Eine lange Zeit hörte man im großen Herzen dessen, was einst die Kolonie gewesen war, nichts als das sanfte Schwirren des alten Uhrenpendels, das langsam in der Dunkelheit hin und her schwang. Die alte Dhrakierin schlang ihr Gewand enger um sich und ließ schweigend den Blick durch die leere Ruine schweifen. Als sie endlich sprach, hallte ihre wortlose Stimme durch die Höhle und wurde vom schalen, feuchten Wind verschluckt.
»Am Tag, als die Kolonie zerstört wurde, herrschte an diesem Ort ebenso viel Leben, wie ihm jetzt mangelt.« Ihre Augen schweiften über die dunklen Gänge, als wollte sich die alte Frau die einstige Betriebsamkeit in Erinnerung rufen. Achmed sah, wie sich die durchscheinende Haut ihres Gesichts spannte, wie die Muskeln darunter sich zusammenzogen, als wollten sie einen Schutzwall gegen die Erinnerung errichten. Die zarten Adern, welche die Haut durchzogen, färbten sich dunkler, während der Blutstrom aus ihrem Herzen stärker wurde und der Puls, den Achmed in seiner eigenen Haut spüren konnte, sich beschleunigte.
»F’dor«, flüsterte die Großmutter mit noch immer geschlossenen Augen. Achmeds Blut hämmerte gegen sein Trommelfell und dröhnte in seinem Kopf. Neben sich hörte er, wie auch Grunthors kräftiger Herzschlag schneller wurde und mehr Blut durch die Adern pumpte. Da öffnete die alte Frau die Augen und starrte direkt in die Achmeds.
»Schon das Wort ist dir ein Ärgernis«, stellte sie fest. Langsam nickte der Firbolg-König .
»Dein Blut singt vor Hass, genau wie das meine, wegen eines alten Schwurs, den deine Vorfahren, die Kith, abgelegt haben. Sie waren die Söhne des Windes, eine der ersten fünf Rassen dieser Welt.« Während sie redete, fühlte Achmed, wie sich die Schwingungen in der Ruine zu einem leisen Summen verdichteten. Der feuchte Wind aus den Tiefen der Höhle wurde ein wenig frischer, als beteiligte auch er sich an der Geschichte, die sie erzählte.
»In den Tagen der Vorzeit machten sich vier dieser alten Rassen daran, die F’dor in den Tiefen der Welt einzusperren«, fuhr die Großmutter fort. »Eine jede übernahm bei diesem Vorhaben eine besondere Aufgabe. Die jüngste Rasse, die man als Wyrmril kennt, baute den Kerker, in dem die F’dor für alle Zeiten gefangen bleiben sollten. Aus Lebendigem Gestein.«
Die schwarzen Augen der Alten funkelten unheimlich. »Genau so, wie sie auch die Kinder der Erde geschaffen hatten.« Achmed blickte zu Grunthor hinüber, aber der Bolg-Riese schwieg. Er lauschte gespannt auf die zweite Stimme der Matriarchin, die mit einer tieferen Schwingung zu ihm sprach.
»Die anderen beiden Rassen, die Mythlin und die Seren, bauten die Falle auf und fingen die F’dor-Geister in dem Käfig aus Lebendigem Gestein, tief in der Erde. Es war eine organische Gruft, ein lebendiges Gefängnis, denn der Stein, aus dem es gebaut war, lebte ebenfalls. Seine Doppelnatur gab ihm die Macht, Geister gefangen zu halten, die wie die F’dor zwischen dieser Welt und dem Geisterreich der Unterwelt hinüberwechseln können. Die Kith übernahmen die Aufgabe, die eingesperrten F’dor zu bewachen; sie waren sozusagen ihre Gefängniswärter. Diese Pflicht fiel ihnen zu, weil sie die Gabe des kirai besaßen, die Fähigkeit, Luftströme zu lesen, zu schmecken, zu fühlen, zu verändern und daraus Dinge zu erfahren. Ihre Empfindlichkeit für Schwingungen befähigte sie, die F’dor auch dann zu sehen und in Schach zu halten, wenn sie keine körperliche Form besaßen. Mit den Vibrationen, die sie aussendeten, konnten sie ein Netz sorgfältig ausgewählter Geräusche spinnen, mit dem sie die Dämonengeister in Bann halten würden, falls es ihnen jemals gelingen sollte, ihrem Gefängnis zu entweichen.
Diese Aufgabe war mit einem großen Opfer verbunden, denn sie verlangte von den Söhnen des Windes, dass sie für immer im Reich der Erde lebten, weit weg vom Himmel und seinen Geistern. Die Gefängniswärter die Angehörigen der Kith-Rasse, die als Wachposten auftraten, als Hüter der F’dor entwickelten sich zu der älteren Rasse, die man als Dhrakier kennt.«
Die Augen der Großmutter wurden schmal; als sich das Summen auf Achmeds Haut veränderte, wusste er sofort, dass sie ihn mit ihren Suchschwingungen einzuschätzen versuchte, um herauszufinden, wie viel von dieser Information ihm neu war. Er senkte sein eigenes verteidigendes kirai und gewährte ihr damit den verlangten Einblick. Er hatte gewusst, dass die F’dor von den anderen vier Rassen gefangen gehalten worden waren, aber nicht, mit welchen Mitteln.
Die Großmutter starrte ihn an, dann entspannte sich ihr Gesicht wieder und nahm seinen gewohnten unbeteiligten Ausdruck an.
»Alles blieb, wie man es geplant hatte, bis eines Tages ein Stern vom Himmel fiel und die Erde traf. Er beschädigte die Kerkergruft aus Lebendigem Gestein, das Gefängnis der F’dor. Ehe die überlebenden Wächter der Dhrakier sie instand setzen konnten, waren einige der Dämonengeister bereits entflohen. Dies war der Beginn der Urjagd, der Blutsuche, an der alle Dhrakier beteiligt sind. Schon bei der Geburt wird ihre Lehenstreue eingeschworen, und sie reicht bis weit über den Tod hinaus. Unser Lebenssinn besteht darin, die entflohenen F’dor zu jagen und zu zerstören. Das hast du gewusst, oder nicht?«
»Ja«, antwortete Achmed fest. In der Stimme der Großmutter hatte eine Veränderung stattgefunden, die seine Haut zum Jucken brachte.
»Die Dhrakier, die sich der großen Jagd anschlössen, ihre Wache an der Gruft in der Erde aufgaben und wieder an die Luft kamen, um die F’dor zu suchen, fanden sich zu Kolonien zusammen, die unter der Erde lebten, sich aber für ihre Suche in den Wind hinaufwagten. Große Kreuzzüge wurden unternommen, um die F’dor aufzuspüren und auszurotten, ihre menschlichen Wirte zu finden, sie in den Bann zu schlagen und Mensch und Geist zu vernichten. War dir dies ebenfalls bekannt?«
»Ja.«
»Aber du gehörst nicht zu den Brüdern. Du bist Dhisrik, einer der Ungezählten, der Dhrakier, die keiner Kolonie angehörten. Außerdem bist du ein Ungelehrter, du hast das Bannritual nie gemeistert.«
»Aber ich habe gesehen, wie es durchgeführt wird.« Wieder stieg die Galle in Achmeds Kehle hoch. Er kämpfte die Erinnerungen nieder, die ihre Worte zuhauf in ihm wachriefen.
»Du kannst kein Ungelehrter bleiben«, sagte die Großmutter, während ihre Augen noch immer die stille Höhle über ihr absuchten. »Ich werde dich den Bann lehren. Ohne ihn bist du nicht fähig, das zu erfüllen, was prophezeit worden ist.«
Achmed räusperte sich und schluckte die Säure hinunter, die sich in seiner Kehle angesammelt hatte. »Vielleicht könntest du mir mitteilen, was diese Prophezeiung besagt.«
Die Großmutter blickte auf den Kreis von Worten, von denen die Symbole der Pendeluhr umgeben waren. »Du musst Jäger und Wächter sein. Das ist so vorausgesagt.«
»So eine Prophezeiung kann mich mal«, knurrte Achmed. »Was soll das bedeuten? Wie kann ich beides zugleich sein? Gut, ich weiß mehr oder weniger, was ich jagen soll. Aber was soll ich bewachen? Den Kerker?«
Ohne den Blick von den Runen im Boden abzuwenden, schüttelte die Großmutter den Kopf.
»Nein, aber es ist aus Lebendigem Gestein, genau wie der Kerker.«
»Das Kind.« Die Worte kamen von Grunthor.
Die Großmutter neigte den Kopf. »Ja. Alles, was ihr hier seht, und alles, was einst die Kolonie war, wurde zu seinem Schutz erbaut. Die F’dor suchen das Mädchen und alle von seiner Art, ja, mehr als alles andere in der Welt verlangen die F’dor danach, es zu finden.«
»Warum?«, fragte Achmed.
»Weil die Kinder der Erde aus belebtem Gestein erschaffen wurden, genau wie der Kerker der F’dor. Ihre Knochen, vor allem die Rippen, könnten den Dämonen als Schlüssel dienen, um die Gruft zu öffnen.«
Plötzlich erhob sich der Wind aus den Tiefen der Höhle, und Achmed merkte, wie still es geworden war. Er schmeckte Asche im Mund. Ganz entfernt erinnerte er sich daran, dass er einst einen solchen Schlüssel bekommen hatte.
Er war in eine Ranke eingewickelt, die selbst aus Glas gefertigt zu sein schien, mit schwarzen Dornen bewehrt. Die Ranke war aus dem Boden der Turmspitze gewachsen, dem unheiligen Tempel des Dämons, der im alten Land sein Herr und Meister gewesen war. Achmed schloss die Augen und versuchte, sein Gedächtnis gegen die Erinnerung abzuschotten, aber sie war zu stark, das Grauen zu gewaltig. Er hatte den Schlüssel von der Ranke gepflückt. Darauf war das schwarze Gewächs in seiner Hand zerbrochen wie der Stiel eines zarten Weinglases.
Mit seinen halb bolgschen Augen, den Nachtaugen eines Volks, das aus Höhlen gekommen war, hatte er den Schlüssel genau inspiziert. Dem Anschein nach war er aus dunklen Knochen gefertigt, der Schaft gebogen wie bei einer Rippe. Er hatte in der Dunkelheit leise geschimmert.
Du gehst mit diesem Schlüssel zum Ausgang der Landbrücke vor den Nördlichen Inseln, hatte sein Meister gesagt. Im Fundament dieser Brücke ist ein Tor, wie du so noch keines gesehen, geschweige denn passiert hast. Die Erdkruste dort ist sehr dünn, was dir ein paar Unannehmlichkeiten einbringen könnte. Wie auch immer, wenn du das Tor passiert hast, wirst du dich in einer weiten Wüste wieder finden.
Du wirst wissen, welche Richtung einzuschlagen ist, und bald einem alten Freund von mir begegnen. Den sollst du später durch das Tor auf unsere Seite führen. Vorläufig musst du dich nur über einen Termin mit ihm verständigen. Der sollte allerdings möglichst bald angesetzt werden. Wenn das geschehen ist, kommst du hierher zurück, und ich werde dich auf deinen Dienst als Führer meines Freundes vorbereiten. Achmed hatte getan, was der Dämon verlangt hatte. Dieses Erlebnis war der einzige Grund gewesen, aus dem er und Grunthor von der Insel hatten fliehen wollen. Zwar hatten sie beide keine Angst vor dem Tod, sie schreckten auch nicht vor dem Bösen zurück, aber was ihm in der Wüste jenseits des Horizonts begegnet war, trotzte jeder Beschreibung, derer seine Phantasie fähig war. Angesichts der Verheerung, die bevorgestanden hatte, angesichts der Zerstörung, die über die Welt hereinbrechen sollte, hatten sie beschlossen, zum ersten Mal in ihrer beider Leben davonzulaufen, alles hinter sich zu lassen, was sie besessen hatten, und eine Ewigkeit von etwas Schlimmerem als dem Tod zu riskieren. Alles anderes wäre undenkbar gewesen.
Die letzten Worte des Dämons klangen ihm noch jetzt in den Ohren. Selbst so viele Jahrhunderte später konnte sich Achmed noch immer an den Gestank nach verbranntem menschlichem Fleisch erinnern, der den Atem des Dämons verseucht hatte.
Ich will, dass die Sache schnell über die Bühne geht. Sie ist von entscheidender, weit reichender Bedeutung. Im Vergleich dazu ist alles, was du für besonders wichtig erachtest, von lachhafter Belanglosigkeit. Ich bin dein wahrer Herr und Gebieter, und du wirst mir dienen, freiwillig oder gezwungenermaßen.
Er hatte den Schlüssel stattdessen dazu verwendet, den Stamm von Sagia, der Eiche der tiefen Wurzeln, zu öffnen, im Gedenken an einen anderen Meister, den er sehr geliebt hatte. Vater Haiphasion hatte die gleichen Worte gesprochen, als er ihm von dem Baum erzählt hatte, der ihnen schließlich zur Flucht verholfen hatte.
Sagia wurzelt im Lirin-Wald am jenseitigen Ausläufer des Teichs der Herzenssehnsucht. Die Lirin glauben, dass sie ihre Wurzeln durch die ganze Erde streckt, sodass sie in Verbindung steht mit den Bäumen, die an den Orten stehen, an denen die Zeit begann. Solltest du jemals dort wandern, mein Sohn, so zeige Respekt, denn es ist ein heiliger Ort. Du wirst die Zerbrechlichkeit des Universums in den Schwingungen erkennen, die von diesem Ort ausgehen, denn dort ist der Stoff der Erde dünn geworden und abgetragen.
Als sie den Baum betreten hatten, an seiner Wurzel entlanggekrochen und schließlich durch das Feuer im Zentrum der Erde gegangen waren, hatte der Schlüssel seine schimmernde Macht verloren und die andere Seite nicht zu öffnen vermocht. Jetzt ruhte er in einem Samtbeutel in einem verschlossenen Reliquienschrein im Boden seines Gemachs in Ylorc, fast vergessen.
Er schüttelte den Kopf, um den Wust von verbliebenen Schwingungen auf seiner Haut loszuwerden. Die Großmutter musterte ihn durchdringend. Einen Augenblick später schien sie zufrieden gestellt, setzte sich geschmeidig neben ihnen nieder, und legte die gefalteten Hände an die Lippen.
»Was stimmt eigentlich nicht mit der Kleinen?«, wollte Grunthor wissen. »Warum schläft sie ständig?«
Zum ersten Mal wirkte die alte Frau traurig. »In der Dämmerung des Zeitalters der Menschen wurde sie schwer verletzt. Es geschah während eines blutigen Krieges zwischen den Zhereditck einer Kolonie in Marincaer, einer Provinz westlich des Großen Meers, und den verderbten Dämonenscharen, die es auf ihre Knochen abgesehen hatten, um ihre gefangenen Kameraden aus dem Kerker zu befreien. Sie ist eine der Letzten ihrer Art, die noch lebt, vielleicht sogar die Allerletzte. Es gab keine Zuflucht; das Wagnis des Kampfs um ihr Leben hätte nicht höher sein können, und so tobte er mit der Wildheit kochender Meereswogen. Am Ende siegten die Brüder und brachten das unheilbar verletzte Kind hierher, um es für alle Zeit tief in den undurchdringlichen Bergen zu verstecken.
Jahrhundertlang waren die Berge wirklich undurchdringlich. Das Mädchen blieb hier, zwar von seinen schlimmsten Schmerzen geheilt, aber nicht wieder zu beleben, sicher inmitten der Kolonie, die um es herum gebaut wurde. Während die Brüder hauptsächlich in der Erde wohnten, gingen die Patrouillen in jenen Tagen noch immer nach oben, sammelten Nahrung und hielten Ausschau nach Feinden. Niemand kam, um die Schwingungen des Windes zwischen den Gipfeln zu stören. Man sagt, es waren gute Zeiten, sichere Tage.
Dann aber tauchten die Menschen auf. Der Wind brachte Kunde von ihnen, lange bevor sie gesichtet wurden. An ihrer Zahl und ihrem Zustand erkannten die Brüder sogleich, dass es keine Invasionsmacht war: zerlumpte, abgerissene Männer und Frauen, alt und jung, mit Kindern im Schlepptau, viele Rassen in einer einzigen Karawane zusammengewürfelt, die über die Wüste in den Norden flohen. Sie kämpften ums Überleben und darum, zusammenzubleiben, und es war klar, dass sie ebenfalls in den Armen der Berge Zuflucht suchten.«
»Die Cymrer«, sagte Achmed. »Gwylliam und die Dritte Flotte.« Grunthor räusperte sich zustimmend.
»Wir haben nie erfahren, wie sie sich selbst nannten«, erwiderte die Großmutter. »Als ihre Absichten klar waren, versteckten sich die Brüder, zogen sich in die Erde zurück und verbargen jegliche Hinweise auf die Kolonie. Wir sind ein Volk, das sich sehr leise fortbewegen kann, und die Kolonie blieb unbemerkt, selbst als sich die Menschen hier niederließen und in der Erde zu graben begann. Sie waren hervorragende Bauleute; die Berge hallten wider vom Klang ihrer Schmiedehämmer, und die Erde erzitterte, als die Menschen sie nach ihrem Willen formten.
Unterdessen schien die Kolonie weiterhin unentdeckt zu bleiben. Es gab nie Kontakt zwischen den Erbauern, wie wir sie nennen, und den Brüdern. Selbst als sie einen neuen Gang direkt auf der anderen Seite der Bergwand aushoben dort, wo man die Kolonie betrat, gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass sie von unserer Anwesenheit wussten. Die Zhereditck hatten inmitten der Kolonie Lauschplätze eingerichtet, um eine Überwachung aufrechtzuerhalten, aber es gab nie einen Hinweis darauf, dass die Menschen wussten, dass sie den Berg mit uns teilten.
Vor der Letzten Nacht schien sich ein Rumpeln in ihrem Reich zu verbreiten, aber niemand kam auf den Gedanken, dass es etwas mit der Kolonie zu tun haben könnte. Die Lauscher fingen Schwingungen von einem Streit auf, der im Lauf der Jahre immer heftiger geworden war, aber er schien zu dieser Kultur dazuzugehören. Die Brüder sind eine einfache Rasse mit einfachen Bedürfnissen und einem einfachen Lebensziel. Anscheinend aber strebten die Erbauer nach Höherem und sie waren eindeutig feindseliger. So war es schon seit Jahrhunderten gewesen. In jenen Tagen war ich eine amelystik, eine Pflegerin des Schlafenden Kindes. Sich um das Mädchen zu kümmern zählte zu den Aufgaben, die der zukünftigen Matriarchin der Stadt auferlegt wurden. Es gab einige von uns, und jede war eine Anwärterin für die Stellung der Großmutter, die das Schicksal selbst nach dem Tod der Alten auserwählen würde. In der Letzten Nacht wurde ich vom Schicksal dazu bestimmt, für das Mädchen zu sorgen. Ehe ich mich zum Schlafen neben sie legte, bemerkte ich, dass sie ruhelos war. Auch meine eigenen Träume waren beunruhigend; ich erwachte aus einem davon, weil ich Asche im Mund schmeckte und mir der Schreck die Kehle zuschnürte. Heißer, beißender Qualm erfüllte den Tunnel. Überall in der Kolonie herrschte Panik, die Zhereditck würgten und rangen in der giftigen Luft nach Atem.
Da das Schicksal selbst in seiner Grausamkeit noch freundlich ist, musste ich nicht viel davon mit ansehen. Die letzte Tat eines der Brüder bestand darin, dass er die großen Eisentüren der Kammer des Erdenkindes zuschlug; ich erinnere mich noch an seinen Gesichtsausdruck in jenem Augenblick, als er mich mit dem Kind einschloss. Hinter ihm sah ich noch eine große Menge wild fuchtelnder, kämpfender Dhrakier, als die Tür sich schloss und das Erdenkind und mich vom brennenden Rauch und dem Rest der Kolonie abtrennte. Als unsere Augen sich begegneten, wussten mein Retter und ich beide, dass er das Einzige tat, was getan werden konnte. Es war die oberste Priorität, der Grund für die Existenz der Kolonie: das Schlafende Kind zu beschützen.« Das Summen der zwei Stimmen der Großmutter wurde schwächer.
»Obgleich ich die Vernichtung der Kolonie nicht mit eigenen Augen sah, erlebte ich sie dennoch mit, denn Dhrakier, die in einer Kolonie leben, sind eines Geistes, ähnlich wie Bienen in einem Bienenstock oder Ameisen in einem Ameisenhaufen. So spürte ich jeden Todeskampf, ertrug jedes Ringen nach Luft, beobachtete durch tausende trübe werdende Augen, wie das Leben unserer Rasse ausgelöscht wurde. Bei jedem wachen Atemzug verfolgen mich diese Bilder. Sogar jetzt noch, Jahrhunderte später, finde ich nur im Schlaf Ruhe davor.
Ich wartete sehr lange, bis die Eisentüren abgekühlt waren, bis der Lärm erstarb. Selbst auf der anderen Seite der Türen vernahm man das Keuchen, die unterdrückten Schreie, die donnernden Schritte. Ich wartete auf meine Ablösung, aber keine andere amelystik kam. Ich war noch eine sehr junge Frau, eigentlich selbst noch ein Mädchen, daher beschloss ich, dass es klug war abzuwarten, bis ich die Schwingungen von Tod und Rauch nicht mehr auf meiner Haut fühlen konnte; das dauerte sehr lange. Auch beobachtete ich das Kind nach Anzeichen, dass der Schrecken sich verzog, und das dauerte sogar noch länger. Als der Lärm endlich nachließ, als ich die Hitze nicht mehr durch die Tür spürte und keinen Ruß in der Luft mehr riechen konnte, als das Erdenkind endlich wieder ruhig schlief, da öffnete ich die Türen. Es war so, wie ich es erwartet hatte; der Rauchdunst hing noch in den stillen Gängen, die Leichen der Brüder verstopften die Tunnel. Ich wartete, dass die Sieger durch die Wand brechen und die Kolonie übernehmen würden, nun, da alle Zhereditck tot waren. Doch niemand kam. Es gab kein Invasionsheer, keine Plünderer. Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, ob alles nur ein schrecklicher Unfall war oder ein geplanter Massenmord. Dabei ist es sehr wichtig, das zu wissen, falls man es noch feststellen kann; denn wenn die F’dor dafür verantwortlich waren, dann kennen sie den Aufenthaltsort des Kindes und werden wiederkommen.
Seit jenem Augenblick vor fast vier Jahrhunderten habe ich gewartet, aber es gab kein Anzeichen. Das Schicksal hat den Brüdern eine furchtbare Tragödie beschert, die niemand außer dem Erdenkind überlebt hat, dessen Leben einem ewigen Tod gleichkommt; um dieses Leben zu schützen, ist eine ganze Zivilisation zugrunde gegangen. Ich bin die zweite Überlebende, ich, die ich vom Schicksal zur Matriarchin auserkoren wurde, ich, die ich niemals ein Kind austragen werde; Mutter, Führerin, Beschützerin für niemanden meiner eigenen Art. Und jetzt du, weiter nichts als ein Gespenst.«
Achmed schloss die Augen und dachte an den Geruch von Kerzenwachs im Kloster und an die leisen, trockenen Worte von Vater Haiphasion. Kind des Blutes, hatte der dhrakische Weise gesagt, Bruder aller, mit niemandem verwandt.
»Endlich seid ihr gekommen, wenn auch spät. Noch is Zeit; ich habe auf euch gewartet.«
»Vielleicht solltet Ihr uns sagen, welche Prophezeiung Euch gegeben wurde«, meinte Achmed ruhig.
Die Erinnerung an die Vergangenheit, welche die Augen der Großmutter umwölkt hatte, schwand, und ihr Blick wurde klar und hart.
»Die Worte sind nicht für dich allein bestimmt.«
»Ihr habt gesagt, man erwartet von mir, dass ich sowohl Jäger als auch Wächter sein soll. Wenn Ihr mir die Prophezeiung nicht sagt, kann ich keins von beidem sein.«
»Nein«, wiederholte die Großmutter. Ihr Tonfall war gleichförmig und brannte auf Achmeds Haut. »Es müssen drei sein. So ist es vorhergesagt.
Eins müsst ihr verstehen, genau wie es auch die Zhereditck lernen mussten, als sie in dieses Land kamen: Hier ist der letzte der Orte, an dem die Zeit geboren wurde. Wenn man die Worte einer Prophezeiung ausspricht, zwingt man ihre Erfüllung schneller herbei. Man muss sehr vorsichtig sein; manchmal kann man es nur ein einziges Mal tun. Sonst könnte die Prophezeiung anders in Erfüllung gehen, als sie beabsichtigt war.« Zögernd nickte Achmed.
»Bringt die andere mit, wenn ihr zurückkommt. Die Zeit wird knapp.«
Damit erhob sich die Großmutter geschmeidig und gab ihnen mit einem Wink zu verstehen, sie sollten sich ebenfalls erheben. »Etwas zu zerstören ist wesentlich einfacher als etwas zu erschaffen, zu nähren, zu erlösen. Um diese Welt zu zerstören, ist nur ein Einziger nötig. Aber die Erlösung dieser Welt ist keine Aufgabe für einen Einzelnen. Eine Welt, deren Schicksal in den Händen eines Einzelnen ruht, ist viel zu simpel, als dass es sich lohnte, sie zu retten.«
Die Sonne schickte sich bereits an unterzugehen, als Grunthor die Steinbrocken so vor den Eingang des Loritoriums gewälzt hatte, dass er unsichtbar war. Achmed legte die Hand über die Augen und blickte nach Westen, um das Hereinbrechen der Nacht zu beobachten. Das Licht der schwindenden Sonne zauberte breite rote und purpurne Streifen auf die vom Wind abgewandte Seite der Zahnfelsen, sodass es aussah, als stünden die Berge in Flammen. Sein Kopf, der nach allem, was er gerade erlebt hatte, reichlich angespannt war, fühlte sich ganz ähnlich an.
Der Sergeant klatschte in die Hände und klopfte sich den Staub von seinen ramponierten Ziegenlederhandschuhen.
»Das müsste wohl genügen, Herr. Alles klar zur Rückreise?«
Achmed ließ den Blick über den Pfad vom Griwen zu den hohen Gipfeln wandern und versuchte, aus der Entfernung den Eingang zum Kessel zu orten. Einen Augenblick später hatte er ihn gefunden, verdeckt von einem Schwärm winziger menschlicher Gestalten, die am Tor ein wuselndes Durcheinander bildeten. Er verdrehte die Augen.
»Hrekin«, schimpfte er. »Die zweite Welle von Botschaftern von den Außenländern ist eingetroffen, und mit ihnen ein paar von denen, die mit einer Antwort von ihren Herren aus Roland zurückkehren. Sie sind auf den schlammigen Pfaden besser vorwärtsgekommen, als ich dachte.«
Auch Grunthor stieß einen tiefen Seufzer aus. »Da kann man nix machen, denk ich, Herr«, meinte er, während er die schweißdurchtränkten Handschuhe abstreifte und in seinen Tornister stopfte. »Königliche Pflichten sozusagen. Solltest du am besten hinter dich bringen.«
Achmed betrachtete die Szenerie noch einen Augenblick länger. Über einer Stelle der Gruppe hing ein dunkler Nebel, ein Nachmittagsschatten wahrscheinlich, mehr nicht. Dennoch waren seine Gedanken dunkel von Zerstörung und Tod, von all den Bildern, mit denen er konfrontiert worden war.
»Wann wollte Rhapsody zurückkommen?«, fragte er, noch immer die Augen mit der Hand beschirmend, während der Schein des blutroten Sonnenuntergangs sich zu einem sanften Rosa abschwächte und ein bleiches Grau schon auf den Einbruch der Dämmerung lauerte.
»Da hat sie sich nicht festgelegt«, antwortete Grunthor. »Wenn alles so geklappt hat, wie’s in ihrer Nachricht stand, dann müsste sie jetzt mitten in ihrer Ausbildung sein. Könnte ’ne ganze Weile dauern.«
Achmed verzog das Gesicht. »Machen wir uns auf den Rückweg«, sagte er und schulterte seinen Tornister. »Ich muss mit der nächsten Postkarawane eine Botschaft nach Tyrian schicken.«