sein können.«
Dorndreher hatte sich ein wenig verspätet, und das beunruhigte ihn. Er hasste es sowieso, nicht rechtzeitig zu einer Verabredung zu kommen, und er wusste, dass sein Herr es ganz und gar nicht schätzte, wenn er warten musste. Da Dorndreher ihn ziemlich gut kannte, fühlte er sich jetzt ausgesprochen unbehaglich.
Als er in Sichtweite des Treffpunkts kam, erkannte er denn auch sogleich, dass er erwartet wurde. Mitten auf der Straße stand das Ross seines Herrn, ein wunderschönes Tier, und darauf saß der Reiter, der Dorndreher grimmig entgegenblickte. Der Tag hatte mit einem Gewitter begonnen, das ihn bis auf die Haut durchnässt hatte. Nun schien alles noch schlimmer zu werden.
»Wo, zum Donner, bist du gewesen? Es ist schon fast dunkel.«
»Tut mir sehr Leid, Herr«, erwiderte Dorndreher heiter, in dem Versuch, den Ärger seines Meisters zu vertreiben. »Ich wollte ganz sichergehen, dass mir niemand gefolgt ist.«
»Nun, wie war dein Besuch?« Der schöne Hengst tänzelte unruhig auf dem Weg.
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Dorndreher rutschte nervös im Sattel hin und her. »Es war, wie Ihr es vermutet hattet. Der Firbolg-Kriegsherr ist der Gleiche, den Ihr letztes Jahr gesehen habt, und sein Bolg-General war ebenfalls da. Das blonde Mädchen, das Ihr erwähntet, hat meiner Meinung nach den Beschreibungen aber nicht ganz entsprochen.«
»Wie meinst du das?«
Dorndreher sah beklommen drein. Im Allgemeinen hatte er keine Angst vor dem Zorn seines Herrn, und für gewöhnlich verlief die Unterhaltung zwischen ihnen recht locker. Heute jedoch machte ihn die geplante Übernahme von Canrif gereizter als sonst. Seine azurblauen Augen funkelten wild, seine Stimme klang harsch. Den Grund dafür glaubte Dorndreher erraten zu können.
»Nun, dieses Mädchen war noch keine zwanzig. Ein unscheinbares Gesicht, blasse Haut. Insgesamt nicht sehr bemerkenswert. Angesichts Eurer Erfahrung und Eurer Vorlieben würde ich vermuten, dass Ihr sie nicht sonderlich attraktiv finden würdet. Sie war gewiss keine eindrucksvolle Person.«
»Dann muss es noch eine andere geben«, sagte sein Meister und zog die Zügel an. »Bei der Frau, die ich gesehen habe, könnte man all diese Eigenschaften unmöglich übersehen.« Die in seinen schwarzen Kettenpanzer eingearbeiteten Silberringe blitzten auf.
»Ja, dann muss es wohl noch eine andere geben«, stimmte Dorndreher ihm zu.
»Und was ist mit Canrif?«
»Es ist noch erstaunlich gut erhalten, allerdings nicht restauriert, was natürlich kein Wunder ist. Bemerkenswert ist, dass die Bolg Gegenstände von bester Qualität herstellen und es sogar geschafft haben, aus den alten Reben einen Wein zu keltern.«
Sein Meister nickte. »Und ihre Streitkräfte?« »Fundiert und gut ausgebildet. Dafür ist sicher der Bolg-Kommandant verantwortlich. Er hat nicht viel gesagt, aber sein Markenzeichen wird klar an der Reaktion der verschiedenen Bolg-Wachen.«
»Haben sie die Schatzkammern gefunden? Die Bibliothek?«
»Zweifellos, ja.«
Anborn machte ein wütendes Gesicht. »Verdammt. Nun gut, Dorndreher, lass uns gehen. Nicht weit von hier gibt es eine Taverne mit anständigem Essen und vernünftigen Weibern. Wir müssen Pläne schmieden.« Dorndreher nickte, gab seinem Pferd die Sporen und versuchte, Anborn einzuholen, der die Straße entlanggaloppierte, in die nahende Dunkelheit hinein.