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Ashe stürmte durch die Korridore des Kessels, dass seine Schritte auf dem leblosen Stein widerhallten. Als er Elysian dunkel und verlassen vorgefunden hatte, war er den ganzen Weg von Kraldurge bis hierher gerannt. Wiederholt war er von eifrigen Wachposten verfolgt worden, hatte sie aber in Sekundenschnelle abgehängt.

Am Ende des einen Ganges sah er Licht. Es drang aus dem Beratungszimmer hinter der Großen Halle, von dem aus Jos Unglück seinen Lauf genommen hatte. Leise fluchend eilte er durch die gewölbte Tür.

Grunthor saß an dem massiven Tisch und kratzte mit einer Schreibfeder auf einer großen Landkarte herum. Er war dabei, Flächenkarten und topographische Schaubilder zu zeichnen; unwillkürlich nahmen Ashes Drachensinne Notiz davon, wie akkurat der Bolg arbeitete. Die Landmarken waren noch nicht beschriftet, wahrscheinlich aufgrund der Tatsache, dass Grunthors Lese und Schreibfähigkeiten etwas beschränkt waren.

Der Bolg-Riese blickte auf, und ein grausiges Grinsen breitete sich über sein Gesicht. »Ach, hallo, Ashe«, begrüßte er den Ankömmling und legte die Feder beiseite. Dann lehnte er sich auf seinem großen Stuhl gemütlich zurück und faltete die Hände über dem Bauch. »Na, dann gab’s dich wohl tatsächlich in zweifacher Ausfertigung. Was bringt dich hierher?«

»Wo ist Rhapsody? Ich habe gehört, wie zwei Wachen davon gesprochen haben, sie sei schwer verwundet.«

»Tut mir Leid, alter Junge, ich fürchte, du kommst ein bisschen spät. Sie ist weg.«

»Was?« Plötzlich fing Ashes Stimme an zu zittern.

»Jawohl«, bestätigte Grunthor, grinste und genoss Ashes Panik. »Sie und Achmed sind vor ein paar Tagen ausgeritten.« Er nahm die Feder wieder zur Hand und arbeitete weiter. »Du hast dir ja auch ganz schön Zeit gelassen, bis du hier auftauchst.«

Ashe stützte die Hände auf den Tisch. »Wie meinst du das, sie ist mit Achmed ausgeritten?«

Grunthor grinste, ohne aufzublicken. »So, wie ich’s sage. Sie wollten ein bisschen Zeit für sich allein wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ach, bitte.« Ashe spürte, wie sich sein Gesicht angeekelt verzog. Er schüttelte den Kopf, um das Schreckensbild zu verscheuchen. »Wo sind sie denn hingeritten?«

»Ich glaube, sie wollten Rhonwyn suchen, du weißt schon, deine Tante.«

»Mir ist durchaus bekannt, wer Rhonwyn ist. Warum wollen sie zu ihr?«

»Hat irgendwas mit den Enkeln der Gräfin zu tun. Geht dich aber eigentlich nix an.«

Allmählich wurde Ashe ärgerlich. »Was willst du denn damit nun wieder sagen?«

Grunthor bewegte zwar den Kopf nicht, aber er schielte mit einem äußerst vorwurfsvollen Blick zu Ashe empor. »Also sag mal, wo warst du eigentlich, als sie fast gestorben ist, hä? Nach all dem, was sie für dich getan hat und immer noch tut, wo warst du da, als sie dich gebraucht hätte?«

»Ich war an der Küste.« Obwohl die Kapuze seine Stimme dämpfte, konnte Grunthor erkennen, dass Ashe sich selbst schon genug Vorwürfe machte. »Was ist passiert? Geht es ihr besser?«

Mit einer Kopfbewegung deutete Grunthor auf einen der Stühle. Ashe setzte sich und ließ seinen Tornister zu Boden fallen, während der Sergeant einen Becher aus dem Krug neben sich füllte. »Sie ist verwundet worden, als sie die Seele des kleinen Fräuleins gerettet hat.«

»Jo? Ist Jo auch verletzt?«

»Na, das kann man sagen. Sie ist tot.« Auf Grunthors Gesicht zeigte sich keine Gefühlsregung, sein Ton war unverbindlich, aber der Drache spürte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte, wie die Tränendrüsen des Riesen mehr Flüssigkeit produzierten und die Muskeln in seinem großen vorspringenden Kinn sich anspannten. Diese wortlosen Reaktionen sagten Ashe alles, was er wissen musste.

»Bei den Göttern, Grunthor, das tut mir Leid.« Er dachte an Rhapsody sie war bestimmt am Boden zerstört. »Was ist denn geschehen?«

»Dieser Mistkerl von F’dor hat sie erwischt. Sie muss uns gefolgt sein, obwohl wir uns alle Mühe gegeben haben, genau das zu vermeiden; wir wussten nicht mal, dass sie in der Nähe war. Und gerade als Achmed deine klägliche Seele aus den brennenden Überresten geholt hat, ist sie zum Angriff übergegangen. In der ganzen Zeit, die ich ihn kenne, ist ihm nie einer so gefährlich nahe gekommen, aber der König war ja auch ein bisschen, na ja, abgelenkt, sagen wir mal. Um ein Haar hätte er deinetwegen einen Dolch ins Herz gekriegt, Freundchen. Ironie des Schicksals, was?« Grunthor nahm einen großen Schluck aus seinem Becher.

»Natürlich musste die Gräfin das verhindern. Sie stand neben ihm und hat versucht, sich dazwischen zu werfen, aber Jo war zu schnell. Da hat sie das getan, was sie tun musste sie hat den Schlag pariert. Und hat Jo den Bauch aufgeschlitzt, sollte dem Mädel eine Lehre sein, muss ich sagen.« Wieder trank er einen Schluck. Mit leicht zittrigen Händen griff Ashe nach dem Becher, den Grunthor vor ihn auf den Tisch gestellt hatte.

»Dann ist plötzlich ein Baum aus Jos Eingeweiden herausgewachsen, und wir mussten ihn rausschneiden, aber weißt du, dieses Schlingpflanzending wollte nicht rausgeschnitten werden und hat uns sozusagen angegriffen. Es hätte die Gräfin geradewegs umgebracht, wenn der König nich gewesen wäre. Du warst ja nich abkömmlich, als wir versucht haben sie wieder zusammenzuflicken. Aber sie hat es immer noch nicht verkraftet, dass sie Jo getötet hat.«

Schweigend starrte Ashe ins Feuer. Er versuchte sich vorzustellen, wie Rhapsody sich jetzt fühlte, aber er kam nicht über den Berg aus Schuldgefühlen hinweg. Sie befand sich nicht mehr in Reichweite seiner Sinne, und das machte ihm mehr zu schaffen als alles andere.

»Es tut mir schrecklich Leid«, meinte er schließlich. »Natürlich auch die Sache mit Jo, Grunthor. Aber wie geht es Rhapsody?«

Kurz entschlossen legte Grunthor die Füße auf den Tisch, und seine Stiefel knallten so laut gegen das Holz, dass die Stühle wackelten. »Nun, ich denke mal, das kommt ganz drauf an, wie man es definiert. Jedenfalls ist sie am Leben.«

»Das ist wenigstens ein Anfang.«

»Aber sie ist sehr schwach, wenn du mich fragst, was natürlich keiner tut. Ich hätte sie in ihrem derzeitigen Zustand jedenfalls nich so durch die Gegend reiten lassen, bleich wie ein Gespenst. Aber der Gräfin war ihr Vorhaben mal wieder so wichtig, dass sie nix davon hören wollte, und wenn sie so drauf ist, kann man nich mit ihr diskutieren.«

Ashe seufzte. »Ich weiß.«

Grunthor lachte leise. »So klein und schmächtig sie auch ist, so ist sie doch zäh. Und wenn man einen braucht, der einem den Rücken frei hält, würd ich mir immer sie aussuchen.«

»Da gebe ich dir Recht. Und sie sagt, das hat sie dir zu verdanken, weißt du. Angeblich hat sogar Oelendra die Ausbildung bewundert, die du ihr hast angedeihen lassen.«

Der Riese lächelte. »Ja, das hat sie mir erzählt. Aber ich glaube, das kommt eher daher, dass das Herz der Gräfin größer ist als ihr Körper.«

Auch Ashe lächelte. »Das ist allerdings wahr.«

Grunthor beugte sich über den Tisch. »Und deshalb warn ich dich, Wasserknabe pass auf, dass du ihr dieses Herz nicht brichst, denn wenn du’s doch tust, dann brech ich dich in Stücke wie ’nen trockenen Zweig.«

»Ich werde es mir merken.« Ihre Becher stießen scheppernd aneinander und wurden geleert. Achmed fasste Rhapsody um die Taille und hob sie vom Pferd. Er spürte, dass sie dankbar war, endlich wieder auf festem Boden zu stehen. Wenn sie zusammen ritten, überließ es ihr Achmed im Allgemeinen, allein auf und abzusteigen, aber er hatte bemerkt, dass ihr Gesicht jedes Mal schlohweiß wurde, und hatte eine Ausnahme von der herrschenden Regel gemacht, sie wohlwollend sich selbst zu überlassen.

Sie überquerten den Turmplatz, den weitläufigen, gepflasterten Hof innerhalb der Stadtmauern von Sepulvarta, der an das Geschäftsviertel grenzte. In der Mitte des Platzes erhob sich das riesige Bauwerk, das Rhapsody in der heiligen Nacht mit dem Patriarchen von der Großen Basilika aus betrachtet hatte. Am Grund war es so breit wie ein ganzer Häuserblock und reckte sich, spitz zulaufend, fast tausend Fuß in die Höhe. Oben an seiner Spitze wurde es von einem strahlenden Stern gekrönt. An klaren Tagen konnte man den Stern in einem Umkreis von hundert Meilen sehen, in der Nacht sogar noch weiter. Angeblich enthielt dieser Stern einen Splitter des Schlafenden Kinds, jenes Sterns, der nach der serenischen Legende ins Meer gestürzt war und die erste große Katastrophe heraufbeschworen hatte. Der Überlieferung zufolge hatte er bei seinem Aufprall ein heftiges Erdbeben hervorgerufen, und die darauf folgende Flutwelle hatte das Land zerrissen, die Insel überflutet und nur die Hälfte davon zurückgelassen. Vier Jahrtausende hatte der Stern am Meeresgrund gelegen und den Ozean aufgewühlt, bis er sich zu guter Letzt erhoben und den Rest der Insel für sich beansprucht hatte, zusammen mit allen übrig gebliebenen Mitgliedern von Rhapsodys Familie und den Verfolgern der beiden Bolgs.

Auf den Straßen von Sepulvarta waren nicht nur die üblichen Reisenden zu sehen, die man in jeder im Binnenland gelegenen Stadt antraf, sondern auch zahlreiche Mitglieder des Klerus mitsamt ihren Familien. Sepulvarta war das religiöse Zentrum von Roland, Sorbold und den neutralen Außenstaaten; hier lebten viele Priester, die in den riesigen Bibliotheken und Archiven liturgische Schriften studierten oder die Seminare besuchten. In den Geschäften und Privathäusern wimmelte es von den heiligen Symbolen und Wahrzeichen des Ordens wie im Gwynwald von Hexenzeichen und Runen. Daher war es nicht ganz leicht, die Abtei der Sonne ausfindig zu machen, ein winziges Kloster im äußeren Kirchendistrikt, in dem Rhonwyn, die Seherin, angeblich wohnte.

Über das mittlere Kind von Elynsynos und Merithyn war nicht allzu viel bekannt. Es ging das Gerücht, sie wäre wahnsinnig wie ihre Schwestern, von der Last des Wissens überfordert, das gleichzeitig ihre Gabe und ihr Fluch war, aber zart und zerbrechlich wie das Reich, in das sie Einblick zu nehmen vermochte. Da sie nur die Gegenwart sehen konnte, brachte man ihr von allen Prophetinnen am wenigsten Neugierde entgegen, denn schließlich gingen die meisten davon aus, sich in der Gegenwart auszukennen. Jeder Zeitpunkt in der Gegenwart war einen Augenblick später schon Vergangenheit und lag daher außerhalb ihres Gesichtskreises. So waren Achmed und Rhapsody nicht allzu überrascht, dass die Abtei heruntergekommen und verwahrlost wirkte und sie die einzigen Gäste waren.

Nachdem sie das schmiedeeiserne Tor und den winzigen Garten hinter sich gelassen hatten, fanden sie sich auf einer bröckeligen Steintreppe vor einer uralten Holztür mit einem großen Türklopfer wieder. Rhapsody betätigte ihn, und kurz darauf öffnete ihnen die Äbtissin, die sie rasch ins Haus komplimentierte und die Tür hinter ihnen erst schloss, nachdem sie einen argwöhnischen Blick auf die Straße hinter ihnen geworfen hatte. Achmed kannte dieses Verhalten; er hatte schon des Öfteren Leute gesehen, die sich versteckten. Nachdem sie ihr Anliegen vorgebracht hatten, wurden sie in einen winzigen, dunklen Salon geführt. Lange saßen sie dort und warteten. Rhapsody warf ein paar Goldmünzen in den Schlitz der Opferbüchse, die demonstrativ auf einem Tisch stand. Endlich kam die Äbtissin zurück und geleitete sie durch eine mit einem Vorhang verhängte Hintertür in einen stillen Hof, der völlig verdreckt und vernachlässigt wirkte. Sie deutete nach oben. Vom Hof aus stiegen sie eine lange, steile Außentreppe zu einem Turm empor, aus dem gleichen Stein wie die Abtei erbaut. Das Gebäude selbst besaß zwar nur wenige Stockwerke, aber der spitze Turm mit seiner Galerie ragte weit über der stillen Straße auf. Im Innern sah man eine in ein Gewand gehüllte Gestalt sitzen, die in den Himmel hinaufblickte Als sie die Galerie erreichten, holte Rhapsody das mitgebrachte Geschenk aus ihrem Tornister. Es war der Beutel, in dem sie den Brotlaib von Pilam, dem Bäcker getragen hatte, den er ihr damals, an jenem Nachmittag vor vielen Jahrhunderten, in Ostend geschenkt hatte. Auf der beschwerlichen Reise an der Wurzel hatte Rhapsody jede Mahlzeit gesegnet, die der Laib ihnen bereitwillig gespendet hatte, wenn sie den Brotnamen sang. Daher war das Brot auch nie vertrocknet oder verschimmelt, nicht einmal in der Feuchtigkeit des Erdinneren. In dem Beutel schien die Zeit keine Herrschaft zu besitzen, und das Brot darin war auch jetzt so frisch, wie es in Ylorc gewesen war. Es schien ihr ein angemessenes Geschenk zu sein. Behutsam legte sie es in die Hände der Seherin.

Die Frau wandte sich zu ihr um, lächelte, und Rhapsody stockte fast der Atem. Ihre Augen waren blind, ohne farbige Iris, und spiegelten lediglich Rhapsodys Gesicht wider, wie in dem Traum, den sie damals in Ashes Hütte gehabt hatte. Das Gesicht der Seherin war glatt, in der Blüte der Jugend; das Haar nahe am Oberkopf glänzte rotgolden wie das von Ashe, doch weiter unten, in dem mit Lederbändern zusammengebundenen langen Zopf, verlor es an Farbe, war grau und an den Spitzen sogar schneeweiß. Sie trug die gleichen Gewänder wie die Äbtissin, und auf ihrem Schoß lag ein nautisches Instrument. Rhapsody hatte so etwas als Kind schon einmal gesehen, es war ein Kompass. Insgesamt machte Rhonwyn einen schwächlichen und verträumten Eindruck.

»Gott schenke dir einen guten Tag, Großmutter«, sagte Rhapsody und berührte sanft die Hand der Frau. Die Seherin nickte und blickte dann wieder zum Himmel empor. »Ich heiße Rhapsody.«

»Ja«, antwortete die Frau wie von ferne, als ginge ihr etwas ganz anderes durch den Kopf, vielleicht ein Rätsel. Sie legte die Hand auf den Kompass. »Du heißt also Rhapsody. Was möchtest du mich fragen?«

Achmed seufzte. Er wusste schon, dass er das, was jetzt kam, hassen würde. So stellte er sich in eine Ecke des Turms und blickte auf die Straße hinunter.

»Kennst du den Namen des F’dor?«

Die Frau schüttelte den Kopf, wie Rhapsody es nicht anders erwartet hatte. Einmal hatte sie mit Ashe darüber geredet, warum sich der Name nicht am einfachsten herausfinden ließ, indem sie die Seherin befragte, aber er hatte ihr erklärt, dass Rhonwyn nicht weit genug in die Vergangenheit sehen konnte, um etwas Altes, das in einem nicht mehr existierenden Land entstanden war, beim Namen nennen zu können. Serendair gab es in der Gegenwart nicht mehr, daher war der F’dor für Rhonwyn nicht sichtbar. Lächelnd sah Rhapsody, wie die Frau in den Beutel griff, das Brot herauszog und an die Lippen führte. Sie wartete, bis Rhonwyn geschluckt hatte, dann stellte sie die nächste Frage.

»Hat der Rakshas Kinder?«

»Es gibt keinen Rakshas.«

Rhapsody seufzte. »Gibt es Kinder mit dem Blut des F’dor?«

Die Seherin nickte.

»Wie viele?«

»Wie viele was?«

»Wie viele Kinder gibt es, die mit dem Blut des F’dor geboren sind?«

»Neun davon leben heute.«

Wieder nickte Rhapsody. Sie griff in ihren Tornister und holte ein Stück Pergament und ein Stück Holzkohle heraus. »Wie lauten ihre Namen, wie alt sind sie und wo befinden sie sich heute?«, fragte sie.

»Wer?«

»Wie lauten die Namen der Dämonennachkommen, wie alt sind sie und wo befinden sie sich heute?«

»Ein Kind mit Namen Mikita lebt in Hintervold. Er hat zwei Sommer gesehen«, antwortete Rhonwyn.

»Wo in Hintervold?«

Die Seherin wandte ihr das Gesicht mit den blinden Augen zu. »Was ist mit Hintervold?«

»Wo ist das Kind in Hintervold?«

»Welches Kind?«

Von der anderen Seite des Raums konnte Rhapsody spüren, wie Achmed die Schultern anspannte. Sie senkte die Stimme und ließ sie so beschwichtigend wie möglich klingen, um die empfindliche Seherin nicht aufzuregen. »Wo ist der Dämonennachkomme Mikita in Hintervold?«

»In Vindlanfia, jenseits des Flusses Edelsak in der Stadt Carle.«

Rhapsody streichelte sanft ihre Schulter. »Ist Mikita das jüngste der Dämonennachkommen?«

»Ja.«

»Wie lautet der Name des zweitjüngsten Dämonenkinds?«

»Jecen.«

»Wie alt ist Jecen?«

»Welcher Jecen?«

Rhapsody seufzte. »Wie alt ist Jecen, das Kind des Dämons?«

»Heute hat er drei Sommer gesehen.«

Langsam führte Rhapsody Rhonwyn durch das qualvolle Ritual, das notwendig war, um die Informationen zu bekommen, die sie benötigte. Die Seherin sagte eine Litanei von Namen, Orten und Altersstufen auf, mit leiser, monotoner Stimme, die im Wind des Turms dahinleierte, immer wieder von Rhapsodys vorsichtigen Fragen unterbrochen. Die Liste, die sie auf diese Weise erstellte, reichte von einem zweijährigen Kind bis zu einem Gladiator im Land Sorbold, der an diesem Tage neunzehn Jahre alt war. Rhapsody sah zu Achmed hinüber und schauderte. Dieser Fall konnte schwierig werden.

Als die Seherin geendet hatte, dankte Rhapsody ihr und erhob sich. Schon wollte sie ihr einen Kuss auf die Wange drücken, da sah sie, dass Achmed einen Finger hob.

»Gibt es auch ungeborene Kinder mit dem Blut des F’dor?«, fragte er. Wieder erschauerte Rhapsody, denn dieser Gedanke war ihr noch gar nicht in den Sinn gekommen.

»Ja.«

»Wer ist die Mutter?«

»Wessen Mutter?«

»Die Mutter des ungeborenen Kindes.« Die Seherin machte ein ratloses Gesicht. Rhapsody atmete hörbar aus. »Tut mir Leid, vermutlich könnt Ihr sie nicht sehen, weil sie noch keine Mutter ist. Wann wird das Kind geboren werden und wo?« Die Frau starrte ausdruckslos in die Ferne.

»Vielleicht ist das eher eine Frage, die wir Manwyn stellen sollten«, stellte Achmed fest. Rhapsody nickte.

»Danke, Großmutter«, sagte sie leise und küsste die Seherin auf die Wange. Die Frau wandte sich zu ihr um und lächelte wieder. »Nun könnt Ihr Euch ein wenig ausruhen.«

»Du heißt Rhapsody«, sagte Rhonwyn verträumt. »Was möchtest du mich fragen?«

Als Rhapsody sieben Tage später den Fuß auf die Insel Elysian setzte, wusste Ashe augenblicklich, dass sie zurückgekehrt war. Das Wasser hatte die Nachricht ihrer Ankunft im Boot übermittelt, aber es war Nacht gewesen und er hatte geschlafen, statt auf seinem üblichen Posten ungeduldig zu warten. Im Halbschlaf hatte er gemeint, ihr Kommen nur geträumt zu haben wie in jeder Nacht davor, um dann allein und voller Enttäuschung zu erwachen. Jetzt setzte er sich kerzengerade im Bett auf, sprang auf und rannte die Treppe hinunter, um sie zu begrüßen.

Auch sie hatte ihn gefühlt, samt der Sorge und der Angst, die er in die Grotte gebracht hatte, und sie eilte zu ihm, ließ sich von ihm in die Arme schließen und ins Haus tragen. Sie streichelte seine Haare, während seine Tränen sie benetzten und er sie so fest umschloss, wie er es angesichts der Wunden wagte, die er unter ihren Kleidern spürte. Sanft legte Ashe sie aufs Bett und setzte sich neben sie, ließ seine Augen und seine Sinne und schließlich auch seine Hände über sie wandern.

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Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber sie legte rasch einen Finger auf seine Lippen, um ihn daran zu hindern.

»Nicht«, sagte sie leise. »Mir geht es gut; ich freue mich so, dich zu sehen. Bitte halt mich fest.« Er gehorchte, zog sie wieder an sich und umarmte sie, so fest er es wagte. Nach einer langen Zeit ließ er sie widerwillig los und sah sie noch einmal an. Dann begann er sie zu entkleiden und betrachtete ihre Wunden mit den Augen, nicht nur mit den Sinnen. Aber sie gebot ihm Einhalt.

»Bitte, Ashe, nicht.«

»Vielleicht kann ich helfen, dich zu heilen, Aria.«

Rhapsody lächelte. »Das kannst du, und das hast du auch bereits getan.« Sie blickte sich im Zimmer um. »Und du wirst noch mehr für mich tun, wenn du endlich dein Hinterteil hebst und mir einen Tee bringst.« Sie lachte, als er sofort die Treppe hinabeilte. Als sie ihren Tee schlürfte, setzte sich Ashe zu ihr auf die Bettkante und zog ihr die Stiefel aus.

»Wo in aller Welt warst du denn?«

»Ich war bei Rhonwyn«, antwortete sie, und ihre großen Augen zwinkerten ihm über die Tasse hinweg zu.

»Das habe ich gehört. Bist du von Sinnen?«

»Ja. Aber das wusstest du schon, bevor du mein Liebhaber wurdest.«

»Was kann denn so wichtig sein, dass du unbedingt in aller Eile zu Rhonwyn musstest, obwohl du noch so schwach bist? Grunthor meinte, es hätte etwas mit deinen Enkeln zu tun ... Geht es Stephens Kindern gut?«

»So weit ich weiß, schon«, antwortete sie. »Aber ich habe sie nach anderen Kindern gefragt, denen ich hoffentlich helfen kann, nicht nach denen, die zurzeit meine Enkel sind.«

»Aha. Und möchtest du mir davon erzählen?«

»Nein«, erwiderte sie, stellte ihre Teetasse ab und schlang die Arme um seinen Hals. »Ich habe ein Geschenk für dich, und ich möchte, dass du es aufmachst.«

»Du hast ein Geschenk für mich? Du sollst doch nicht...«

Amüsiert funkelte Rhapsody ihn an. »Halt den Mund, mein Schatz«, sagte sie und lehnte sich vor, um ihn zu küssen. Ashe tat, wie ihm geheißen, und erwiderte den Kuss so sanft er konnte, obwohl er sich anstrengen musste, die Leidenschaft niederzukämpfen, die seine Seele zusammen mit einer überwältigenden Erleichterung durchströmte. Sie zog ihm das Nachthemd über die Schultern und blickte ihn mitfühlend an.

»Bitte mach dir keine Sorgen, dass du mir wehtun könntest, Ashe«, sagte sie, denn sie durchschaute seine Angst haargenau. Er schauderte, als die Erinnerung an die Stimme einer anderen Frau sein Herz durchflutete.

Keine Sorge, Sam. Du wirst mir schon nicht wehtun. Ganz bestimmt nicht.

Tränen standen in seinen Augenwinkeln, als er die Augen schloss, seinen Kopf an ihre Schulter lehnte und leise ihren Rücken streichelte. Behutsam zog er sie aus, zuckte aber beim Anblick der Verbände unwillkürlich zusammen und zog die Decke über sie beide. Rhapsody fasste sich etwas mühsam an den Hinterkopf und löste das schwarze Samtband, sodass ihr Haar locker über ihre Schultern fiel. Ashe seufzte und zog sie an seine Brust, hielt sie in seiner Armbeuge geborgen. Ungeduldig machte sie sich aus der Schlafhaltung los, setzte sich auf, liebkoste seine Brust und ließ ihre Hände dann weiter nach unten gleiten, während sein Herz unter ihrer Berührung zu rasen begann. Entschlossen packte er ihre Hände und hielt sie fest.

»Aria, bitte, ich glaube, wir sollten lieber schlafen.«

Schock und Enttäuschung traten auf Rhapsodys Gesicht. Ashes Herz zog sich zusammen, als er sah, dass sie sich zurückgewiesen fühlte, was er nie beabsichtigt hatte.

»Liegt es an den Verbänden? Oder willst du mich einfach nicht?«

Erregung kreiste in seinem Blut, seine Haut brannte, und sein Herz hämmerte. »Wie kannst du mich so etwas fragen?«, entgegnete er ungläubig und legte sanft ihre Hand auf den offensichtlichsten Beweis ihres Irrtums. »Ich möchte dir nicht wehtun, und ich weiß, dass du erschöpft bist.«

»Ich brauche es aber, dass du mich liebst«, erwiderte sie geduldig. »Bitte.«

Ashe begann zu zittern. »0 ihr Götter, du bist grausam, Aria. Ich möchte in dir sein, mehr als du es glauben kannst, aber ...«

»Ashe, du bist in mir, und ich möchte, dass du wieder gehst«, sagte sie, Ärger in der Stimme.

»Also bitte, muss ich dich erst auf Knien anflehen?«

Sein Widerstand war gebrochen. »Nein«, entgegnete er, tief aufatmend. »Nein, und ich kann nicht glauben, dass wir dieses Gespräch führen.« Er zog sie an sich und küsste sie mit all der Sehnsucht seiner Seele.

Er liebte sie sanft, hielt das wilde Begehren zurück, das als Ergebnis der überwältigenden Gefühle in dieser Nacht entstanden war: Furcht, Verlangen, Erleichterung und Freude, endlich wieder mit ihr vereint zu sein. Sie erwiderte seine Leidenschaft begierig, bewegte sich langsam und erweckte in ihm eine Lust, die ihn zu verzehren drohte. Als ein heftiges Zittern ihn überfiel, das bei seinen Zehen anfing und sich nach oben hin ausbreitete, nahm sie seine Hand und legte sie auf ihr Herz.

»Nimm sie zurück«, drängte sie und legte ihre Hand über seine. »Nimm deine Seele zurück, sie wartet hier auf dich.« Überrascht weiteten sich seine Augen, aber er konnte nicht mehr verhindern, dass die Woge der Erregung ihn überflutete. Er rang nach Atem, und Rhapsody sprach das Wort, welches den Teil seiner Seele, den sie in sich getragen hatte, befreite. Gleißendes Licht drang zwischen sie, leuchtete durch ihre Oberkörper hindurch und machte sie durchsichtig. Als Ashes Körper in ekstatischer Entladung starr wurde, verließ das Licht Rhapsodys Brust und wechselte hinüber in die seine. Auf dem Höhepunkt ihrer Lust stöhnte auch sie, und er hielt sie fest, bis sie sich wieder beruhigte, das Gesicht nass von Tränen des Glücks.

Seine Tränen vermischten sich mit ihren, als er spürte, wie sich die Teile seiner Seele wieder zusammenfügten. Die metaphysischen Kanten waren an manchen Stellen hart und scharf, und die Verunreinigungen durch die Herrschaft des F’dor stachen ein wenig, als sie mit dem Rest in Berührung kamen. Aber im Großen und Ganzen war alles weitaus einfacher, als er es erwartet hatte kein Kampf mit einem unwilligen Geist, der sich losreißen wollte und unter Kontrolle gebracht werden musste. Offenbar war die Seele rein gewaschen von den meisten, wenn nicht sogar allen früheren Verbindungen, und auch von dem Hass, der sie so lange umgeben hatte. Noch immer hortete sie zwar die hässlichen Erinnerungen an das, was der Rakshas getan hatte, aber sie hielten sich im Hintergrund, sodass Ashe warten konnte, bis er sich stark genug fühlte, um sie eingehender und sorgfältiger zu betrachten. Ashe sah hinunter auf die Frau, die er in den Armen hielt. Sie war das Gefäß gewesen, ihretwegen war das Seelenstück so rein geworden. Er war frei; das Böse war im Feuer von Rhapsodys Geist verbrannt, ein Geist, der rückhaltlos an ihn glaubte und ihn aus tiefstem Herzen liebte. Das alles stand in ihren Augen geschrieben, als sie zu ihm emporlächelte, und Ashe musste sich abwenden, von seinen Gefühlen überwältigt. Sie hatte den Teil seiner Seele neu benannt, ihm den Namen gegeben, den er gehabt hatte, bevor er ihm entrissen worden war.

»Geht es dir gut?«, fragte sie mit besorgter Stimme. »Habe ich dir wehgetan?«

Ashe seufzte und zog sie an sich, vergrub das Gesicht in ihrer schimmernden Haarmähne.

»Ja«, murmelte er in ihr Ohr. »Ja, das hast du. Du hast mich dazu gebracht, dich so sehr zu lieben, dass es wehtut.«

Er konnte ihr Lächeln spüren. »Gut«, flüsterte sie. »Dann sind wir wenigstens quitt.«

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