Der Kessel selbst war unverändert geblieben. Dem Berg war der Tod nicht fremd; Canrif und später Ylorc war nach so mancher Niederlage Zeuge von Leichenwachen gewesen, und auch etliche brutale Morde waren hier ausgeheckt worden. Für Achmed jedoch war es das erste Mal, dass er hier im Halbdunkel jemanden am Leben zu erhalten versuchte. Unbewusst ging er dabei ganz ähnlich vor, als plante er einen Mord. Immer wieder ging er die Fakten durch, die zahllosen Einzelheiten: wie es dazu gekommen war, die Jagd, das Handgemenge, die Stelle der Wunden, wie das Blut aus Rhapsodys Körper entwichen war. Auch einen Mord hatte er stets in allen Einzelheiten ausgeklügelt, und so versuchte er jetzt, die einzelnen Schritte zusammenzufügen, wie Rhapsody überleben würde. Aber es zeigte sich kein Erfolg.
So leise es ihm möglich war, näherte sich Grunthor der Tür und klopfte behutsam an. Als er keine Antwort bekam, trat er einfach ein.
Der Raum war dunkel, abgesehen von dem spärlichen Licht einiger Duftkerzen und dem gelegentlichen Aufblitzen der überall im Zimmer verteilten, seltsam schimmernden Weinflaschen. Eine davon hatte Grunthor auch jetzt in der Hand; sacht schloss er die Tür hinter sich und betrachtete einen Augenblick das flackernde Gefäß, bevor er sich Achmed näherte, der auf dem Stuhl neben dem Bett saß. Seit vier Tagen und Nächten hatte er diesen Platz nicht verlassen.
»Herr?«
»Hmmm?«
»Ich hab frische Glühwürmchen mitgebracht. Die anderen sind doch bestimmt allmählich müde.«
Achmed antwortete nicht.
»Irgendwelche Veränderungen?«
»Nein.«
Grunthor blickte auf Rhapsody herab; ob sie schlief oder bewusstlos war, ließ sich schwer sagen. Genau genommen hätte er im Moment auch nicht schwören können, ob sie überhaupt noch am Leben war. Ihre für gewöhnlich rosige Haut war blass wie die Muschel, die sie vor langer Zeit am Meeresstrand gefunden hatte, und in dem riesigen Bett wirkte sie winzig klein. Schon oft hatte er sie wegen ihrer zierlichen Statur geneckt, aber im Alltag vermittelte sie stets den Eindruck von Kraft und Vitalität. Jetzt dagegen erschien sie so zerbrechlich und zart wie ein kleines Mädchen.
Achmed setzte sich anders hin. »Hast du etwas von Ashe gehört?«
»Nein, noch nicht, Herr.«
Der Dhrakier stützte das Kinn auf den Handballen und verfiel wieder in Schweigen. Grunthor stellte sich etwas bequemer hin.
»Soll ich nich mal ein Weilchen bei ihr bleiben, Herr? Würd ich gern, dann könntest du ein bisschen schlafen.« Achmed lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Noch immer antwortete er nicht. Grunthor wartete ab. »Wäre das dann alles, Herr?«, fragte er schließlich.
»Ja. Gute Nacht, Grunthor.«
Grunthor stellte die Weinflasche auf dem Stein ab, der als Nachttisch diente, und griff dann unters Bett, um die heißen Steine, die im Zimmer als einzige Wärmequelle dienten, umzudrehen. Achmed hatte darauf bestanden, dass der Raum geheizt und beleuchtet wurde, ohne den Kamin anzuzünden, aus Angst, dass der Torfrauch Rhapsody schaden könnte. Von Grunthor stammte die Idee mit den Glühwürmchen, und er hatte die Firbolg-Truppen losgeschickt, um sie zu sammeln. Im Frühherbst war das sowieso eine schwierige Aufgabe, und der Anblick der großen Ungeheuer, die in klappernder Rüstung mit Weinflaschen über die Felder marschierten und eifrig nach schwebenden Insekten haschten, hätte Rhapsody bestimmt zum Lachen gebracht. Grunthor gab ihr einen Kuss auf die Stirn und verließ dann ohne ein weiteres Wort das Zimmer.
Achmed fuhr fort, sie schweigend zu beobachten. Nach etwa einer Stunde kamen die Firbolg-Ärzte herein, mit Heilkräutern, frischen heißen Steinen und Stapeln sauberer Musselintücher, die als Verbandsmaterial dienten. Leise und respektvoll versahen sie ihre Arbeit und verließen den Raum, sobald sie fertig waren.
Als sie weg waren, zog Achmed Rhapsody vorsichtig aus, badete ihre Wunden, wechselte die Verbände und zog ihr ein frisches Hemd an. Früher hatte er sich immer darüber geärgert, dass es Rhapsody so wichtig war, die Firbolg an ihrem Wissen teilhaben zu lassen, Gazeverbände gegen die Infektionsgefahr in Kräuteraufgüssen einzuweichen oder den Verwundeten vorzusingen, um ihre Schmerzen zu lindern. Nun musste er zugeben, dass die Prozeduren, die sie ihnen und auch ihm gezeigt hatte, sehr wahrscheinlich das waren, was sie am Leben erhielt.
Er beugte sich vor, stützte die Stirn in die Hand und sah hinunter auf die Wellen goldener Haare, die wie ein sonnenbeschienenes Meer ihr Kissen umgaben. Ganz gegen seinen Willen tauchte in ihm eine Erinnerung auf, das erste von zahlreichen Gesprächen über ihre Bemühungen, Kranke zu heilen.
So kann man auch den Abend verbringen, hatte er genörgelt. Ich bin sicher, die Firbolg wissen deine Güte zu würdigen und werden sich, wenn du einmal in Not bist, bestimmt revanchieren.
Was soll das heißen?
Deine Mühen werden dir nicht gedankt werden. Wer sollte dir ein Lied singen, wenn du verletzt bist oder Schmerzen leidest?
Nun, ich bin mir sicher, das wirst du dann sein.
Doch diese Erinnerungen vermochten ihn jetzt nicht mehr zu belustigen. Er erinnerte sich, wie Rhapsodys Augen im Feuerschein geleuchtet hatten, wie sie gelächelt hatte, als wüsste sie irgendetwas. Das wirst du dann sein.
Achmed legte seine Finger auf ihr Handgelenk, dann auf ihren Hals und fühlte ihren Puls, um zu prüfen, ob er stärker geworden war. Er war spürbar, kämpfte und hielt sich wacker, aber Achmed kam er immer noch viel zu schwach vor.
Nach dem Kampf mit dem Rakshas und Rhapsodys Verwundung waren er und Grunthor mit ihr nach Sepulvarta geritten, weil das der nächste Ort war, an dem es Heiler gab. Beim Anblick zweier Firbolg-Reiter, die, eine sterbende Frau in den Armen, den Hügel zum Pfarrhaus hinaufgaloppierten, hatte sich Panik verbreitet.
Auch die Priester hatten Rhapsody nicht wieder zu Bewusstsein bringen können, und selbst der Patriarch, der eilig aus seiner Zelle im Hospiz herbeigetragen worden war, hatte ihren Zustand lediglich zu stabilisieren vermocht. An der Verzweiflung in den Augen des alten Mannes hatte Achmed erkannt, dass er sie nicht heilen konnte, weil ihm der Ring fehlte, und wieder einmal hatte er Ashe im Stillen verflucht. Alle Bemühungen der Kirchenleute hatten weiter nichts gebracht, als Rhapsody transportfähig zu machen, und so hatten die beiden Freunde sie schließlich, noch immer bewusstlos und schwach, zurück nach Ylorc gebracht. Die Heiler aus den entlegeneren Gebieten, nach denen Achmed geschickt hatte, hatten ihm höflich geraten, sich auf das Schlimmste gefasst zu machen, und sich angesichts seiner zornigen Reaktion schnellstens wieder zurückgezogen.
»Komm schon, Rhapsody«, murmelte er jetzt, das Gesicht von der Entmutigung verzerrt.
»Zeig es ihnen, diesen Narren; zeig ihnen, dass du nicht die zarte Metze bist, für die sie dich halten zeig ihnen, dass du aus einem anderen Holz geschnitzt bist, wie wir beide genau wissen.«
Mit der Hand strich er über ihr weiches Haar und verbarg den Kopf dann in der Ellbogenbeuge. Als das Dämmerlicht Zimmer noch schwächer wurde, sah er plötzlich ihr Gesicht vor sich, blutend und zerkratzt vom ersten Kampf an der Wurzel, die Augen blitzend im feurigen Dunkellicht des Wegs durch die Erde, als sie ihm den Kräuterumschlag aufs Handgelenk gelegt und ihr erstes Lied der Heilung angestimmt hatte.
Musik ist nichts anderes als ein Wegweiser durch die Schwingungen, aus denen die Welt gemacht ist. Wer einen solchen Wegweiser hat, findet sich überall zurecht. Achmed rückte noch näher an ihr Bett, so nahe er konnte, ohne dass es ihr unbequem zu werden drohte. Er beugte den Kopf über ihre Brust und spürte ihren Herzschlag in seiner Haut, den Rhythmus ihres Atems. Aus unterschiedlichen Winkeln betrachtete er ihr Gesicht und hielt Ausschau, ob sie vielleicht schon nicht mehr ganz so blass war, ob ihre eingefallenen Wangen vielleicht schon ein klein wenig von ihrer früheren Form angenommen hatten. Unendlich sorgfältig suchte er mit dem Finger die Linie des Blutverlusts unter ihren Augen und kam auf einer verirrten Haarsträhne am Rand ihrer Wange zur Ruhe.
»Rhapsody«, sagte er mit feierlicher Stimme, »ich hatte nur zwei Freunde in den beiden Welten. Ich bin nicht willens zuzulassen, dass du das änderst.«
Wer sollte dir ein Lied singen, wenn du verletzt bist oder Schmerzen leidest?
Nun, ich bin mir sicher, das wirst du dann sein.
Das Ritual, mit dem er den Rakshas gelähmt und gebannt hatte, war das einzige Lied, das er jemals gesungen hatte. Tief aus seinem Bauch drang es hervor, summte durch seine Herzkammern, seine Kehlen und Stirnhöhlen, bis es durch den Schädel nach außen drang. Die Melodie war nicht seine eigene, sondern stammte aus grauer Vorzeit, als seine Rasse geboren ward. Die Großmutter hatte ihm das Geheimnis anvertraut. Erst indem er es durchgeführt hatte, hatte er erfahren, wie es funktionierte.
Es besaß eine Zweiheit. Die uralte Melodie, die Tonfolge, War die Schlinge für die dämonische Seite des F’dor und hielt ihn gegen seinen Willen auf der Schwelle zwischen Erde und Unterwelt fest, in die er fliehen wollte.
Aber der menschliche Wirt war ebenfalls empfänglich für die Klänge; die Schwingungen riefen das Blut ins Gehirn und ließen es anschwellen. Der Rakshas war ein künstliches Gebilde und nicht wirklich lebendig. Hätte er aber den F’dor in seinen Bann geschlagen, den Dämonengeist, der den Körper seines menschlichen Wirts bewohnte, wäre alles anders gewesen. Wenn er allein mit einem solchen Wesen wäre und das Bannritual lange genug aufrechterhalten könnte, würde die gesteigerte Blutzufuhr den Kopf des Feindes irgendwann zum Platzen bringen. Dies war das einzige Lied, das er kannte, und der Heilungsakt, den Rhapsody womöglich brauchte. Achmed hatte keine Ahnung, ob er sie damit am Ende umbringen würde.
Weißt du, Grunthor, du könntest auch beim Heilen helfen. Du singst doch gern.
Du weißt doch, worum sich meine Lieder drehen, Gnädigste. Im Allgemeinen jagen sie den Leuten eher einen Schrecken ein. Und ich glaub nich, dass man mich je mit einem Sänger verwechseln könnte. Ich hab ja überhaupt keine Übung.
Der Text spielt überhaupt keine Rolle. Es kann jede Art von Lied sein. Wichtig ist nur, dass sie an dich glauben. Die Bolg haben dir Treue geschworen. Du bist ihre Version von Dero untertänigst zu gehorchender Autorität. In gewisser Weise haben sie dich benannt. Es ist ganz gleich, was du singst, du musst nur von ihnen erwarten, dass sie gesund werden. Und das werden sie. Ich habe immer behauptet, dass Achmed eines Tages das Gleiche für mich tun wird.
Leise fluchte Achmed vor sich hin, schimpfte in jeder Sprache, die er kannte. »Das hast du schlau eingefädelt, stimmt’s? Aber hat sich das Risiko wirklich gelohnt für das bisschen Unterhaltungswert? Ich hätte dich da draußen verbluten lassen sollen, das hast du ehrlich verdient dafür, dass du mir so was zumutest.« Seine Hand zitterte, als er ihr sanft eine Haarlocke aus dem Gesicht strich.
Nun, ich bin mir sicher, das wirst du dann sein.
Die verwelkte Blüte war prall geworden, hatte sich in seiner Hand gestreckt, als er den wortlosen Ruf ihres Namens gesungen hatte. So etwas kann eine Benennerin gewissermaßen von Amts wegen. Nichts, kein Begriff, kein Gesetz ist so stark wie die Kraft, die im Namen eines Dings steckt. Mit dem Namen, steht und fällt unsere Identität. Er ist unsere Essenz, unsere persönliche Geschichte, und manchmal kann er das, was wir sind, noch einmal machen, egal, wie sehr wir uns auch verändert haben mögen.
Achmed seufzte. Sie hatte ihn dazu verpflichtet, und er hatte es damals nicht einmal gemerkt. Sie hatte ihm den Schlüssel gegeben, wie er ihr helfen konnte, und das ausgerechnet in dem Augenblick, als er sich über sie hatte lustig machen wollen. Ob es ihm nun gefiel oder nicht, er war zu ihrem Heiler bestimmt.
Verstohlen sah er sich im Zimmer um, und als er sich vergewissert hatte, dass sie allein waren, räusperte er sich und versuchte einen musikalischen Ton hervorzubringen, aber er konnte sich nicht überwinden. »Verdammter Hrekin, das war wirklich eine brillante Idee«, brummte er und funkelte sie wütend an. »Du verlangst musikalische Höchstleistungen von jemandem, der in seinem ganzen Leben nur ein einziges Mal gesungen hat. Warum fragst du nicht gleich einen Felsbrocken? Da hättest du sicher mehr Glück.« Verzweifelt durchforschte er sein Gedächtnis nach einem anderen Lied.
Das obszöne Marschlied, mit dem Grunthor die neuen Rekruten beglückt hatte, fiel ihm ein und zauberte ganz unerwartet ein Lächeln auf sein Gesicht. Ein paarmal hatte Rhapsody es mit Jo zum Besten gegeben und dabei den Akzent des Sergeanten ins Komische überzogen. Doch sein Lächeln erlosch, als er an Jo dachte, die jetzt bleich und leblos in der stillen Kammer lag, welche das einzige Heim gewesen war, das sie als Straßenkind je gekannt hatte. Wie Rhapsody so dalag, war der Unterschied zwischen den beiden derart gering, dass Achmeds Hände vor Angst ganz feucht wurden.
Er hatte in seinem Leben genug vom Tod gesehen und war so oft sein Überbringer gewesen, dass er ihn längst nicht ^eh fürchtete. In ihrer gemeinsamen Zeit hatten Grunthor und er immer wieder dem Ableben des jeweils anderen ins Gesicht schauen müssen, und ihnen beiden waren die Risiken des Spiels, das sie spielten, stets klar gewesen. Aber dies hier war anders. Bei jedem einzelnen Blutstropfen, mit dem das Leben aus Rhapsody floss, hätte er schreien können, und während sie im vollen Galopp auf Sepulvarta zugeprescht waren, hatte er Rhapsodys Wunden mit beiden Händen zusammengepresst, das Pferd nur mit den Knien lenkend. Die Angst, die er bei dem Gedanken empfunden hatte, sie zu verlieren, war für ihn selbst die größte Überraschung gewesen. Ein Lied schien ein geringer Preis dafür zu sein, sie auf dieser Seite des Lebenstors festzuhalten. Achmed holte tief Atem. Stockend, mit kratzigem Vibrato und einem rhythmischen Klicken in der Stimme sang er ihr ein Lied vor, das er sich selbst ausgedacht hatte, ein Lied, dessen Herkunft und Bedeutung ihm vollkommen unbekannt war. Hätte es eine Welt gegeben, in der das Rumpeln eines Steinschlags als Wiegenlied diente und das Krachen von Holzbalken die Wütenden besänftigte, wäre es dort vielleicht als wunderschöne Weise geschätzt worden. Mit drei Stimmen sang er, eine davon war scharf und schnell, eine brummte tief und leise, und eine formte Worte.
Mo haale maar, mein Held ist fort
Die Sternenwelt ist geworden ein finstrer Ort
Kummer, Schmerz und Verlust, ich kann nicht genießen
Mein Herz tut weh, die Bluttränen fließen
Um die Trauer zu enden, durch die Welt ich brause
Meine uralten Ängste, sie führn mich nach Hause.
Unter den Decken begann Rhapsody sich zu rühren, und Achmed hörte ein schmerzliches Stöhnen. Dann spürte er kleine, weiche Finger mit schwieligen Spitzen über seine Hände gleiten. Rhapsody atmete tief ein, als hätte sie soeben ein sehr schwieriges Vorhaben gefasst.
»Achmed?«
»Ja?«
Ihre Stimme war nur ein schwaches Flüstern. »Wirst du weiter singen, bis es mir besser geht?«
»Ja.«
»Achmed?«
»Was?« Er beugte sich über sie, damit ihm keins ihrer Worte entging.
»Es geht mir schon besser.«
»Offenbar aber noch nicht viel«, meinte er und grinste über die versteckte Beleidigung. »Aber du bist immer noch ein genauso undankbares Gör wie früher. Das ist mir ein schöner Dank an jemanden, der dir gerade den Lebenswillen zurückgegeben hat.«
»Du hast vollkommen Recht, genau das hast du getan«, erwiderte sie langsam und mühevoll.
»Jetzt, da du mir einen Vorgeschmack davon verschafft hast, wie wie es in der Unterwelt zugeht...«
Erleichtert lachte Achmed auf. »Du hast es verdient. Willkommen im Leben, Rhapsody.«
Am folgenden Abend hob Grunthor Rhapsody behutsam aus dem Bett und trug sie hinaus auf die Heide. Dort wartete Achmed bereits auf sie; der Scheiterhaufen war aufgeschichtet, alles war vorbereitet. Der Sergeant stützte sie, während der Firbolg-König das Schwert für sie zog und ihr half, es emporzurecken.
Ihr Blick verharrte auf der in weiße Tücher gehüllten Gestalt, die auf dem frostblasigen Holzhaufen lag, und suchte dann im Abendhimmel den Stern, den sie anrufen wollte.
Wenn du deinen Leitstern findest, wirst du nie verloren sein. Niemals. Endlich fand sie einen, den sie kannte, Prylla, einen Abendstern, den die Lirin in diesem Land verehrten. Er war nach dem Windkind benannt, einer Waldgöttin der alten Legenden, von der erzählt wurde, dass sie ihre Lieder in den Nordwind gesungen habe, in der Hoffnung, ihre verlorene Liebe wieder zu finden. Nur der Wind hatte ihr geantwortet. Rhapsody fand die Legende für Jo sehr passend. So gut sie konnte, klärte sie ihre Gedanken, richtete die Tagessternfanfare gen Himmel und sprach den Namen des Sterns.
Ein Licht, heller als die drei es jemals gesehen hatten, das sie blendete und über die Felder bis ins Tal hinein strahlte, fiel über den Abhang. Es berührte die Berge, leuchtender als die untergehende Sonne. Dann schoss donnernd eine sengende Flamme vom Himmel, heißer als das Feuer im Zentrum der Erde, und ließ den Scheiterhaufen in Flammen aufgehen, die zum Himmel emporloderten. Das Feuer brannte stark und sandte mit dem Wind eine Rauchwolke zum Sternenzelt über ihnen.
Rhapsody sang, mit einer Stimme, die kaum mehr war als ein Flüstern, den Namen ihrer Schwester und die ersten Töne des Grabliedes der Lirin, doch dann war sie zu erschöpft, um Fortzufahren. Sie hatte die Zeremonie ja schon einmal durchgeführt und wusste, dass Jo bereits im Licht weilte.
Die drei standen beisammen und sahen zu, wie die Flammen ihre Freundin zu sich nahmen. Asche erhob sich in die Luft, und der Wind ergriff sie; sie wirbelte und tanzte in wunderschönen weißen Mustern, wie aufsteigender Schnee in der Dunkelheit. Danach erholte sich Rhapsody rasch. Jeden Tag schien sie ein wenig mehr sie selbst zu werden, nur das Licht in ihren Augen wollte noch nicht so recht wiederkehren. Grunthor saß auf ihrer Bettkante und erzählte ihr schmutzige Witze und unanständige Geschichten über das Leben der Bolg, wie er das früher schon gern getan hatte, um sie damit zum Lachen zu bringen. Die Anekdoten entlockten ihr noch immer ein Lächeln, aber irgendwie war es nicht das Gleiche wie sonst. Offensichtlich heilte ihre Seele nicht so schnell wie ihr Körper. Es war deutlich zu sehen, dass Achmed sich ihretwegen Sorgen machte. Er war schwermütig, und seine Laune war noch schlechter als sonst, was sich auch daran zeigte, wie brav die Soldaten und Wachen waren, wenn sie sich im Kessel aufhielten. Nachdem sie die Erste Frau ihres Herrschers einmal mit ihrem fröhlichen, lautstarken Geplänkel aus dem unruhigen Schlaf geweckt und dafür den Zorn ihres Kriegsherrn auf sich gezogen hatten, flüsterten sie nur noch und vermieden Schlägereien oder laute Wortwechsel. So viele von ihnen hatten unter den Folgen von Achmeds Wutanfall zu leiden gehabt, dass sich die Nachricht in Windeseile im Kessel verbreitet hatte und sich mehr Männer denn je freiwillig für den Dienst außerhalb der Zahnfelsen meldeten.
Achmed und Grunthor ließen Rhapsodys Privatsphäre unangetastet und bedrängten sie auch nicht mit Fragen über ihre Gefühle oder ihr Befinden; sie kannten die Ursache ihres Schmerzes, wussten nur leider nicht, was sie dagegen unternehmen konnten. Doch ihre stillschweigende Gegenwart war für Rhapsody ein großer Trost. Achmed gewöhnte sich an, seine Bekanntmachungen abends in ihrem Zimmer zu verlesen oder dort auch die endlosen Schriften aus Gwylliams Schatzkammern zu studieren, während sie Kräuter sortierte oder komponierte.
Inzwischen ging es Rhapsody gut genug, dass sie für kurze Zeit allein umhergehen konnte. Eines Tages brachte sie einen Stapel frischer Wäsche zu ihrem Zimmer; während sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel angelte, hörte sie Lärm aus Jos Zimmer dringen. Rasch ging sie zu der Tür, öffnete sie leise, spähte in die Dunkelheit und sah Grunthor auf Jos Bett sitzen, das Kinn auf die Hände gestützt, mit einem Ausdruck von Ratlosigkeit und Verwirrung auf dem Gesicht. Die Kisten und Säcke auf dem Boden deuteten darauf hin, dass er eigentlich Jos Sachen hatte ausräumen wollen, wahrscheinlich um Rhapsody diese Arbeit abzunehmen, aber er hatte so gut wie nichts von dem üblichen Kram vorgefunden. Es war, als hätte das Straßenkind alle Raritäten entsorgt, die es zuvor so reichlich gesammelt hatte. Als Rhapsody ins Zimmer trat, blickte Grunthor auf. Wortlos kam sie zu ihm, und er nahm sie in den Arm. Selbst im Sitzen reichte ihr Kopf kaum bis an seine Schulter.
»Ich weiß nich, was hier passiert is, Schätzchen«, meinte er schüttelte wehmütig den Kopf.
»Anscheinend haben wir sie schon vor langer Zeit verloren und wussten es nich mal.« Rhapsody nickte und drückte sich fester an ihn.
Schließlich gelangten sie zu einer prekären Erkenntnis. In einer Nacht wollte Achmed nach Rhapsody sehen und fand sie in der Ecke des Zimmers, die Arme um sich geschlungen an die Decke starrend. Langsam ging er auf sie zu, ließ sich neben ihr auf dem Boden nieder und sah sie schweigend an. Endlich wandte sie sich ihm zu und blickte ihm in die Augen. Ihre Blicke trafen sich, dann schloss sie die Augen und begann zu sprechen.
»Glaubst du, Jo war schwanger?«
Achmed schüttelte den Kopf. »Ich habe sie am Tag davor gesehen, und von den Schwingungen her schien sich nichts verändert zu haben. Natürlich kann ich nicht völlig sicher sein, aber ich halte es nicht für wahrscheinlich.«
Rhapsody nickte und schaute dann auf ihre angezogenen Knie hinunter. »Oelendra hat einmal gesagt, dass die F’dor Meister der Manipulation sind, die eine Ewigkeit darüber nachsinnen, wie sie die Grenzen ihrer Macht ausweiten können.«
»Das ist korrekt.«
»Und die Prophezeiung über den F’dor der unerwünschte Gast sagt: Niemals hat, wer ihn aufnimmt, ihm Kinder geboren, und niemals wird dies geschehen, wie sehr er sich auch zu vermehren trachtet.‹ Richtig?«
»Ja.«
»Elynsynos hat gesagt, die Erstgeborenen, die fünf ältesten Rassen, zu denen sowohl die F’dor als auch die Drachen gehören, können ihre Fortpflanzung selbst bestimmen.« Achmed verbiss sich eine gemeine Bemerkung über Ashe, die ihm auf der Zunge lag. »Für sie ist es eine bewusste Entscheidung, ihre Essenz aufzubrechen, um ihre Macht zu erweitern, denn durch ihre Nachfahren werden sie auf eine Art unsterblich, aber die Eltern können dadurch auch geschwächt werden.« Wieder nickte Achmed. »Was, wenn der F’dor seine Macht ausbreiten, sich unsterblich machen, aber seine Macht dadurch nicht mindern wollte? Wie würde er das anstellen?«
Sofort war Achmed klar, worauf sie hinauswollte. »Er würde eine Methode suchen, mit der er sein Blut reproduzieren kann, ohne dass sein Körper es tun muss.«
Rhapsody nickte, und ihre Augen funkelten. »Der Rakshas. gr hat Vergewaltigung nicht nur als Form des Terrors und als Methode eingesetzt, Seelen an sich zu binden. Er hat neue Wirte für den Dämon gezeugt.«
»Ich glaub nich, dass du schon gesund genug bist, Gräfin. Du solltest noch nicht reiten.«
Rhapsody beugte sich zu Grunthor hinab und küsste seine graugrüne Wange. »Ich schaffe das schon. Außerdem ist Achmed da, und wenn ich mich schwach fühle, nimmt er mich zu sich auf sein Pferd.« Die Stute tänzelte ungeduldig, aber Grunthor hielt sie an den Zügeln fest. Die Sängerin redete sanft und beschwichtigend auf sie ein.
»Wir sind bald zurück«, versprach Achmed und stieg auf das Pferd, das der Quartiermeister für ihn gebracht und mit Proviant versorgt hatte. »Wenn die Sache zu einer Verfolgungsjagd wird, kommen wir erst noch mal hierher und besprechen uns.« Grunthor und Achmed tauschten einen kurzen Blick. Pass gut auf sie auf, sagte der Sergeant, und der Firbolg-König nickte.
»Also, wo ist denn nun eigentlich diese Rhonwyn?« »In einem Kloster in Sepulvarta«, antwortete Rhapsody und sah zu, wie der Quartiermeister ihren Sattel untersuchte und den Gurt justierte. »Es sind ungefähr zehn Tagesritte von hier, nördlich von Sorbold auf der anderen Seite von Bethe Corbair. In drei Wochen müssten wir wieder hier sein.«
»Schön für euch«, grummelte der Bolg. »Aber ich darf überhaupt keine spannenden Ausflüge mehr mitmachen, weil ich ständig das Bolg-Land hüten muss.«
Achmed lächelte. »Versuch, keine Verträge zu brechen, während ich weg bin.« Er schnalzte mit der Zunge, sein Pferd setzte sich in Bewegung, und die beiden Reisenden machten sich über die orlandische Ebene auf den Weg nach Sepulvarta.