Die Grenzwächter von Tyrian waren ihr schon über eine Stunde gefolgt, als Rhapsody sich endlich entschloss, dem Spiel ein Ende zu machen. Wenige Meilen schon, nachdem sie sich von Ashe getrennt hatte, hatte sie gespürt, dass sie verfolgt wurde. Leise waren sie von den Bäumen herabgekommen, unsichtbar, um zu beobachten, wie Rhapsody pfeifend durch ihren Wald wanderte. Eigentlich hatte sie erwartet, dass sie sich bald zeigen würden, aber stattdessen waren sie ihr lautlos gefolgt, leichtfüßig wie der Wind. Wäre Rhapsody nicht in Einklang mit dem Lied des Waldes gewesen, hätte sie niemals bemerkt, dass jemand hinter ihr war.
Schließlich blieb sie mitten auf dem Weg stehen. »Wenn ihr euch wegen meiner Anwesenheit sorgt, dann zeigt euch und begrüßt mich«, sagte sie und blickte nacheinander zu den vier Stellen, an denen sich die Wächter, wie sie wusste, verbargen. »Ich komme in friedlicher Absicht.«
Einen Augenblick später stand einer der Wächter vor ihr, eine große, breitschultrige Lirin-Frau, mit großen mandelförmigen Augen von der gleichen Farbe wie das rehbraune Haar. Ihr Körper war schmal und hoch gewachsen, mit einer Haut, deren Schattierung von der Berührung durch die Sonne und die Elemente zeugte; insgesamt war sie eine beispielhafte Vertreterin ihrer Rasse. Sie hatte an der Stelle gestanden, an der Rhapsodys Blick zuletzt haften geblieben war.
»Ich bin Cedelia«, erklärte sie auf Orlandisch, der in Roland gängigsten Sprache. »Sucht Ihr etwas Bestimmtes?«
»Ja, eigentlich schon«, antwortete Rhapsody mit einem Lächeln. »Ich möchte Oelendra besuchen.«
Auf dem Gesicht der Frau war keine Reaktion auszumachen. »Dafür seid Ihr aber im falschen Teil von Tyrian.«
»Nun, kann ich von hier aus zu ihr gelangen?«
»Irgendwann schon«, antwortete Cedelia. Sie machte eine leichte Bewegung, und Rhapsody sah, dass sie einen Pfeil in ihren Köcher zurücksteckte. Bisher hatte sie nicht einmal bemerkt, dass die Lirin-Frau einen Bogen bei sich trug. »Ihr seid mehr als eine Woche von dort entfernt. Das Einfachste wäre, wenn Ihr Euch nach Westen wenden und den Weg durch die Stadt Tyrian nehmen würdet. Wer seid Ihr?«
Die Sängerin verneigte sich leicht. »Mein Name ist Rhapsody«, antwortete sie respektvoll.
»Wenn es Euch lieber wäre, können wir uns gern in der Lirin-Sprache unterhalten.«
»Welche Sprache auch immer für Euch am angenehmsten sein mag, ist mir recht.« Im Gesicht der Lirin-Frau war nichts von der Feindseligkeit zu erkennen, die Rhapsody so oft bei Menschen gegenüber Gemischtrassigen wahrgenommen hatte. Sie beugte sich leicht nach Osten und gab eine Reihe von vogelartigen Pfiffen von sich. Rhapsody hörte ein leichtes Rascheln in den Bäumen, mehr nicht. »Ich werde Euch nach Tyrian-Stadt begleiten.«
»Danke«, erwiderte Rhapsody. »Es ist gut, eine Führerin zu haben.« Cedelia deutete auf einen kaum sichtbaren Pfad, der vom Waldweg abzweigte, und Rhapsody folgte ihr in den Wald, mitten hinein in die Welt aus Liedern der Vögel und des Windes, der durch die Bäume von Tyrian wehte.
Beinahe die gesamte Reise über herrschte Schweigen. Ein paarmal versuchte Rhapsody, ein unverbindliches Gespräch anzufangen, und obgleich Cedelia ihr freundlich antwortete, gab sie sich nie die Mühe, die Unterhaltung aufrechtzuerhalten. Schließlich erinnerte sich Rhapsody daran, dass ihre Mutter eigentlich nur gesprochen hatte, wenn sie etwas Wichtiges zu sagen gehabt hatte; und so verfiel sie wie ihre Begleiterin in stille Zufriedenheit und begnügte sich damit, die Schönheit des in den Wald einkehrenden Frühlings zu betrachten. Inzwischen trugen die Bäume dicke Knospen, zartes Laub brach mit der Begeisterung eines Kinderlächelns aus ihnen hervor, grün und silbern, frisch nach dem langen Winterschlaf. Rhapsody spürte, wie ihr das Herz aufging, während sie so hinter ihrer schweigsamen Aufpasserin durch den Wald wanderte. Es hatte etwas Erfrischendes, hier zu sein, im Land des Volks ihrer Mutter, obgleich die Wald-Lirin natürlich keine Liringlas waren. Das Leben, das sie führten, hatte etwas Ehrliches, Einfaches; jedes Dorf, an dem sie vorbeikamen, machte einen fruchtbaren und friedlichen Eindruck, die Leute, denen sie begegneten, waren freundlich und schienen gut miteinander auszukommen. Hier herrschte Freude, oder zumindest etwas, das nahe daran war. Tyrian fühlte sich an wie ein Paradies. Rhapsody spürte, wie ihr inneres Feuer von Tag zu Tag stärker wurde.
Cedelia saß jede Nacht Wache. Zwar hatte Rhapsody angeboten, sich mit ihr abzuwechseln, aber Cedelia hatte ihr Angebot höflich angelehnt und erklärt, sie benötige keinen Schlaf. Zwar brauchte auch Rhapsody weniger Schlaf als ihre Bolg-Freunde und wesentlich weniger als Jo, aber selbst sie musste sich ein paar Stunden ausruhen, was bei Cedelia offenbar nicht der Fall war. So kroch sie jede Nacht unbeholfen unter den Augen ihrer Wächterin in ihre Deckenrolle. Sie hoffte nur, dass sie bei Oelendra willkommener wäre. Am vierten Tag setzte schwerer, prasselnder Regen ein, der auf der Haut wehtat. Sogar Cedelia hatte das Bedürfnis, Schutz zu suchen, und führte Rhapsody in eine Hütte, die diese nicht einmal gesehen hätte, wenn man sie darauf aufmerksam gemacht hätte. Im Innern war sie sparsam eingerichtet mit ein paar Feldbetten und Tischen; außerdem gab es einen Vorrat an getrockneten Lebensmittel. Cedelia öffnete eine Truhe und bot Rhapsody Streifen gepökelten Wildbrets an. Sie nahm es an, um nicht unhöflich zu erscheinen. Schließlich fasste sie den Entschluss, es doch noch einmal mit einem Gespräch zu versuchen.
»Was ist das hier für ein Ort?«
Cedelia blickte von ihrem Essen auf. »Eins der Häuser, welche die Grenzwächter benutzen.«
»Es ist gut versteckt. Ich hätte es niemals gefunden.«
»Genau das ist der Punkt, so soll es sein.«
Ihr kühler Ton nahm Rhapsody den Wind aus den Segeln. »Habe ich Euch irgendwie gekränkt, Cedelia?«
»Ich weiß nicht. Habt Ihr mich gekränkt?« Die rehbraunen Augen verengten sich leicht, sonst veränderte sich ihr Gesichtsausdruck nicht. Sie nahm noch einen Bissen von dem Fleisch.
»Ich verstehe Euch nicht«, entgegnete Rhapsody, und das Blut stieg ihr in die Wangen. »Bitte erklärt mir, was Ihr damit meint, Cedelia. Wir reisen seit vier Tagen zusammen, und ich habe immer noch keine Ahnung, was Euch stört.«
Cedelia legte das Essen beiseite. »Man hat Euch vor fünf Tagen am Rand des Außenwaldes zusammen mit einem Mann in einem grauen Kapuzenumhang gesehen.«
Rhapsody blickte die Lirin-Frau verwundert an. »Ja.«
»Wer war das?«
Rhapsodys Herz begann zu pochen. »Warum?«
»Ein Mann in einem grauen Kapuzenumhang hat in derselben Nacht am Ostrand des Außenwalds einen Überfall auf ein Lirin-Dorf angeführt. Die Siedlung ist niedergebrannt.«
Rhapsody sprang auf die Füße. »Was?«
Blitzschnell richtete die Lirin-Frau einen Bogen mit eingelegtem Pfeil auf ihr Herz. »Setzt Euch wieder hin!« Rhapsody gehorchte. »Vierzehn Männer, sechs Frauen und drei Kinder sind bei dem Überfall ums Leben gekommen.«
Rhapsody begann zu zittern. »Himmel.«
»Nein, der war es ganz sicher nicht.« Cedelias Stimme triefte vor Gift. »Wer war dieser Mann?«
»Sein Name ist Ashe.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Ashe? Ashe was?«
Nachdenklich blickte Rhapsody durchs Fenster in den Wald hinaus. »Das weiß ich nicht.«
»Gehört es zu Euren Gepflogenheiten, Männer zu küssen, die Ihr nicht kennt?«
Sie sah Cedelia ins Gesicht. »Nein.«
Cedelia legte einen zweiten Pfeil neben dem ersten in den Bogen. »Warum seid Ihr wirklich hier?«
Rhapsodys Blick wurde hart. »Ich habe Euch die Wahrheit gesagt. Ich suche Oelendra.«
Cedelia starrte sie weiter unverwandt an. »Was habt Ihr vor?«
»Auch ich habe Euch die Wahrheit gesagt. Ich begleite Euch nach Tyrian-Stadt. Was dann geschieht, muss Rial entscheiden.«
Als sie das Grenzhüterhaus verließen, steckte Cedelia die Pfeile in den Köcher zurück und nahm den Bogen wieder über die Schulter.
»Man hat Euch von allen Seiten im Schussfeld. Also wäre es ausgesprochen dumm, wenn Ihr Euch widerspenstig zeigtet.«
Rhapsody seufzte. Seit sie wusste, dass sie die ganze Zeit über verfolgt worden waren und dass die Lirin glaubten, sie wäre für den hinterhältigen Angriff auf das Dorf mit verantwortlich, war ihr Eindruck vom Paradies ziemlich verblasst. An Ashe mochte sie nicht einmal denken.
In den ersten freudigen Stunden der Wanderung, als sie noch allein gewesen war und sich mithilfe ihrer Musik mit dem Wald ausgetauscht hatte, hatte sie einiges über ihn erfahren. Der Wald von Tyrian erstreckte sich von Osten nach Westen über hundert Meilen weit; von Norden nach Süden maß er annähernd zweihundert Meilen. Im Westen grenzte er ans Meer, im Norden an die Küstenprovinz Avonderre und im Süden an das Gebiet der Lirinwer, der Lirin des Flachlands.
Der wundervolle Eindruck, den sie von der aus der Not geborenen Einstellung der Lirin gewonnen hatte, die in Tyrian lebten, hatte sich durch all das bestätigt, was sie vom Wald selbst erfahren hatte. Es kam ihr regelrecht makaber vor, dass sie nun selbst die Gefangene unsichtbarer Wärter war, unterwegs in die Stadt, wo jemand namens Rial ein Urteil über sie fällen würde. Elynsynos hatte ihn nicht erwähnt, da war sie sich sicher, und Ashe ebenso wenig. Beim Gedanken an ihn wurde Rhapsody schon wieder ganz kalt.
»Hier entlang«, sagte Cedelia höflich. Rhapsody schulterte ihren Tornister und folgte ihr den schlammigen Pfad entlang, während das Regenwasser von den frischen Blättern tropfte wie Tränen.
Nach zwei weiteren Tagen, in denen sie schweigsam durch den dichten Wald gewandert waren, kam die Stadt in Sicht. Rhapsody hatte die Wachtürme schon einige Zeit vorher gesehen, ehe sie endlich begriff, worum es sich handelte: Zahlreiche uralte Heveralt-Bäume, Verwandte des Großen Weißen Baums, waren gleich einer Wand auf einer hügelartigen Anhöhe gepflanzt und an den Stämmen mit einer breiten Barrikade aus Stein und Holz verstärkt worden. Von dort führten Leitern zu den Plattformen hinauf, welche die Wipfel miteinander verbanden.
Diese Mauer erstreckte sich nach Norden, so weit das Auge reichte; Rhapsody schätzte, dass Tyrian-Stadt in etwa so groß sein mochte wie Ostend. Vor der Mauer befand sich ein breiter, steiler Graben, dessen Grund mit glitschigem Moos bedeckt war. Hunderte von Lirin-Wachen, Männer wie Frauen, patrouillierten auf den miteinander verbundenen luftigen Plattformen, so mühelos, als gingen sie auf der Erde. Ihr Anblick erfüllte Rhapsody mit Staunen und mit Trauer. Die Aussicht, dass man sie an diesem wundervollen Ort willkommen hieß, wurde mit jedem Schritt geringer.
Etwa eine halbe Meile vor der Lichtung, welche die Stadt umschloss, bog Cedelia vom Weg ab und führte Rhapsody wieder in ein verstecktes Gebäude, ganz ähnlich dem der Grenzwächter. Allerdings war es größer und innen reicher ausgestattet, ohne Schlafgelegenheiten, aber mit mehreren langen Tischen und zahlreichen Stühlen. In jedem der Fenster befand sich ein Armbrustgestell mitsamt einem Behälter, der aussah wie ein Blumenkasten und hunderte von Bolzen enthielt. Ein beeindruckend bestücktes Waffenregal nahm den Rest der Wand nahe der Tür ein. Cedelia legte einen Pfeil in ihren Bogen und hielt die Waffe schussbereit, ohne sie jedoch auf Rhapsody zu richten.
»Setzt Euch«, sagte sie.
Rhapsody ließ ihren Tornister auf den Tisch fallen. Dann zog sie sich einen roh behauenen Kiefernstuhl heran, setzte sich und seufzte tief. So wartete sie mit ihrer Wächterin über eine Stunde lang. Gerade als sie um ein Glas Wasser bitten wollte, ging die Tür auf, und ein großer, silberhaariger Mann trat in das Langhaus. Er trug wie Cedelia Kleidung in den Farben des Waldes und darüber einen dunkelroten Umhang mit einer polierten Holzschnalle am Gürtel. Sein Gesicht war faltig vom Alter, aber sonnengebräunt und gesund, und seine Augen lächelten, als er Rhapsody anblickte. Dann wandte er sich an ihre Bewacherin und nickte ihr höflich zu.
»Danke, Cedelia.« Nun legte sie ihren Bogen ab und steckte den Pfeil wieder in den Köcher, den sie auf dem Rücken trug. Leise und flink zog sie sich zurück und schloss die Tür hinter sich.
Der Mann durchquerte das Zimmer und blieb vor Rhapsody stehen. »Wie geht es dir?«, erkundigte er sich, streckte ihr die Hand entgegen und half ihr beim Aufstehen. »Ich bin Rial. Ich hoffe, Cedelia hat dich gut behandelt.«
»Ja, danke. Mein Name ist Rhapsody.«
Rial musterte sie aufmerksam, aber nicht aufdringlich. Dann ließ er ihre Hand los und zog den Stuhl neben dem ihren heran. Rhapsody setzte sich wieder; ihr Rücken tat ihr weh, weil das Holz so hart war. »Du hast eine wunderschöne Stimme«, bemerkte Rial, während er ebenfalls Platz nahm.
Überrascht blickte Rhapsody ihn an. »Wie bitte?«
»Ich habe dich vor einer Woche oder so singen gehört. Zumindest nehme ich an, dass du es warst.«
»Ihr seid uns gefolgt?«
»Nein«, erwiderte Rial mit einem Lächeln. »Ich war hier in der Stadt. Doch in Tyrian gibt es Dinge, die Entfernungen mühelos überwinden. Musik von der Art, wie du sie gemacht hast, gehört dazu.«
Rhapsody wurde rot vor Verlegenheit. »Bedeutet das, dass alle mich gehört haben, oder nur Ihr allein?«
Sein Lächeln wurde noch wärmer. »Ich fürchte, alle haben es gehört. Doch du solltest dich deswegen wahrlich nicht schämen. Vielleicht hat der Wald auf diese Weise seinen Leuten etwas Wichtiges mitgeteilt. Tyrian ist mehr als nur ein Wald, es ist eine lebendige Einheit, es hat eine Seele. Dein Gesang hat die Seele von Tyrian auf eine Art erfreut, wie sie noch nie zuvor erfreut worden ist. Deshalb hat Tyrian auch beschlossen, die Musik mit seinen Leuten zu teilen.«
Unbeholfen strich sich Rhapsody mit der Hand durchs Haar. »Nun, ich werde das im Gedächtnis behalten, ehe ich den Mund das nächste Mal aufmache.«
»Hoffentlich nicht«, entgegnete Rial. »Es wäre schade, wenn du Hemmungen bekämst wegen etwas, das den Menschen deines Blutes von Nutzen sein könnte. Du bist eine Liringlas, nicht wahr?«
»Meine Mutter war eine Liringlas.«
»Ja, das habe ich mir gedacht. Es ist mir eine Ehre, dich kennen zu lernen, Rhapsody. Ich habe bisher nur einmal Liringlas-Besucher gehabt, Abkömmlinge der Cymrer, die aus Manosse kamen, um dem Großen Weißen Baum ihre Ehrfurcht zu erweisen; sie haben ihre Reise hier unterbrochen und Königin Terrell ihre Aufwartung gemacht.«
»Dann ist Königin Terrell hier die Herrscherin?«
»Das war sie einmal«, antwortete Rial, und seine dunklen Augen glänzten. »Doch sie ist seit dreihundert Jahren tot. Auch die Herrschaft ihres Sohnes ist bereits vorüber; er ist jung gestorben und hat keinen Erben hinterlassen.
Im Augenblick haben die Lirin keinen Herrscher. Ich bin Reichsverweser. Neben mir gibt es noch drei weitere, die als Verbindung zu den anderen Lirin-Gruppen dienen, welche ebenfalls Untertanen der Königin waren: die Lirinwer der Ebenen im Südosten, die See-Lirin um Südwesten und der manossische Teil des Volkes. Die Manosser haben ihre eigene Regierung, betrachten sich aber letztendlich als Bürger Tyrians; zumindest war es so, als es hier noch einen Herrscher gab. Jetzt sind wir ein geteiltes Volk, fast wie Roland. Wirklich eine Schande.«
Rhapsody wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte erwartet, wegen des Überfalls und der Plünderung verhört zu werden, und nun hielt ihr der Reichsverweser persönlich einen Vortrag über die Verhältnisse in Tyrian. Müde stützte sie die Ellbogen auf den Tisch und legte die Stirn auf die Hand.
Rial stand auf und ging zur Tür. Dort stieß er einen seltsamen Pfiff aus, und einen Augenblick später kam ein Wächter mit einem Wasserschlauch. Rial dankte ihm und brachte Rhapsody das Wasser.
»Hier ... Ich verstehe, dass all das sehr viel für dich ist. Trink nur und ruhe dich ein wenig aus.«
Mit einem Lächeln nahm Rhapsody den Schlauch entgegen. »Danke. Ihr habt Recht, ich bin geradezu überwältigt. Es tut mir sehr Leid, von dem Überfall auf das lirinsche Dorf zu hören, aber ich hatte nichts damit zu tun, wirklich.«
Rial nickte. »Das habe ich auch nicht angenommen. Solche Grenzüberfälle gibt es schon seit Jahren, Rhapsody; du bist einfach nur zu einem ungünstigen Zeitpunkt nach Tyrian gekommen. Was kannst du mir über deinen Gefährten berichten?«
Rhapsody dachte kurz nach. Selbst nach all den Monaten in diesem neuen Land war sie noch immer unsicher, wem sie vertrauen konnte. Ashe hatte sie gebeten, seine Verbündete zu sein, doch wenn sie ihn unbeabsichtigt nach Tyrian geführt hatte und der Überfall ihm anzukreiden war, dann trug sie ebenfalls die Verantwortung dafür. Sie schuldete es ihren Blutsverwandten, den Angreifer zu finden.
Andererseits war sie möglicherweise dafür verantwortlich, dass ein Unschuldiger in böse Hände ausgeliefert wurde, wenn Rial und die Lirin aus irgendeinem Grunde in korrupte Machenschaften verwickelt waren, die mit dem von Elynsynos erwähnten Dämon zu tun hatten. Herzog Stephen hatte erzählt, dass seine Frau bei einem brutalen Überfall von Lirin getötet worden war. Achmeds Politik der völligen Isolation, bei der man niemandem außer sich selbst traute, erschien ihr plötzlich sehr vernünftig.
»Über ihn kann ich leider nicht sehr viel berichten. Er nennt sich Ashe und hat mich von Ylorc ich meine von Canrif hierher geführt. In der Zeit, die wir gemeinsam verbracht haben, hat er keinerlei Anstalten gemacht, mir oder sonst jemandem Schaden zuzufügen. Er ist stets in Umhang und Kapuze unterwegs. Ich habe nicht vor, ihn wieder zu sehen.«
Wieder nickte Rial. »Und warum bist du nun nach Tyrian gekommen?«
»Ich suche Oelendra.«
»Würde es dir etwas ausmachen, mir den Grund dafür zu nennen?«
Rhapsody sah ihm offen ins Gesicht. »Nein, das macht mir nichts aus. Ich hoffe, dass sie mich den Umgang mit dem Schwert lehrt.«
Nachdenklich lehnte Rial sich zurück. »Wie hast du von Oelendra erfahren? Für gewöhnlich lehrt sie nicht mehr außerhalb von Tyrian.«
Rhapsody dachte an Elynsynos und lächelte. »Jemand hat mir gesagt, sie sei die beste Ausbilderin für das Schwert, das ich trage.«
»Du hast also ein besonderes Schwert?«
»Ja.«
»Interessant. Ich bin selbst ein Schwertliebhaber. Darf ich einen Blick auf deines werfen?«
Kurz überlegte Rhapsody, ob es wirklich klug wäre, seine Bitte zu erfüllen, doch dann entschied sie sich, es zu wagen. Allerdings stellte sie sich darauf ein, sich im Notfall den Weg aus dem Langhaus freikämpfen zu müssen. Rial sah aus wie ein ernst zu nehmender Gegner, und sie würde möglicherweise ihr ganzes Feuerwissen zu Hilfe nehmen müssen, um ihm zu trotzen.
»Nun gut«, sagte sie und zog die Tagessternfanfare.
Mit einem blendenden Strahl, der die Hütte mit weißem Licht erfüllte, kam das Schwert zum Vorschein; dann leckten die Flammen nur noch bis über die glühende Klinge. Rials Augen wurden groß, und er erhob sich langsam, unfähig, den Blick von der Waffe loszureißen.
»Die Tagessternfanfare«, sagte er leise, und seine Stimme war voller Ehrfurcht.
»Ja.«
Nach einer ganzen Weile gelang es ihm dann doch, die Augen abzuwenden, und er starrte Rhapsody an. »Du bist die Iliachenva’ar.«
»Vermutlich, falls die Trägerin des Schwertes so genannt wird«, erwiderte Rhapsody und hoffte sehr, dass sie nicht respektlos klang.
Wieder verfiel Rial in staunendes Schweigen. Endlich sprach er wieder.
»Ich werde dich zu Oelendra führen, und zwar jetzt sofort.«