36

Die kalten Steinstufen, die zu Elysians Gartenlaube hinaufführten, schimmerten im diffusen Sonnenlicht. Zwar hatte es viel Mühe erfordert, Jahrhunderte von Schmutz, Moos und schwarzem Ruß von den Marmorsäulen zu schrubben, aber Rhapsody fand, dass es sich gelohnt hatte. Die kleine Laube schimmerte wie ein heiliger Schrein im stillen Grün der unterirdischen Höhle.

Den Morgen hatte sie damit verbracht, im Garten herumzuwerkeln und der anstehenden Entscheidung auszuweichen. Jo und Grunthor hatten sie besucht Jo, weil Rhapsody sie vermisste und sich nach ihr gesehnt hatte, Grunthor, weil Jo das unterirdische Reich von Elysian nicht allein zu finden vermochte. Sie schaffte es nicht einmal nach Kraldurge, jener Stelle über der Grotte, wo es nach Meinung der Firbolg spukte, und auch nicht zu den Wächterfelsen, welche die Grotte verbargen, ganz gleich, wie oft sie schon hier gewesen war. Unter den vier Freunden war dies längst zu einer steten Quelle der Belustigung geworden. Sie aßen ihr Mittagsmahl im Garten, wo die üppigen Blüten die Luft mit einem schweren, süßen Duft erfüllten und mit ihren vielfältigen Farben das Auge erfreuten. Jo sprach wenig, sondern starrte die meiste Zeit auf den schattigen Garten und die Höhle über ihren Köpfen, staunte mehr über die fremde Natur des Ortes als über ihre Schönheit. Die Stalaktitenformationen, der glitzernde Wasserfall und die schillernden Farben der Höhle faszinierten ihren Blick und ihre Phantasie gleichermaßen. Grunthor brachte Rhapsody auf den neuesten Stand der Gerüchteküche, und sie erzählten sich obszöne Witze, über die Jo mitlachte.

Es war ein wohlschmeckendes und angenehmes Mahl, und es tat Rhapsody richtig Leid, als sie fertig gegessen hatten. Aber schließlich stand Grunthor auf, wischte sich seinen Hauerbewehrten Mund manierlich mit der Serviette ab und tätschelte Jo den Kopf.

»Komm schon, kleines Fräulein, Zeit, dass wir zurückgehen. Das Essen war großartig, Gräfin.« Rhapsody umarmte erst ihn, dann Jo. Plaudernd spazierten sie zusammen am Seeufer entlang.

Während Grunthor das Boot bereit machte, nahm Rhapsody Jo beiseite. »Nun? Hast du dir überlegt, ob du bei mir wohnen möchtest?«

»Vielleicht eine Weile«, antwortete Jo verlegen. »Versteh mich nicht falsch, Rhaps, ich vermisse dich wie verrückt, aber ich bin nicht sicher, ob ich hier leben kann.« Rhapsody nickte. »Das verstehe ich.« »Ich finde ja nicht mal her, weißt du. Das könnte ein Problem sein.«

»Ich weiß. Das ist schon in Ordnung, Jo. Ich werde versuchen, euch öfter im Kessel zu besuchen falls Achmed mein Zimmer nicht inzwischen jemand anderem gegeben hat.«

»Noch nicht, aber er droht ständig damit, deine Kleider zu verkaufen.« Jo grinste, und Rhapsody lachte laut. »Lass mir ein bisschen Zeit, um mich an die Vorstellung zu gewöhnen«, fuhr Jo fort. »Kann ich dann das Zimmer mit dem Türmchen haben?«

»Was du willst«, antwortete Rhapsody und umarmte sie noch einmal. Inzwischen war Grunthor fertig. »Mir ist es gleich, wie lange du brauchst, wir haben alle Zeit der Welt.« Jo lächelte und gab ihr einen Kuss. Dann rannte sie hinüber zu Grunthor, der beim Boot wartete, und stieg ein. Winkend ruderten sie über den See. Als das Boot schließlich verschwunden war, stieß Rhapsody einen tiefen Seufzer aus. Jetzt hatte sie keine Ausrede mehr. Der Abend war gekommen, und sie hörte die Vögel in ihren winzigen, neu gepflanzten Bäumen singen. Sie hatten den Weg unter die Erde gefunden; gelegentlich entdeckte sie einen im Garten, wie er auf der Wiese herumhüpfte. In der Welt oben verließ die Sonne den Himmel, daher war es unter der Erde in Elysian bereits dunkel. Nur an der warmen Abendluft erkannte sie, dass die Nacht zumindest noch eine kleine Weile entfernt war. Mit einem tiefen Atemzug festigte sie ihren Entschluss. Was sie tun wollte, setzte vieles von dem, was sie liebte, einem großen Risiko aus unter anderem Elysian und seinen Status als sicheren Zufluchtsort. Noch wichtiger jedoch war, das; auch die Sicherheit ihrer Freunde auf dem Spiel stehen mochte, wenn sie sich irrte, obwohl sie immer noch von dem überzeugt war, was sie Achmed damals gesagt hatte.

Sie wanderte durch den Garten, um die Bänke herum, hinauf zur Laube. Langsam stieg sie die Stufen empor und drehte sich im Innern der Laube erst einmal im Kreis, um die ganze Pracht, die sie umgab, richtig würdigen zu können. Dann schloss sie die Augen und lauschte der Musik des Wasserfalls, der von hoch oben in den See herabstürzte. Reglos stand sie da, atmete flach und konzentrierte sich auf das Gesicht, das sie in jenem Waldtal gesehen und das sie so unsicher angelächelt hatte. Das Gesicht mit den Drachenaugen. Mit hoher, klarer Stimme sang sie seinen Namen, süß und warm. Es war ein langer Name, und es dauerte eine ganze Weile, ihn vollständig zu singen, aber als sie fertig war, hallte er durch die Grotte wie eine Glocke. Die natürliche Akustik der Laube verstärkte ihr Lied und hielt es über dem See schwebend fest, wo es sich immer schneller im Kreis drehte. Rhapsody sang ein zweites und ein drittes Mal, band das Lied dann an ein klares Richtungsband, eine Note, der er folgen konnte. Der verharrende Ton würde ihn zu diesem Versteck führen, an den Ort, an dem er, wenn er denn kam, Heilung finden würde.

Als sie geendet hatte, schwebte das Lied noch einen Augenblick im Raum, dann erhob es sich und breitete sich in der Höhle aus, durchdrang die Wände und hallte viele Meilen im Umkreis wider. Schließlich löste es sich auf, doch Rhapsody konnte es in der Ferne noch hören, wie es auf dem Weg zu dem, dem es galt, durch die Nacht klang.

Ashe erwachte aus einem Traum von Rhapsody, weil er ihre Stimme hörte, die ihn rief. Kopfschüttelnd legte er sich wieder unter den Baum, wo er geschlafen hatte. Fast jede Nacht träumte er von ihr. In diesem Traum hatte sie mit dem Wind durch das hohe Gras der Heide getanzt, mit weit ausgebreiteten Armen, als flöge sie dahin. Dann ergriff der Wind sie, blies sie über den Rand des Abgrunds und in die darunter liegende Schlucht hinein. Er rief ihren Namen, aber der Sturm verschluckte seine Stimme. So schnell er konnte, lief er zu dem Abgrund und blickte hinunter, aber sie war nirgends zu sehen. Dann hörte er, wie sie ihn rief; er wandte sich um und sah sie, wieder auf der Heide, in einem dunklen Kleid und dem charakteristischen schwarzen Haarband, das Medaillon, das sie immer trug, um den schlanken Hals gelegt. So stand sie da und streckte ihm die Hand entgegen. In der Dunkelheit wollte er sie ergreifen, aber dann erwachte er und war allein, allein wie immer. Zuerst hatte er die Träume verflucht. Das Aufwachen war schon schmerzlich genug, denn die Qual in seiner Brust kehrte mit voller Macht zurück, wenn der Schlaf sich zurückzog. Aber dazu noch jedes Mal, wenn die Nacht zu Ende ging, Rhapsody erneut zu verlieren das war nahezu unerträglich.

Schließlich jedoch fing er an, sich auf ihre nächtlichen Besuche zu freuen. Im Reich der Fürstin von Rowan, Yl Breudivyr, der Bewahrerin der Träume, gehörte Rhapsody in den meisten Nächten ihm. Sie kannte seine Gefühle und erwiderte sie mit Freuden, sie schlief in seinen Armen, liebte ihn ohne Furcht. Gelegentlich schlich sich auch ein Albtraum ein, und sie war kalt, distanziert und unerreichbar für ihn. Einmal träumte er, dass er sie nach endlosem Suchen im Schlafgemach des Firbolg-König s entdeckte und sie nicht davon überzeugen konnte, ihn zu verlassen. Aus diesem Traum erwachte er in kalten Schweiß gebadet und mit Kopfschmerzen, die stundenlang nicht weggehen wollten.

Am schlimmsten jedoch waren die Nächte, in denen sich keine Bilder von ihr in seinen Schlaf schlichen. Einmal träumte er drei Nächte hintereinander nicht von ihr und war so niedergeschlagen, dass er sich, als seine Mission erledigt war, in seine kleine Hütte hinter dem Wasserfall zurückzog. Als er die Tür öffnete, konnte er ihren frischen, süßen Duft noch immer wahrnehmen; er hatte sich in den Bettlaken und Kleidern, die sie für ihn gewaschen und zusammengelegt hatte, die ganze Zeit über gehalten. Ashe streckte sich auf dem Bett aus, dachte an ihre letzte gemeinsame Nacht und rollte sich um das Kissen zusammen wie ein Drachenjunges. Wehmütig erinnerte er sich daran, wie er sie in ihrem vergeblichen Bemühen um einen friedlichen Nachtschlaf getröstet hatte.

In dieser Nacht träumte er dann endlich wieder von ihr: Sie hatte Lirin-Kindern vorgesungen und war selbst hochschwanger gewesen.

Ein zweites Mal hörte er ihre Stimme, die irln nicht als Ashe rief, sondern bei seinem richtigen, unendlich komplizierten Namen.

Gwydion ap Llauron ap Gwylliam tuatha d’Anwynan o Manosse, komm zu mir. Sein Name war sein Leben lang der Fluch seiner Existenz gewesen, als Kind wegen der geradezu lächerlichen Länge und den damit verbundenen Assoziationen, jetzt, weil er den Dämon zu ihm führen konnte. Er hatte ihn nie schön gefunden, bis er ihn jetzt auf dem Wind hörte, von ihrer Stimme gesungen, die in seine Träume drang.

Noch immer war Ashe unsicher, ob er träumte oder wachte, aber die Stimme rief ihn weiter, sanft, doch beharrlich; sie entfernte sich und führte ihn an einen Ort, den er nicht kannte. Es könnte ein Trick des Dämons sein, dachte er. Schon des Öfteren hatte es derartige Täuschungsversuche gegeben. Aber im Gegensatz zu ihnen lockte und verführte ihn diese Stimme nicht, sie rief ihn einfach nur, mit ruhiger Entschiedenheit.

Gwydion, komm zu mir.

Woher konnte sie seinen Namen wissen? In den Augen und Gedanken der Welt, sogar in der Geschichte selbst war er tot, seit zwanzig Jahren. Nur sein Vater wusste, dass er noch lebte; wenn er ihn besuchte, achtete er sorgfältig darauf, sein Anwesen stets durch die Hintertür zu betreten. Auch seine Familie und seine Freunde hielten ihn für tot. In jener Nacht vor zwanzig Jahren hatte sein Leben ja praktisch ein Ende gefunden. Niemand sonst wusste etwas davon, niemand, außer dem F’dor vielleicht. Je mehr Ashe darüber nachdachte, desto sicherer wurde er, dass das, was ihn rief, dämonischer Natur sein musste.

Gwydion.

Ashe stand auf und schüttelte den Schlaf ab. Die Qual überfiel ihn von neuem, wie immer, aber sein Kopf war klarer als gewöhnlich. Er dachte an seinen Vater, daran, dass er auf sein Geheiß demnächst den jüngsten Grenzzwischenfall untersuchen musste, obgleich er sowieso wieder keine Erklärung dafür finden würde. Mit geschlossenen Augen spürte er der Stimme nach; sie klang ganz eindeutig wie Rhapsodys. Er kannte ihre Stimme, er hatte sie mit jedem Wort in seinem Gedächtnis gespeichert, mit jeder Melodie, jeder Aubade, jeder Vesper. Er musste ihr folgen, ganz gleich, wie hoch das Risiko sein mochte. Als am frühen Nachmittag die Dunkelheit hereinbrach, saß Rhapsody am Feuer und nähte. Auf einmal spürte sie, dass Ashe sich Elysian näherte, obwohl sie nicht sicher war, woher das seltsame Gefühl kam. Sie sprang auf, rannte aus ihrem Schlafzimmer in den Raum mit dem Türmchen, ließ sich auf dem Fenstersitz nieder und suchte mit den Augen das dunkle Wasser nach einem Boot ab, das ihn zu ihr brachte. Seit fünf Tagen war ihr Lied nun unterwegs, und es überraschte sie, dass er so früh kam. Er musste wohl in der Nähe gewesen sein. Doch dann wurde ihr schlagartig klar, dass sie eigentlich keine Ahnung hatte, ob es wirklich Ashe war, und ihr Magen zog sich angstvoll zusammen. Sie hatte gehofft, wenn sie ihn auf diese Art riefe, eine gewisse Sicherheit zu haben, aber nachdem sie gesehen hatte, wie listig der Rakshas seine dämonischen Kräfte einsetzte, konnte sie nicht mehr wirklich daran glauben. Schließlich ging sie nach unten, um zu warten.

Als sie am Spiegel vorbeikam, überprüfte sie schnell ihr Aussehen und zuckte erschrocken zusammen. In ihrer gefältelten weißen Bluse mit dem himmelblauem Besatz, dem Wollrock im gleichen Blau und dem dazu passenden Haarband sah sie aus wie ein Schulmädchen. Aber das ließ sich nicht ändern, sie hatte keine Zeit mehr, sich umzuziehen. Vor dem Feuer im Salon wanderte sie ruhelos auf und ab und versuchte, ihre Nerven zu beruhigen. In Gedanken ging sie alles noch einmal durch, worüber sie sich mit Achmed und Grunthor neulich gestritten hatte.

Sie sind Lügner, allesamt. In der alten Welt wusste man wenigstens, wer die bösen Götter verehrte, weil sich die Betreffenden dazu bekannten. Hier in diesem neuen, verdrehten Land sind sogar die angeblich Guten nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Die Bösen von früher haben nicht so viel Verheerung angerichtet, wie ein angeblich guter cymrischer Herrscher und seine Herrscherin es ganz nebenbei geschafft haben. Und du möchtest dich dem womöglich schlimmsten Lügner von allen auf einem Silbertablett servieren.

Nun, wenn ich das tue, dann ist es meine Entscheidung. Ich werde das Risiko auf mich nehmen und nach meinem eigenen freien Willen leben oder sterben.

Ganz falsch. Wir alle werden vielleicht dieses Schicksal erleiden müssen, weil du nicht nur dich selbst in Gefahr bringst du wirfst unsere Neutralität mit in den Topf, und wenn du zu viel riskierst, haben wir alle verloren.

Verzweifelt kämpfte sie gegen die in ihr aufsteigende Panik an. Bitte, lass mich das Richtige tun, flüsterte sie. Bitte mach, dass ich mich nicht irre. Sie schuldete Ashe nichts, kein Bündnis, keine Freundschaft, ganz anders als bei Jo und den beiden Bolg.

Ich ward sagen, wir töten ihn. Und wenn wir uns geirrt haben und ein anderer taucht auf, dann töten wir den auch.

Du kannst nicht einfach rumlaufen und irgendwelche Leute töten, ohne sicher zu sein, ob das richtig ist.

Und warum nicht? Das hat bei uns doch immer funktioniert. Mal im Ernst, Euer Liebden, das Risiko is einfach zu groß, wenn du es nich sicher weißt.

Es klopfte an der Eingangstür des Hauses in Elysian.

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