Der Morgen graute früh. Lange vor dem Wachwechsel oder auch nur den regelmäßigen Wachgängen hatte sich Rhapsody mit ihren Bolg-Partnern auf der Heide getroffen, Proviant für einen Monat eingepackt und Reisekleidung im Verein mit einer grimmigen Miene angelegt.
Der würzige Duft des Herbsts lag in der Luft und verlangte nach einem kurzen Augenblick der Aufmerksamkeit. Während die Männer noch die Ausrüstung überprüften, schloss Rhapsody die Augen und dachte daran, wann sie zum letzten Mal den Duft verbrannter Blätter im kühler werdenden Wind gerochen hatte.
Seit langer Zeit dachte sie wieder zurück an die Insel, doch ihre Erinnerungen waren nicht so schmerzlich wie die Gegenwart. Die Erntezeit war immer sehr aufregend gewesen, voller Hoffnung und Gefahr, viel berauschender und romantischer als der Sommer eine Zeit, in der kleine Dinge von größter Bedeutung zu sein schienen und einem alles sehr nahe ging. Was immer deine Hoffnungen sein mögen, verwirkliche sie jetzt, schien die Erde zu sagen, während sie ihre prächtigen Trauerkleider anlegte. Die Zeit wird knapp. Der Winter kommt.
»Fertig, Schätzchen?« Grunthors dröhnende Stimme durchbrach die Stille und Rhapsodys Grübelei.
Sie blickte über die Felder, die in der grauen Morgendämmerung langsam heller wurden. In der Nacht hatte es Frost gegeben, und der Boden glitzerte im Licht der Tagessternfanfare. Sie steckte das Schwert in die Scheide und berührte ihre Rüstung aus Drachenschuppen.
»Ja«, antwortete sie. »Gehen wir.«
Gerade kletterte die Sonne über die höchste Bergspitze, als die drei den Gipfel erreichten. Sie hatten die Zahnfelsen schweigend und ohne große Anstrengung überwunden, und ihre Schatten verschmolzen mit denen der Berge, lang und zahnförmig, im zunehmenden Licht des unter ihnen liegenden Tales.
Von hoch oben sah die große Schlucht aus wie ein dünnes gewundenes Band zu Füßen des Gebirgsmassivs. Achmed stand zwischen den dahineilenden Wolken und ließ den Blick über die Bergkette schweifen, starrte, ohne auf den heulenden Wind zu achten, über die Steppe und zu den dahinter liegenden Feldern von Bethe Corbair. Langsam drehte er sich im Kreis, die Welt zu seinen Füßen, und suchte mit den Augen den Horizont ab. Dann ließ er sich auf der höchsten Stelle nieder und klärte seine Gedanken.
Rhapsody hielt sich an ihre Anweisung, zu schweigen und sich auch ansonsten so still wie möglich zu verhalten. Neben Grunthor war sie die Einzige, die jemals zuschauen durfte, wie Achmed eine Spur aufnahm, und sie wusste, dass dies ein ungeheurer Vertrauensbeweis war. Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie er die Augen schloss, leicht den Mund öffnete und die dünne Luft und die Feuchtigkeit der Wolken einatmete. In der einen Hand hielt er das mit dem Blut des Rakshas verkrustete Hemd. Die andere Hand streckte er mit der Handfläche nach oben aus, als wollte er die Windrichtung testen.
Achmeds Atem wurde immer ruhiger und tiefer. Als er den richtigen Rhythmus gefunden hatte, wandte er die ganze Aufmerksamkeit seinem Herzen zu. Er konzentrierte sich auf den Herzschlag, den Druck, der auf Gefäße und Venen ausgeübt wurde, und verlangsamte den Puls so, dass er ihn gerade noch am Leben erhielt. Dann jagte er sämtliche verirrten Gedanken aus seinem Kopf, bis nichts mehr blieb außer der Farbe Rot. Alles andere verblasste, nur noch die Vision von Blut stand vor seinem inneren Auge.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der ihm der Klang und das Gefühl von Millionen schlagender Herzen fast das Gehör geraubt hätte. Jetzt aber existierten auf der ganzen Welt nur noch ein paar tausend Herzen, die er hören konnte. Die von Rhapsody und Grunthor erkannte er sofort, aber die anderen waren weit weg und flackerten an den fernen Grenzen seiner Blutsinne. Doch dann hörte er es. In mittlerer Entfernung, nicht sehr weit weg, konnte er das Herz des Rakshas schlagen hören, konnte das Pulsieren des Bluts in den Fingerspitzen seiner hoch gehaltenen Hand fühlen. Dämonenblut, vermischt mit dem Blut eines Tieres. Das Blut auf dem Hemd, das Blut in diesen Venen es stimmte überein. Vollkommen still stand er da. Er lockerte den Puls seines eigenen Herzens und verlieh ihm den Rhythmus der Dämonenkreatur. Als wollte man ein Schwungrad in der Bewegung einfangen, so konnte auch er zunächst nur einen Schlag von fünfen synchronisieren, dann jeden zweiten, bis schließlich alle Schläge im Gleichklang waren. Ihre Herzen rasteten ein, und Achmed lächelte.
Langsam öffnete er die Augen.
Geduldig hatte Rhapsody ihm zugesehen, denn sie wusste, dass es Stunden oder Tage dauern konnte, ehe er den richtigen Puls gefunden hatte, wenn es ihm denn überhaupt gelang. So war sie überrascht, als Grunthor plötzlich seine Streitaxt packte und auf die Füße sprang. Sie hatte keine Veränderung in Achmed wahrgenommen, aber der Bolg-Riese anscheinend schon. So hatte sie gerade noch Zeit, sich aufzurappeln, da war Achmed auch schon auf und davon. Er rannte den Berghang hinunter wie ein Jagdhund, der eine frische Fährte aufgenommen hat. Um seine Kameraden nicht zu verlieren, blieb er im Licht und kreuzte den Weg des Windes, statt sich instinktiv zu tarnen. Er folgte seinem Herzschlag, der ihn unbeirrbar zum Rakshas führen würde. Grunthor hatte ihn bereits ein oder zweimal auf einer solchen Jagd begleitet, und daher fiel es Achmed etwas leichter, jemanden anzuführen, ohne dabei die Spur zu verlieren. Inzwischen konnte er recht gut mit anderen zusammenarbeiten und brauchte nicht mehr ausschließlich allein zu jagen.
Rhapsody und Grunthor setzten sich in Trab. Erstaunt stellte Rhapsody fest, wie schnell Achmed war, vor allem, weil er nicht rannte. Er eilte den holprigen Weg hinunter zum steilsten Abschnitt der Felswand und kroch an ihr hinunter wie eine Spinne. Als seine Gefährten den Abhang erreichten, drosselte er sein Tempo ein wenig, dass sie ihm folgen konnten, ohne abzustürzen, aber als er schließlich auf der Heide ankam, gab es für ihn kein Halten mehr, und er spurtete weiter, schnell wie der Wind.
Am Fuß der benachbarten Bergkette wartete Jo. Obgleich sich die anderen so große Mühe gegeben hatten, ihren Aufbruch vor ihr geheim zu halten, war sie mitten in der Nacht aufgewacht und ihnen leise gefolgt. Allerdings war sie nicht auf den Gipfel geklettert, denn dort hätte man sie bestimmt entdeckt, und irgendwann mussten ihre drei Freunde ja sowieso wieder herunterkommen. Sie hatte die Bergkette an einer anderen Stelle überquert und dann die drei beobachtet, wie sie den Gipfel bestiegen hatten, winzige schwarze Gestalten, verloren im gleißenden Sonnenlicht.
Was haben sie nur vor?, fragte sie sich. Und was mache ich hier? Sie schien nicht mehr selbst bestimmen zu können, was sie tat, sondern wurde beherrscht von einem sonderbaren, Zielgerichteten Gefühl, das ihr den Magen verkrampfte und sie schwindeln machte, sodass sie sich bewegte wie in einem Traum. Es erinnerte sie an die Zeit, als Cutter, einer ihrer Beschützer auf der Straße, ihr die schlechten Fliegenpilze aufgeschwatzt hatte. Er hatte ihr schöne Visionen und ein herrliches Farberlebnis versprochen, aber stattdessen war sie in eine albtraumartige Trance und Paranoia verfallen und stundenlang nicht wieder herausgekommen. Doch das jetzt war weit schlimmer. Die Wirkung der Pilze hatte irgendwann nachgelassen, ihr jetziger Zustand aber wollte nicht aufhören, und sie hatte Angst, dass es immer so bleiben würde.
Seltsame Gedanken plagten sie, wenn sie wach war, Gedanken an Mord und Gewalt, die sie zugleich quälten und gefangen nahmen. Vor ein paar Tagen hatte sie eine Prügelei zwischen zwei Bolg-Kinder n verfolgt und war vom Anblick des Bluts regelrecht fasziniert gewesen. Als einer der Streithähne vor Schmerzen aufgeschrien und sein Arm plötzlich in einem äußerst ungesunden Winkel vom Körper abgestanden hatte, war sie keineswegs entsetzt gewesen wie damals, als Vling abgestürzt war, sondern geradezu erregt. Was ist nur los mit mir?, überlegte sie, aber wieder spürte sie das Ziehen im Bauch, und auf einmal verschwand die Frage aus ihren Gedanken. Als die drei vom Berg herabstiegen und die Steppe überquerten, folgte sie ihnen, ohne ein zweites Mal nachzudenken. Wie eine Schlafwandlerin.
Eine Woche lang waren die drei dem Rakshas nun schon auf den Fersen. Nachts schliefen sie ohne Feuer, tagsüber rannten sie die meiste Zeit und hielten nur an, wenn die Fährte eine Zeit lang verharrte oder sie verschnaufen mussten. Erbarmungslos verfolgten sie ihre Beute, über das Vorgebirge der Zahnfelsen, über die Grassteppen und die weite Ebene von Bethe Corbair hinweg bis auf die Kreidehügel des orlandischen Plateaus, als Achmed abrupt stehen blieb. Einen Augenblick reckte er die Hand in den Wind, dann ballte er sie langsam zur Faust. Er nickte den beiden anderen kurz zu, dann verschwand er auf der Hochebene gleich hinter dem Hügelkamm. Grunthor und Rhapsody folgten ihm, krochen über den Boden, bis sie ihn schließlich fanden. Er lag am Rand eines flachen Tales und deutete stumm hinunter, obwohl das nicht nötig gewesen wäre. Der Anblick, der sich ihnen bot, war eindeutig: Dort stand eine Gruppe von neun Männern, drei zu Pferd, und nahm von einem ebenfalls berittenen, grau gekleideten Mann mit kupferroten Haaren Befehle entgegen.
Rhapsodys Herz setzte einen Schlag aus, als sie ihn sah; auf diese Entfernung hätte man den Mann ohne weiteres für Ashe halten können. Zwar hatte sein Haar nicht denselben metallenen Glanz, aber ansonsten konnte sie keinen Unterschied erkennen. Er winkte seinen Männern, woraufhin diese rasch in westlicher Richtung davonritten, und wandte sich selbst in langsamem Trott nach Nordosten. Achmed lächelte, während Grunthor auf dem Bauch davonkroch und verschwand. Jetzt könnte ich ihn mit einem glatten Cwellan-Schuss erledigen, dachte er. Nun ja. Er wandte sich an Rhapsody, die sein Lächeln erwiderte. Gleich würde Grunthor mit den Pferden der anderen Männer zurückkehren, und sobald die Tiere festgebunden und versteckt wären, würden sie weiterziehen.
Noch ein paar Stunden folgten sie dem Rakshas. Hinter ihm erklommen seine Verfolger einen kleinen Hügel und gelangten dann auf ein großes Weizenfeld, das bereits abgeerntet war; nur wenige Ähren standen noch, wie erstarrte Erinnerungen an den Frost der vorangegangenen Nacht. Als der Rakshas an einen Bach in einem kleinen Tal gelangte, tippte Grunthor Achmed auf die Schulter und nickte. Achmed hob die Hand und ballte sie wieder zur Faust. Sofort nahmen Grunthor und Rhapsody ihre Plätze ein. Achmed wartete, bis sie richtig standen, und verschwand dann im Hochgras.
Langsam ritt der Rakshas über das Feld. Seine Augen waren auf den Horizont gerichtet, seine Gedanken wandelten auf den ihm so vertrauten Pfaden von Folter und Tod. Bald würde sich die Abenddämmerung herabsenken. Dann würde er sein Pferd schlachten und sein Blut in sich aufsaugen, um sich, erstarkt wie eine Feuerflamme in der Nacht, dem Berg zu nähern. Wie bei Leuten, die vor dem Erwachen sehr intensiv träumen, so erfand der begrenzte Verstand des Rakshas immer neue Todesarten für den Bolg-König. Er hatte einen Soldaten der Bolg-Truppen gefangen und amüsiert den Schauergeschichten des Mannes über das Auge, die Klaue, die Ferse und den Bauch des Berges gelauscht. Dummkopf, hatte der Rakshas gedacht, als er die Kehle des Bolg durchschnitten und sich herabgebeugt hatte, um das aus den Adern spritzende Blut zu trinken. Ich bin das Auge, das Ohr und die Hand dessen, der schon Berge dem Erdboden gleichgemacht hat.
Die Sonne stand hoch am Himmel, und er konzentrierte sich auf die Schritte seines Pferdes, falls es auf einer gefrorenen Pfütze ausrutschte. Daher war er ein wenig überrascht, als das Tier plötzlich unter ihm zusammenbrach.
Mit der Behändigkeit des Wolfs in seinem Blut sprang er aus dem Sattel, um nicht unter seinem Reittier begraben zu werden, rollte sich ab und kam blitzschnell auf die Füße, das Schwert in der Hand. Sein Pferd war mit einem einzigen Schuss getötet worden. Suchend blickte er um sich, wo der Schuss hergekommen war, aber stattdessen entdeckte er einen Riesen mit einer gigantischen Streitaxt, die sich mit tödlicher Schnelligkeit auf ihn herabsenkte. Das Adrenalin schoss durch seine künstlichen Adern, als er Grunthor nach der Beschreibung des Mädchens erkannte und begriff, dass er seinen Feinden in die Falle gegangen war. Er hob die Hand in Richtung des Riesen und ließ eine schwarze Feuerwand aufsteigen. Doch die Flammen verschwanden sofort wieder, gegen seinen Willen zum Erlöschen gebracht. Der Schock war so groß, dass er sich umwandte und floh.
»Hallo, Schatz. Es ist lange her, ich habe dich vermisst.«
Rhapsody stand nicht weiter als fünf Fuß von ihm entfernt, die brennende Klinge der Tagessternfanfare in der Hand. Der Rakshas hob den Arm, um den Todesstoß zu parieren, den sie davon war er überzeugt auf sein Herz richten würde. Daher war er nicht im Geringsten darauf vorbereitet, als sie ihm stattdessen einen Schlag gegen die Knie verpasste. Hinter sich hörte er Grunthors schwere Schritte und versuchte, zur Seite auszuweichen, aber seine Flucht wurde durch einen weiteren Schlag mit der Feuersternwaffe vereitelt.
»Wohin willst du denn? Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht an mir vorbeikommst.«
Sie verstellte ihm den Weg; wenn er sich auf einen Zweikampf mit ihr einließe, würde er eine leichte Beute für den Riesen werden. Verzweifelt suchte der Rakshas eine bessere Ausgangsposition, aber wie ein Falke, der nach seinem Gesicht krallte, so wich die zierliche Frau seinen Schlägen aus und trieb ihn immer wieder zurück. Dann aber weiteten sich seine Augen vor Schreck und Schmerz: Grunthor hatte ihm seine Streitaxt in den Rücken gestoßen und ihn glatt durchbohrt, sodass die speerartige Spitze nun aus seiner Brust ragte.
»Rhapsody!«, brüllte er, als Grunthors Speerspitze ihn durchbohrte. »Ihr Götter, nein! Ich bin es, Ashe. Ich bin nicht der, den ihr sucht! Hilf mir, bitte!«
Als Rhapsody näher an ihn herantrat, stöhnte er wie in Todesqualen und streckte die Hände nach ihr aus, wodurch er die Waffe aber nur noch weiter in seine Brust trieb. Seine Augen, leuchtend blau wie der Himmel, begegneten den ihren und flehten um Gnade. Doch als ihm nichts dergleichen zuteil wurde, wurde sein Blick hart, unerbittliche Schmerzen überfluteten ihn. Ein paarmal holte er mühsam Luft, dann erschauderte er heftig.
»Ihr Götter«, wimmerte er. »Wie könnt ihr nur so töricht sein? Ich bin es, Rhapsody, dein Geliebter!« Doch Grunthor drehte die Streitaxt brutal in der Wunde um, und wieder rang der Rakshas krampfhaft und geräuschvoll nach Atem.
Trotz allem, was Rhapsody über die bösartige Kreatur wusste, tat ihr das Herz bitter weh, als sich die Gesichtszüge des Rakshas, die denen Ashes so ähnlich waren, in Todesqualen verzerrten und seine Gliedmaßen auf Grunthors Spieß wild zuckten. Sie hörte das Zischen von Säure auf gefrorenem Boden; der überwältigende Gestank, den sie schon kannte, stieg vom Feld auf, so durchdringend, dass ihr übel wurde. Sie blickte zu Grunthor empor.
»Bist du bereit?«, fragte sie den Mann, der ihr erster Schwertkampflehrer gewesen war. Grunthor nickte. »Alles klar, Hoheit. Mach saubere Arbeit.«
Rhapsody sammelte sich, sprang vor, trieb die Tagessternfanfare tief ins Herz des Rakshas und zerteilte es in der Mitte. Er stimmte ein wildes, klagendes Heulen an, das in den Ohren schmerzte, und wand sich heftig auf Grunthors Spieß.
Rhapsody wischte ihre Klinge auf dem Boden ab, wo das Eis schmolz und eine tiefe Brandspur in der gefrorenen Erde zurückblieb.
»Welch eine unheilige Sauerei«, stellte sie fest.
Dann berührte sie den Körper des Rakshas mit der Flamme des Schwerts und beobachtete, wie er erschlaffte und zu schmelzen begann, als das Eis und der Lehm, aus denen er gemacht war, mit der elementaren Kraft von Feuer und Sternenlicht in Berührung kam. Die Flamme brannte golden und hell, Rhapsodys eigenes Feuer, nicht das schwarze Feuer des Dämons, und sie spürte, wie das Böse verbrannte, während die Flammen den Körper des Rakshas verzehrten. Schlammbäche rannen von der brennenden Gestalt herab, die langsam dahinschmolz.
Achmed stand bereit und wartete auf den Moment des Todes. Grunthor schwang die flammende Streitaxt und hielt den riesigen Speer gerade.
»Ein Würstchen, Herr?«, fragte der Sergeant ernst und wackelte ein wenig mit dem Speer. Achmed unterdrückte ein Lachen. Dann klärte er, tief atmend, seine Gedanken und begann das Bannritual. Sofort übernahm sein Instinkt das Kommando, und die Bewegungen kamen von ganz allein. Achmed schloss die Augen.
Sein Mund öffnete sich leicht, und aus der Tiefe seiner Kehlen drangen vier verschiedene Töne, in einem Einzelton gehalten; ein fünfter wurde durch seine Stirnhöhlen und seine Nase kanalisiert. Es klang, als sänge er mit fünf Stimmen zugleich. Dann begann seine Zunge rhythmisch zu klicken, und der Körper des Rakshas wurde starr, als hätte jemand ihn gerufen. Achmed hob die rechte Hand, die Handfläche steif, geöffnet, vor den brennenden Körper des Rakshas, ein Zeichen zum Halten. Dann bewegte sich die linke Hand langsam seitlich und nach oben und suchte mit weich pulsierenden Fingerspitzen die Vibrationsfäden, die vom Blut des Rakshas aufstiegen. Wie im Wind treibende Spinnweben konnte er sie fühlen, Fäden einer im Anbeginn der Zeit geborenen Natur, Fingerabdrücke des uralten Bösen, das mit der Insel hätte sterben müssen, nun aber von seiner rechten Hand und seinem dhrakischen Blut in Schach gehalten. Auch spürte er noch die Gegenwart eines anderen Urgeists, der so ganz anders war als der Dämon. Behutsam ließ er die Finger in die metaphysischen Fäden gleiten, holte sie heran zu seiner Handfläche und krümmte dann die Hand, um die Fäden aufzuwickeln. Als er den Körper des Rakshas zucken sah, zog er noch einmal kräftig an der unsichtbaren Fessel. Seine Augen wurden schmal, und der Rakshas rührte sich plötzlich nicht mehr. Ein glühendes Licht strahlte aus seinem erstarrten Körper, stieg aus den goldenen Flammen empor, und Rhapsody stockte der Atem. Es war das Stück von Ashes Seele, vom Tod aus der schmelzenden Gestalt befreit, bereit, sich in den Äther zu erheben und aufzulösen. Achmed hielt das Blut des Dämons in seinem Bann, aber die Seele gehörte Gwydion, und sie schwebte, aus ihrem Gefängnis erlöst, eine Weile in der Luft, als wartete sie auf einen warmen Wind, der sie dem Licht entgegentrug.
Rhapsody richtete die Tagessternfanfare auf die pulsierende Essenz und sang Ashes Namen. Das Seelenstück hielt in der Bewegung inne. Rasch lief Rhapsody zu dem brennenden Körper, griff in die Flammen und packte das Seelenstück, riss es aus den Klauen des Todes und drückte es an ihr Herz.
Voll Staunen beobachtete Grunthor, wie das Licht in sie überging, ihren Oberkörper erleuchtete, sodass er einen Augenblick durchsichtig wurde, sich zu einem Glühen abschwächte und dann verlosch. Für einen Augenblick schimmerte Rhapsodys Haar rotgolden, als hätte ein Strahl der untergehenden Sonne es berührt, dann nahm es wieder seine normale Farbe an. Achmed war noch immer ganz in den seltsamen dhrakischen Todestanz versunken, während die Eisgestalt schmolz und als rote Flüssigkeit in die Erde versickerte. Doch als Grunthor wieder zu Rhapsody hinübersah, deren Gesicht bei ihrer Vereinigung mit dem Seelenstück einen geradezu ekstatischen Ausdruck angenommen hatte, schlug ihm bares Entsetzen entgegen. Sie starrte auf etwas, was sich hinter Achmed befand. Aus dem Augenwinkel nahm Grunthor die Bewegung wahr, als die Gestalt einen Sprung nach vorn machte, aber er stand zu weit weg, um das Vorhaben zu vereiteln. Rhapsody hatte Jo sofort erkannt, trotz des unmenschlichen Ausdrucks auf ihrem eingefallenen, zu einer dämonischen Fratze verzerrten Gesicht. Augenblicklich war ihr auch Jos Absicht klar; das Mädchen schwang den Bronzedolch, den Grunthor ihr im Haus der Erinnerungen geschenkt hatte, und wollte ihn dem Firbolg-König, der noch immer ganz in sein Bannritual versunken war, in den Rücken stoßen. Es war zu spät, sie aufzuhalten, und Rhapsodys Herz gefror, als ihr klar wurde, was sie tun musste. Sie versetzte Achmed einen Stoß, dass er auf den gefrorenen Boden stürzte, unterbrach damit das Bannritual und warf sich zwischen Jo und den Dhrakier. Jo änderte sofort ihren Kurs, und sie war schnell, viel schneller, als Rhapsody geahnt hatte. Der lange Dolch zischte durch die Luft und zielte auf Achmeds Herz. Rhapsodys einzige Chance, ihn zu retten, bestand darin, den Hieb mit dem Schwert zu parieren, und so schwang sie die feurige Klinge und durchbohrte mit grausiger Leichtigkeit Jos Bauch. Noch bevor sie sich erheben konnte, sah sie, dass sie ihrer Schwester eine tödliche Wunde beigebracht hatte. Jo ließ den Dolch fallen. Ihr Mund öffnete sich, sie torkelte und starrte auf das Loch in ihrem Bauch. Zuerst schien es nur ein Riss in ihrem Hemd zu sein, der sich erst schwarz, dann dunkelrot färbte, doch dann klaffte die Wunde auseinander, und die Eingeweide quollen heraus. Sie sah Rhapsody an, und Furcht breitete sich über ihr Gesicht, ein Gesicht, das ohne die dämonische Maske zutiefst vertraut war. Rhapsody war leichenblass geworden. Sie ließ das Schwert sinken und streckte ihrer Schwester die Hand entgegen. Blut floss aus der tödlichen Wunde, und Jos Knie gaben unter ihr nach. Doch zwischen den heraushängenden Eingeweiden sah Rhapsody noch etwas anderes: eine winzige grünschwarze Schlingpflanze, wie eine Weinrebe oder eine Kletterbohne, aus der ein Dorn zu wachsen schien.
Auf einmal waren alle Geräusche um sie herum in einem Augenblick höchster Konzentration ausgeblendet, und in der vollkommenen Stille erinnerte Rhapsody sich an Ashes Worte: Er war wie eine Schlingpflanze, die sich um mein Innerstes rankte und sanft wie ein Windhauch Teil von mir wurde, sich ohne Zögern ausbreitete, bis er meinen Brustkorb zur Gänze ausfüllte. Das Grauen, das allmählich in ihr Bewusstsein drang dass sie Jo getötet hatte, wich einem noch größeren Entsetzen.
»Ihr Götter! Achmed! Achmed! Sie ist gefangen!«
Die drei sahen Jo an und blickten dann auf den Boden. Der Raureif auf dem Gras stieg in einem Nebel auf und verdickte sich zu einer seilartigen Wolke, die sich von Jos Bauch bis zu dem Feld hinter ihnen erstreckte. Die Wolke wurde dunkler und fester, bis sie sich schließlich zu einer fasrigen Ranke verflocht, dornig und bedeckt von silbern glänzender Rinde. Sie drehte sich, erhob sich langsam, zog Jo ruckartig zu Boden und zerrte sie in Richtung ihres verborgenen Ursprungs.
Gelbe Schaumflocken drangen aus Jos Mund, und ihre Haut verfärbte sich grau, während das Blut aus ihren Adern spritzte und ihre Freunde benetzte; in stummem Protest hatte sich ihr Mund geöffnet, ihr Gesicht war im Todeskampf verzerrt. Schwaches Licht trat aus ihrem Inneren hervor, in die Fesseln der Ranke verstrickt, und ihr Körper erstarrte. Physisches und Metaphysisches flössen zusammen, während Körper und Seele sich zur Trennung bereit machten.
Grunthor und Rhapsody warfen sich auf Jo und packten ihre steifen Gliedmaßen, während sie am Boden Halt suchten. Mit grimmiger Entschlossenheit zogen sie ihre Waffen, Grunthor seinen Spieß, Rhapsody den Krallendolch, und schlugen mit aller Kraft auf die Ranke ein, um sie aus Jos Eingeweiden herauszuschneiden. Fetzen von Fleisch und Innereien flogen ihnen um die Ohren. Jo gab ein letztes, gurgelndes Röcheln von sich, dann hörte man nur noch das Zischen der aus ihren Eingeweiden entweichenden Luft, das Reißen von Muskeln und Haut, das Spritzen von Blut. Die Ranke kämpfte, als wäre sie lebendig. Ihre Seitenarme streckten sich und schlössen sich zusammen, sodass sie eine schuppige Klaue bildeten, die wild auf die Angreifer einhieb und Grunthor das Handgelenk aufriss, dass es heftig zu bluten begann. Ein Tentakel wand sich im Würgegriff um Rhapsodys Fuß, andere Seitentriebe, an denen dolchartige Dornen gewachsen waren, gingen wie zuckende Schlangen auf ihren Rücken los. Wo sie die Haut berührten, brannte und rauchte es, als spritzte Säure aus den Dornen.
Peitschen gleich schlugen die Seitentriebe um sich, spickten Grunthors Gesicht mit spitzen Stacheln, schlangen hunderte kleiner Triebe um seine Handgelenke, die seine dicke Haut zu durchdringen suchten. Die beiden Gefährten kämpften weiter und gaben sich alle Mühe, die Angriffe zu ignorieren. Doch obwohl sie Jos Körper gemeinsam festhielten und zu Boden drückten, schien die Ranke stärker zu sein, schleifte sie mit zuckenden Bewegungen vorwärts, zerrte sie hartnäckig zur Mitte des Felds.
Inzwischen war Achmed auf das Feld mit dem frostbleichen Korn gelaufen und fühlte, wie die Luft um ihn herum sich immer mehr auflud. Hier war ein Riss im Universum, ein Phänomen, wie er es auch auf der Insel gespürt hatte, ein Riss, aus dem das Grauen hervordrang, das vor langer Zeit in die Erde eingeschlossen worden war. Als er das Ende der Ranke erreichte, blieb er stehen. Vor ihm in der Luft zeichneten sich schwach die Umrisse einer Tür ab, aus der Energie hervorquoll, Macht und Dunkelheit. Ein Ekel erregender Gestank, den er inzwischen nur allzu gut kannte und den auch der Rakshas abgesondert hatte, verpestete die Luft.
»F’dor!«, rief Achmed Grunthor zu. Der riesige Bolg nickte, fuhr jedoch fort mit seinem grausigen Werk, wobei er ständig den wild um sich schlagenden Klauen ausweichen musste. Achmed schlug seine Kapuze zurück, holte tief Luft und packte die metaphysische Tür. Der Leichengestank, der durch ihre gespenstischen Ritzen drang, legte den Verdacht nahe, dass sie in die Unterwelt führte. Immer wieder bäumte sie sich auf, ein grässliches Brüllen erschallte und hallte über die Felder bis ins Tal hinunter.
Achmed spürte sein Blut kochen; in ihm wallte der eingeborene Abscheu seiner Rasse auf, rhythmisch und summend wie ein Grillenzirpen. Vor Wut und Anstrengung zitternd, hielt er die Tür fest und setzte dabei all die Techniken ein, die er vor vielen Jahren erlernt hatte. Mehr mit Willenskraft als mit körperlicher Stärke drehte er sich so/ dass er die Schulter gegen das Portal stemmen konnte; die wütenden Schreie waren wie ein Echo seines eigenen Zorns. Voller Entsetzen gewahrte Rhapsody, dass die Arme der Ranke, die das formlose Licht umklammerten, in eine andere Richtung strebten als diejenigen, welche Jos Körper fesselten sie versuchten Jos Seele zu entführen! In wenigen Augenblicken würde die Schwester, die sie geliebt und zu beschützen geschworen hatte, auf ewig gefangen sein in den tiefen Erdkammern des Feuers, in den Händen der letzten verbliebenen F’dor-Geister. Bei dem Gedanken überlief sie ein heißer Schauder.
Sie warf sich nach rechts, rollte sich über den Boden von der Ranke weg und überließ Grunthor das Hacken und Schlagen. So gut sie konnte, klärte sie ihre Gedanken, holte tief Atem und begann zu singen. Sie sang Jos Namen, wobei sie im Stillen dafür dankbar war, dass ihre Schwester ihr endlich gestanden hatte, dass sie keinen Nachnamen hatte, und stimmte dann ein Lied des Haltens an.
Es begann als einfache Melodie, die ständig wiederholt wurde, aber bei jedem Refrain kam ein neues Element hinzu: ein neuer Ton, eine neue Pause, ein neuer Takt. Beim Klang ihrer Stimme erschien ein kleiner Lichtstrahl; er bauschte sich in der Luft um die formlose Masse, die in den Spiralen der Ranke schimmerte, drehte und wand sich, bis er zu einer leuchtenden Kette wurde, die im Wind baumelte. Immer und immer wieder sang Rhapsody die Verse, bis sie zusammenflössen und einen Kreis, dann eine Kugel aus winzigen Lichtringen bildeten, ähnlich dem schimmern den Panzer aus Drachenschuppen. Wie ein Netz schickte sie diese in die Luft und fügte Jos Namen und ihre eigene Stellung als ihre Schwester in das Lied ein, bis sie die leuchtende Seele endlich eingefangen hatte. Sekunden später standen die Kette und die Ranke sich gegenüber, und Jos Seele steckte zwischen den beiden.
Das schimmernde Licht kämpfte gegen seine musikalischen Fesseln, ruckte in zielloser Angst vor und zurück. Rhapsody ging allmählich die Luft aus, und ihr Gesang nahm einen Stakkato-Charakter an, als die Wirklichkeit sie einholte. Mit großer Anstrengung und ohne die Melodie zu unterbrechen, hob sie die Tagessternfanfare über ihren Kopf und ließ das Schwert mit aller Kraft auf den Hauptarm der Ranke niedersausen, der Jos Körper mit der Tür verband. Ein grässlicher Schrei dröhnte in ihren Ohren; die Ranke begann zu pulsieren, Seitenarme und Dornen schlugen wild um sich und hieben in blinder Wut auf alles ein, was sich in ihrer Nähe befand. Grunthor wurde beiseite geschleudert, als das mächtige Tau zerriss, wie eine Peitsche über das Feld schnellte und durch die Tür verschwand. Nur dank seiner außergewöhnlichen Behändigkeit gelang es Achmed, ihr auszuweichen, als sie an ihm vorbeischoss. Von ihren Fesseln befreit, sackte Jos Leiche zu Boden, und Grunthor, der inzwischen wieder auf die Füße gekommen war, entfernte rasch die letzten Überreste der Ranke aus ihrer Bauchhöhle. Achmed stolperte, hielt sich aber aufrecht, während der Riss im Universum zu Nebel verschmolz, bis er schließlich nicht mehr zu sehen war. Vorsichtig blickte der Bolg-König um sich und kehrte dann zu der Stelle zurück, wo der Rakshas gefallen war. Dort kauerte er nieder und berührte nachdenklich den Blutdurchtränkten Boden.
Beharrlich weitersingend, wankte Rhapsody zu Jo und Grunthor. Sie kniete sich auf die eisige, blutige Erde, nahm Jo in die Arme und ließ ihren Tränen freien Lauf Tränen eines Kummers, der tiefer reichte als alles, das sie je empfunden hatte. Noch immer sang sie, wiederholt von Schluchzern unterbrochen, aber nicht willens, Jo loszulassen. Langsam und ohne recht zu merken, was sie tat, stopfte sie die Eingeweide des Mädchens zurück in den Bauch. Die grelle Sonne schmerzte ihr in den Augen, und die Welt verschwamm in einem grausigen Dunst.
Rhapsody. So laut dröhnte das Blut in ihren Ohren, dass sie das Flüstern kaum vernahm. Durch den Tränenschleier blickte sie hinab in Jos Gesicht. Inzwischen hatte die Todesblässe eingesetzt, und ihre Augen, die in endgültiger Erstarrung ebenso offen standen wie ihr Mund, reflektierten blind das Sonnenlicht. Doch die Stimme rief, leicht wie die Luft, abermals ihren Namen in dem Versuch, das stockende Lied zu übertönen.
Rhapsody, lass los. Es tut weh.
»Es tut mir Leid. Es tut mir Leid. Ich wollte dir nie wehtun. Ich kann es wieder gutmachen, Jo.« Ihr Schluchzen brach durch die Musik. »Halt durch, Jo, halte durch. Ein Lied, ich kann dich mit einem Lied zurückholen. Das habe ich bei Grunthor auch geschafft ich finde einen Weg, es muss einen geben. Ich kann es wieder gutmachen.«
Rhapsody, lass mich gehen. Meine Mutter wartet auf mich.
Rhapsody schüttelte den Kopf und versuchte, die Worte zu verscheuchen, die weit weg auf dem Wind schwebten. Obwohl sie leichter waren als die Luft, die in schmerzlichen Wellen um sie herum pulsierte, besaßen sie doch eine Endgültigkeit, eine Bestimmtheit, die sie nicht leugnen konnte. Tief in ihrer Seele, in dem Teil, in dem sie und Jo vereint waren, fühlte sie eine Ungeduld, das Bestreben, sich so schnell wie möglich aus der Schwere der Welt zu befreien.
Zitternd brachte sie ihr Lied zu Ende und zog Jos Körper noch einmal an ihr Herz. Aber die Musik hörte nicht auf; sanfte, tiefe Töne antworteten in der Erde und in der Luft dem Herzen der Sängerin, die nicht gehorchen wollte, obwohl sie genau wusste, dass es richtig war. In Jos Körper setzte bereits die Totenstarre ein, aber Rhapsody konnte die Stimme jetzt klarer hören, auch wenn sie so luftig war wie zuvor.
Du hattest Recht, Rhapsody. Sie liebt mich wirklich. Rhapsody begann unkontrollierbar zu zittern, und sie rang zwischen Weinen und Schluchzen nach Luft. Das Glück wartet auf mich. Lass mich gehen. Ich möchte wissen, wie es sich anfühlt.
Auf einmal lagen Grunthors riesige Pranken leicht auf ihrem Kopf. »Lass sie gehen, Schätzchen. Sag ihr auf Wiedersehen und schenk ihr einen guten Abschied, dem armen Mädchen.«
Irgendwo in ihrem Inneren fand Rhapsody endlich die Kraft, Jo loszulassen. Behutsam legte sie ihre Schwester wieder auf den Boden, und die Musik verklang. Mit bebenden Händen drückte sie ihr die Augen zu, die doch nichts mehr sahen. Obwohl ihr noch immer der Kopf schwirrte, stimmte sie stockend das Lirin-Lied des Übergangs an, die alterslose Weise, die unter zahllosen Sternenhimmeln erklang, wenn der Rauch der Begräbnisfeuer aufstieg. In die uralten Texte fügte sie Worte der Liebe und des Entschuldigens mit ein, Worte der Reinigung von den Fesseln der Erde, um dem Mädchen, das sie wie eine Schwester geliebt hatte, den Weg zum Licht zu erleichtern.
Weit oben im Zenit hörte sie die Stimme, ein letztes Mal, weich wie fallender Schnee.
Rhapsody, deine Mutter sagt, sie liebt dick auch.
Blind vor Kummer ließ sie den Kopf auf Jos leblosen Körper sinken und weinte, weinte aus den Tiefen ihrer Seele. Vage bekam sie mit, wie Grunthor Jo behutsam auf die Arme nahm und sie von dem Ort wegtrug, an dem sie gefallen war. Sie versuchte, aufzustehen und ihm zu folgen, aber die Erde gab unter ihr nach und sie schwankte; warme, starke Hände fingen sie auf und hielten sie fest.
»Hier«, sagte Achmed, drehte sie um und blickte sie an. Vom Hals bis hinunter zu den Knien war sie mit Blut besudelt, Stücke der Schlingpflanze und Fetzen von Jos Eingeweiden klebten an ihren verkohlten, noch leise qualmenden Kleidern. Achmed drückte sie an sich, legte einen Arm um ihre Schultern, um sie zu stützen, während er ihr mit der anderen Hand sanft über Haar und Rücken strich, mit einer Geste, die Trost bedeutete und sie wieder ins Leben zurückrief. Doch plötzlich hielt er inne und zog die Hand weg. Sie war über und über mit frischem Blut bedeckt.
»Rhapsody?«
Ihr Gesicht wurde schlohweiß, und sie verdrehte plötzlich die Augen. Achmed rief nach Grunthor, während er Rhapsody vorsichtig auf den Boden legte und verzweifelt die Wunde suchte, aus der das Blut drang. Hastig zog er ihr die Rüstung aus Drachenschuppen aus und riss ihr Hemd auf, konnte aber nichts finden. Doch sein Blutsinn leitete ihn; er folgte ihrem schwächer werdenden Herzschlag hinunter zu ihrem Schenkel und entdeckte dort mehrere hässliche Schnitte, einer davon so lang wie seine Hand, in dem noch ein Dorn steckte. Die Wunde pulsierte mit jedem Herzschlag, und Achmed wusste sofort, dass der Dorn eine Arterie durchtrennt hatte. Unter ihr färbte sich der Boden purpurrot, das Blut sickerte durch ihre Kleider und in die Erde.
»Komm, Rhapsody, wir haben schon schlimmere Kämpfe überstanden«, redete Achmed ihr zu, in dem Versuch, sie bei Bewusstsein zu halten. »Ich weiß, du findest, dass Rot dir gut steht, aber das hier ist jetzt wirklich albern.« Grunthor drehte sie auf die Seite, zog das Stück Dorn heraus und hielt sie fest, während Achmed den unteren Rand seines Umhangs abriss und ihr Bein damit verband. Dann holte er seinen Wasserschlauch hervor und spritzte etwas von seinem Inhalt auf ihr Gesicht, in der Hoffnung, sie wieder zur Besinnung zu bringen. Als sie keine Reaktion zeigte, klopfte er auf ihre Hand, dann auf ihre Wange, bis ihre Augenlider sich flatternd öffneten.
Für Achmed gab es keinen Zweifel, dass ihr Zustand gefährlich war. »Also, das hat mir jetzt wirklich gefallen«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Werd ruhig noch mal ohnmächtig, dann kann ich dich noch ein bisschen schlagen.« Wieder reagierte sie nur schwach. »Hör mal, Rhapsody, musst du unbedingt jetzt schlafen? Das ist doch keine Art, dich vor dem Lagerabbrechen zu drücken.« In der frostigen Luft war ihr Atem nicht mehr zu sehen. Achmed blickte zu Grunthor auf, und der riesige Firbolg schüttelte den Kopf.
»Hier, nimm du Jo, ich trage Rhapsody. Die Pferde sind ungefähr eineinhalb Meilen weit weg, den Abhang dort drüben hinunter. Lass uns die beiden von hier wegbringen.«
»Gut.« Grunthor rannte zurück, um Jos Leiche zu holen, und der Boden erbebte unter seinen Schritten.
So trugen sie die beiden Frauen, die eine tot, die andere dem Tode nahe, den windigen Hügel hinunter zu dem versteckten Lager, wo die Pferde auf sie warteten, sattelten sie grimmig und machten sich eilig auf den Weg nach Sepulvarta.