Bilder flimmerten vor ihren Augen und verschwanden wieder, während Rhapsody das Bewusstsein wiederzuerlangen versuchte. Überall funkelten Augen, Drachenaugen, die auf sie herabsahen, und ihre seltsamen vertikalen Pupillenschlitze veränderten sich ständig. Schließlich kam sie wieder zu sich und konzentrierte sich auf die Decke über sich, wo die Schatten des Feuers über den schweren Holzbalken waberten. Sie blinzelte und versuchte sich aufzusetzen, aber sanfte Hände hielten sie zurück und streichelten ihr liebevoll übers Haar.
»Pssst«, machte Ashe. Während die Welt um sie herum allmählich wieder festere Formen annahm, merkte sie, dass sie auf dem Sofa im Wohnzimmer lag; im Kamin brannte leise das Feuer, ihr Kopf ruhte auf seinem Schoß. Die Schuhe waren ihr von den Füßen gefallen, und der kühle, nasse Ärmel seiner Jacke kühlte ihr die Stirn. Sie blinzelte heftiger.
»Bin ich ohnmächtig geworden?«
Er lachte leise. »Ja, aber ich werde es keinem weitererzählen.«
»Ich hatte einen sehr sonderbaren Traum«, murmelte sie und berührte verwirrt seinen weißen Hemdsärmel. Sein Lächeln wurde breiter, und er beugte sich über sie und streichelte ihren Nasenrücken.
»Es tut mir Leid, Aria, aber das war kein Traum. Das bin ich, das bin wirklich ich. Mein Herz hat es geschworen, als ich dich zum ersten Mal sah, aber ich wusste, es konnte nicht sein. Sie hat gesagt, du wärst nicht gekommen, und ich habe die ganze Zeit geglaubt, du wärst tot.«
»Anwyn. Nachdem ich aus Serendair zurückgekommen war, suchte ich dich, völlig verzweifelt. Da ging ich zu Anwyn. Ich wusste, sie hätte dich gesehen, wenn du aus der alten Welt gekommen wärst, und sie würde wissen, ob du noch lebst. Aber sie sagte, du wärst nicht angekommen, du wärst nicht auf einem der Schiffe gewesen. Und zu meinem großen Kummer musste ich ihr glauben. Wenn sie von der Vergangenheit spricht, kann Anwyn nicht lügen, ohne ihre Gabe zu verlieren. Aber ich verstehe immer noch nicht, wie du dann trotzdem hierher gekommen bist.«
Rhapsody setzte sich auf, fuhr sich mit der Hand über die Augen und die Stirn. »Wie ich hergekommen bin? Ich weiß nicht sicher, wo ich bin, aber ich glaube, ich lebe hier.«
Ashe schlang das Bein um sie, sodass sie sich an sein Knie anlehnen konnte. Dann hielt er die kleine Münze hoch, glänzendes Kupfer, mit einer seltsamen Kantenzahl. »Ich erinnere mich noch an den Tag, als ich sie bekommen habe«, sagte er nachdenklich, wie zu sich selbst. »Ich war drei oder vier, und es war ein Versammlungstag; pompöse Zeremonien und langatmige Reden und rein gar nichts Spannendes dabei. Ich war allein und langweilte mich so, dass ich dachte, ich müsste sterben, aber man erwartete ja von mir, dass ich sitzen blieb und mich anständig benahm.
Ich bekam Angst, dass mein ganzes Leben so aussehen würde dass ich nie wieder herumrennen oder spielen könnte wie meine Freunde. Es war der einsamste Moment meines ganzen bisherigen Lebens.
Und dann kam dieser alte Mann, beugte zu mir herab und lächelte freundlich. Und er gab mir ein Geschenk zwei Dreipfennigstücke. ›Kopf hoch, Junge‹, sagte er und zwinkerte mir zu ich erinnere mich ganz deutlich an dieses Zwinkern, weil ich es noch lange nachgemacht habe, ›früher oder später halten sie den Mund. In der Zwischenzeit kannst du dir das hier mal ansehen. Sie halten die Einsamkeit weg, solange du sie zusammenhältst, denn an einem Ort, an dem zwei Dinge so gut zusammenpassen, gibt es keine Einsamkeit/
Und er behielt Recht. Ich untersuchte die Münzen, versuchte die Seiten aneinander zu legen, und hatte richtig Spaß dabei. Als mein Vater kam, um mich abzuholen, hatte ich das Gefühl, als wären nur ein paar Minuten vergangen, dabei waren es viele Stunden gewesen. Von diesem Tag an trug ich die Münzen ständig bei mir, bis ich sie dir gegeben habe. Denn als ich dir begegnete, Emily, dachte ich, ich würde nie wieder einsam sein.«
Rhapsody rieb sich mit den Fingerspitzen die Schläfen, in dem Versuch, die Kopfschmerzen zu vertreiben, die sich hinter ihren Augen eingenistet hatten. »Das war ein anderes Leben. Ich habe den Namen nicht einmal erkannt, als du ihn zum ersten Mal erwähntest.« Sie blickte auf und begegnete seinem Blick; er sah so glücklich aus, beinahe überschwänglich. »Du willst mir also sagen, dass du dass du Sam bist?«
Er seufzte tief. »Ja. Ihr Götter, wie habe ich mich danach gesehnt, dass du mich so nennst.« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie, staunend.
Rhapsody machte sich los und blickte wieder in sein Gesicht. »Du? Bist du es wirklich?« Er nickte. »Du siehst aber nicht so aus.«
Ashe lachte. »Ich war damals vierzehn, was erwartest du? Seither ist einiges geschehen, unter anderem bin ich mit knapper Not dem Tod entgangen, meine Drachennatur hat sich bemerkbar gemacht und mich grundlegend verwandelt. Und übrigens siehst auch du nicht mehr so aus wie damals, Emily. Du warst das schönste Wesen, das ich je gesehen hatte, aber nun, du hast dich auch verändert.« Er ließ die Finger durch ihr Haar gleiten, das ihr makelloses Gesicht umrahmte und im Schein des Feuers schimmerte wie poliertes Gold. Die smaragdgrünen Augen wanderten über sein Gesicht und versuchten, die Erinnerung an sein Gesicht mit dem in Einklang zu bringen, das sie inzwischen so gut kannte. Obgleich er sich wirklich sehr verändert hatte, bestand doch eindeutig eine Ähnlichkeit, die sie vorher nur nicht wahrgenommen hatte. Und während ihre Augen sein Bild in sich aufnahmen, stiegen Tränen in ihnen auf. Sie rang um Worte, aber es dauerte einen Augenblick, bis sie sprechen konnte.
»Warum?«, stieß sie mühsam hervor. »Warum bist du nicht zurückgekommen?«
Wieder umfasste er ihr Gesicht mit den Händen. »Ich konnte nicht«, antwortete er, und auch seine Augen waren voller Tränen. »Ich weiß ja nicht einmal, wie ich überhaupt dorthin gekommen bin. Für einen einzigen Tag wurde ich in die Vergangenheit zurückgeworfen. Ich ging die Straße nach Navarne entlang und dann war ich plötzlich in Serendair. Und nachdem wir uns begegnet waren, wäre ich liebend gern für immer bei dir geblieben, auch wenn das bedeutet hätte, dass ich hätte sterben müssen und meine ganze Welt verloren hätte, wie es ergehen sollte. Ich hätte alles aufgegeben, denn ich hatte die andere Hälfte meiner Seele gefunden.
Am nächsten Morgen, deinem Geburtstag, war ich unglaublich aufgeregt. Ich machte mich so präsentabel wie möglich, damit dein Vater mir die Erlaubnis geben würde, dich zu heiraten. Ich erinnere mich noch, wie nervös ich war, und wie glücklich, aber dann befand ich mich, genauso plötzlich und unerklärlich wie zuvor, auf einmal wieder auf der Straße nach Navarne, hier in dieser Welt.
Vor Kummer wäre ich fast verrückt geworden. Endlos suchte ich nach dir, ging zu jedem aus der Ersten Generation und fragte nach dir. Und dann sagte mir Anwyn, du wärst nicht angekommen. Da erkannte ich, dass es zu spät war, dass du tot sein musstest, seit tausend Jahren oder mehr, dass du weder MacQuieth noch sonst jemanden aus deinem Land gefunden hattest, der dir hätte helfen können.
Mein Vater verlor die Geduld und wollte mir einreden, ich hätte nur geträumt, aber ich wusste, dass das nicht stimmte, denn ich besaß ja den Silberknopf und hatte drei Tropfen von deinem Blut auf meinem Umhang gesehen, auf dem wir uns geliebt hatten. Und von diesem Augenblick an war ich wie die Münze; sonderbar, nicht dazu passend, wenig wert, ständig einsam. Seither hat es in meinem Leben keine Frau mehr gegeben, Emily, keine einzige außer dir, die ich jetzt mit dem Namen Rhapsody kenne. Wer hätte sich auch mit dir messen können? Mein Vater ließ seine Huren an mir vorbeidefilieren, in der Hoffnung, mein Herz zu erweichen, aber ich bin weggegangen und zur See gefahren, denn ich wollte die Erinnerung an das Einzige, was mir in meinem Leben jemals heilig, jemals wichtig gewesen war, nicht verraten.
Das ist alles. So habe ich gelebt, schon bevor der F’dor meine Seele zerfleischt hat. Vermutlich war sie durch deinen Verlust ohnehin zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Aber jetzt bist du hier, ihr Götter, du warst die ganze Zeit da. Aber wie bist du herübergekommen? Bist du mit der Zweiten Flotte in Manosse gelandet? Oder bist du als Flüchtling in eins der Länder näher bei der Insel gesegelt?« Während die Fragen aus seinem Mund kamen, bemühte sie sich mit aller Kraft, die Tränen zurückzuhalten. Sie zitterte.
Rasch zog er sie in seine Arme und strich ihr übers Haar. »Emily, Aria, jetzt ist alles gut. Wir sind zusammen, alles ist gut. Endlich, zum ersten Mal, ist wirklich alles gut.«
Heftig stieß sie ihn weg, und in ihren Augen loderte der Schmerz. »Es ist keineswegs alles gut, Ashe. Nichts ist gut.
Ungläubig öffnete er den Mund und schloss ihn sogleich wieder. »Sprich mit mir, Aria. Sag mir, was in deinem Herzen vorgeht.«
Aber Rhapsody konnte nicht sprechen. Sie blickte auf ihre Hände hinab und verschlang sie nervös ineinander, bis sie ganz weiß wurden. Ashe legte eine Hand darüber und die andere auf ihr Gesicht.
»Sag es mir, Aria, was immer es ist. Sag es mir.«
»Nun, zuerst einmal ist es so, dass ich all das schon morgen nicht mehr wissen werde, Ashe. Wenn die Sonne aufgeht, werde ich keine Ahnung haben, dass irgendetwas anders geworden ist. Ich werde mein Leben weiterleben in dem Glauben, dass du mich verlassen hast, dass ich dich vollkommen falsch eingeschätzt habe, dass du gestorben bist, als die Insel der Zerstörung anheim fiel, oder sogar noch vorher. Darüber denke ich jeden Tag nach, Ashe, selbst heute noch, jeden Tag. Ich zweifle an mir selbst, ich habe Angst, jemandem zu vertrauen. 0 ihr Götter, morgen wirst du mich verlassen, und ich werde nichts von all dem mehr wissen. Und ich werde glauben, dass sogar die Liebe, die ich hier mit dir gefunden habe bald einer anderen gehört. Vielleicht ist für dich alles gut aber für mich wird alles genauso schlecht sein wie vorher, genau genommen sogar noch schlechter.«
Sie überließ sich ihren Tränen. Ashe nahm sie wieder in die Arme und hielt sie fest. »Du hast Recht«, sagte er und küsste sie aufs Ohr. »Ich werde die Perle holen.«
Rhapsody setzte sich auf und entzog sich wieder seiner Umarmung. »Was? Warum?«
Ashe lächelte sie an und wischte mit den Knöcheln seiner Hand ihre Tränen fort. »Nichts, nichts auf der ganzen Welt ist es wert, dir auch nur eine Sekunde länger wehzutun. Du hast schon viel zu lange all dieses furchtbare Leid mit dir herumgeschleppt, Emily. Es ist viel wichtiger, dass das nun ein Ende hat, als dass sich irgendjemand seine egoistischen Wünsche erfüllt.« Er wollte aufstehen, aber sie hielt ihn zurück.
»Aber was wird dann mit Llauron geschehen?«
»Ich weiß es nicht, und es ist mir auch gleich. Für mich zählt, was mit dir geschieht.«
Jetzt waren Rhapsodys Augen trocken und besorgt. »Nun, ich weiß es aber, und ich glaube, du weißt es auch. Wenn ich für Llauron als Nachrichtenübermittlerin nutzlos geworden bin, weil ich die Wahrheit kenne, wenn ich mich weigere, einen Mann auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, weil ich weiß, dass er noch lebt, dann ist der ganze Plan dahin. Und es ist ohnehin zu spät, das Attentat noch zu verhindern, nicht wahr? Larks Plan steht fest; Llauron wird für nichts sterben, ohne die Chance auf Unsterblichkeit. Und das, weil ich zu selbstsüchtig bin, weil ich nicht darauf warten kann, eine bestimmte Information zu bekommen, obwohl ich über ein Jahrtausend auch ohne diese Information ausgekommen bin.« Sie seufzte tief.
»Es tut mir Leid, Sam«, sagte sie und gebrauchte endlich seinen Namen. »Du wolltest nicht glauben, dass ich egoistisch bin nun, jetzt hast du deinen Beweis. Mein Gejammer hätte dich beinahe dazu gebracht, deinen Vater sterben zu lassen.«
»Das ist wohl nicht ganz zutreffend.«
»0 doch, das ist überaus zutreffend.« Rhapsody wischte sich mit dem Saum ihres Kleides die letzten Tränen aus den Augen. »Aber wir haben das Ruder wenigstens rechtzeitig herumgerissen.«
Ashe sah sie scharf an. »Was sagst du da, Emily? Du möchtest die Erinnerung nicht behalten?«
Sie lächelte ihn an. »Bewahr du sie für mich auf, Sam. Ich kann noch eine Weile ohne sie leben.«
Er hielt sie eine Weile schweigend in den Armen. »Möchtest du es mir sagen?«
»Was?«
»Was mit dir geschah. Als ich nicht zurückkam.«
»Ich glaube, das möchtest du lieber nicht wissen, Sam.«
»Es ist deine Entscheidung, Emily. Ich möchte alles wissen, was ich verpasst habe, alles, was du mir erzählen magst, ohne dass es dir allzu wehtut.«
»Du möchtest unsere Vereinbarung also lockern? Die Vereinbarung, nicht über die Vergangenheit zu sprechen?«
»Ja«, antwortete er fest. »Bis jetzt haben wir geschwiegen, nicht nur, um uns den Schmerz zu ersparen, sondern auch um die Interessen unserer Familien und unserer Freunde zu schützen. Vergessen wir sie. Auf dieser, der nächsten, der letzten oder sonst einer Welt wird es für mich nie etwas Wichtigeres geben als dich. Nichts. Bitte, Emily, ich möchte wissen, was geschehen ist ... so viel du mir eben erzählen kannst. Damit wir vielleicht verstehen, warum es so gekommen ist und wie.«
Gedankenverloren studierte Rhapsody sein Gesicht. Kurz darauf sah er, wie ihre Augen dunkler wurden und sie offensichtlich eine Entscheidung traf. »Gut. Ich muss dir etwas erzählen, und du musst es hören. Vielleicht überlegst du dir dann manche Dinge noch einmal anders, von denen du dachtest, du hättest sie bereits entschieden.«
Er nahm ihr Gesicht in die Hände und musterte sie durchdringend. »Nichts, was du sagen könntest, wird mich dazu bringen, meine Meinung über dich zu ändern, Rhapsody«, erklärte er mit Nachdruck und versuchte, den Ton zu treffen, in dem sie als Benennerin die Wahrheit sprach. »Nichts.«
Sie durchschaute seinen Versuch und lächelte. »Warum hörst du nicht erst einmal zu und entscheidest dann, Sam?«
»Nichts«, wiederholte er beinahe trotzig.
Sanft schob sie seine Hände weg und stand auf, durchquerte den Raum und trat zu der Ecke neben dem Kamin. Dort nahm sie die Bilder von ihren Enkelkindern in die Hand, betrachtete sie und begann zu lächeln. »Erinnerst du dich an meinen Traum, der immer wieder kam? Der, von dem ich dir in jener Nacht berichtet habe?«
»Der, in dem die Sterne vom Himmel in deine Hände fielen?«
»Ja. Später dann, als ich an der Heiratslotterie teilgenommen habe, hat sich der Traum verändert, und die Sterne fielen durch meine Hände hindurch und ins Wasser des Bachs, der durch die Felder floss, die ich immer meine Flickendecke genannt habe. In der Nacht, als du nicht zurückkamst ... nun, sagen wir einfach, es war eine traurige Nacht, und als ich schlafen ging, hatte ich den Traum wieder, aber er war ganz anders. Ich träumte, dass ich ins Wasser schaute, und die Sterne waren in einem Kreis um einen langen dunklen Spalt herum vom Himmel gefallen und leuchteten mich an. Erst vor kurzem, als wir uns verliebt haben, ist mir klar geworden, was es war.«
»Und zwar ...«
»Es war dein Auge, Sam; dein Auge mit der Drachenpupille, so ganz anders als das, woran ich mich erinnere, und doch so ähnlich. Das muss meine Mutter gemeint haben in der Vision, als sie sagte, wenn ich meinen Leitstern fände, würde ich nie verloren sein. Sie meinte, er sei in dir dass du ein Stück meiner Seele in dir trügest, und um es zu aufzuspüren, müsse ich dich finden. Dass ich mit dir vollständig sein würde. Du bist nicht der Einzige, der ein Stück seiner Seele verloren hat; jetzt hat jeder für den anderen ein Stück in sich getragen. Nun verstehe ich endlich, warum ich hellsichtig bin, warum ich von der Zukunft träume. Es kommt daher, dass ich dir in jener Nacht in den Feldern einen Teil meiner Seele gegeben habe, und er ist mit dir zurückgekommen. In der Zukunft hat er gelebt, die ganze Zeit. Er hat Dinge gesehen, die für mich die Zukunft verkörperten, da ich vierzehnhundert Jahre in der Vergangenheit lebte. Er hat mich gerufen und versucht, uns wieder zu vereinigen.«
Ashe lächelte und blickte auf den Boden. »Danke Gott für diese Träume. Und wenn ich je die Fürstin von Rowan wieder treffe, muss ich ihr danken.«
Rhapsody stellte die Bilder an ihren Platz zurück und seufzte. »Unglücklicherweise habe ich damals nichts von all dem verstanden. Stattdessen senkte sich eine tiefe Verzweiflung auf mich herab, und ich ging durch die Tage wie durch einen Nebel. Meine Eltern waren sehr besorgt, genau wie dein Vater über dich. Ich hatte ihnen erzählt, du wärst ein Lirin, und mein Vater war überzeugt, dass du mich verzaubert hattest.
Er beschloss, dass ich etwas brauchte, um mein Herz zu kurieren, und glaubte, dass eine Ehe die Antwort wäre. Daher forcierte er die Antragsgespräche. Mich machte das nur noch verzweifelter und verängstigter, aber ich musste mich auf sein Urteil verlassen, weil ich jetzt an mir selbst zweifelte. Da fielen mir die Goldmünzen ein, die du mir geschenkt hattest, und ich kam zu dem Schluss, dass ich eigentlich meine Jungfräulichkeit für Geld verkauft hatte.«
Ashes Gesicht war schmerzverzerrt, aber Rhapsody schien es nicht zu bemerken. »Vermutlich wurden dadurch manche Dinge, die später geschahen, erst möglich. Eines Tages, etwa eine Woche, nachdem du gegangen warst, ritten ein paar Soldaten ins Dorf. Sie wussten nichts über dich im Besonderen, sie hielten einfach Ausschau nach auffälligen Subjekten, die zur gleichen Zeit aufgetaucht waren wie du. Die Leute, in deren Scheune du geschlafen hattest, zeigten ihnen die Gegenstände, die du liegen gelassen hattest, und dann ritten die Soldaten weg.
Ich hatte fürchterliche Angst, sie würden dich finden und dir etwas antun. Ich wollte alles versuchen, um dich zu warnen, deshalb packte ich ein, was ich tragen konnte, nahm eins der Pferde meines Vaters und lief davon, den Soldaten hinterher, nach Ostend. Ich war noch nie in einer Stadt gewesen, und sie erschien mir sehr groß und gefährlich; mein Pferd wurde mir fast sofort gestohlen. Ich fragte jeden, dem ich begegnete, nach dir, aber natürlich hatte dich keiner gesehen. Ich wagte mich sogar hinaus auf die Weiten Marschen, um die Führerin der Lirin zu sehen, die dort wohnte, aber sie kannte keinen der Namen, die du mir genannt hattest, außer MacQuieth, der ein sehr bekannter Krieger war und in den westlichen Ländern auf der anderen Seite des Großen Flusses wohnte. Inzwischen ist mir klar, dass außer ihm noch niemand von den anderen geboren war.
Jahre später traf ich MacQuieth, ganz zufällig. Und da er ein legendärer Held ist und aus deiner Familie stammt, werde ich dir die Einzelheiten dieser Begegnung ersparen. Ich möchte den Mythos nicht zerstören. Vermutlich liegen einige Dinge in der Familie.«
Ashe lachte. »Könnte es sein, dass eure Begegnung etwas gemeinsam hatte mit der Art, wie ich, ahm, wie ich Jo kennen lernte?«
Sie lächelte traurig. »Nun, in gewisser Weise schon«, gab sie zu, »aber du warst netter zu Jo als er zu mir. Ich fragte ihn nach dir, und er antwortete, er habe dich noch nie gesehen. In dem Augenblick gab ich auf; ich dachte, du wärest entweder tot oder ein Lügner, aber ganz gleich, was davon stimmte, würdest du ohnehin nicht zu mir zurückkommen, und ich würde dich nie wieder sehen.
Aber das war viele Jahre später, wie gesagt. Nach ein paar Tagen, als ich niemanden finden konnte, der dich auch nur gesehen hatte, beschloss ich, nach Hause zurückzukehren. Doch dann dämmerte mir, dass ich nicht einmal wusste, wo das war. Die Reise nach Ostend hatte mehrere Wochen gedauert, ich hatte damals keine Ahnung, wie man sich orientiert, und mein Pferd war auch verschwunden. Aber trotzdem habe ich immer daran geglaubt, dass ich eines Tages wieder heimfinden würde.
Ich brauchte Geld, deshalb verkaufte ich die Silberknöpfe, wie ich dir einen geschenkt hatte.«
Er zuckte zusammen, denn er erinnerte sich an die Aufregung und den Stolz in ihren Augen, als sie ihm in jener Nacht die Knöpfe gezeigt hatte. »Sie brachten einen anständigen Preis, und ich konnte eine Weile davon leben; mit dem Geld konnte ich mir eine Unterkunft leisten und Essen kaufen. Aber dann war das Geld alle, und ich musste mir eine andere Möglichkeit suchen, wie ich mich durchschlagen konnte.
Zuerst fand ich Arbeit als Putzfrau. Ich war ein Bauernmädchen, ich konnte gut putzen. Aber immer passierte irgendetwas. Früher oder später begannen sich der Herr und die Herrin des Hauses meinetwegen zu streiten, und manchmal wollte der Herr sogar ...« Sie wandte sich ab, verschränkte die Arme und starrte an die Wand. Der Feuerschein schimmerte auf ihrem Kleid und warf Schatten, die sich in den Falten des Seidenstoffs kräuselten, als wollte das Feuer sie trösten.
»Jedenfalls stand ich wieder auf der Straße. Und unglücklicherweise gibt es eine Menge Leute, die es darauf abgesehen haben, junge Mädchen auf der Straße auszubeuten. Dann wieder gibt es gelegentlich welche, die zwar von Mädchen wie mir profitieren, sie aber beschützen wollen und ich hatte das Glück, einer Frau dieser Sorte zu begegnen, kurz bevor sich eine der unappetitlicheren Gestalten an mich heranmachte. Alle nannten diese Frau Nana. Sie nahm mich bei sich auf, und von nun an stand ich unter ihrem Schutz. Ich musste nur ... nur ...« Ihre Stimme versagte. »Emily ...«
»Wahrscheinlich brauche ich es dir nicht näher zu erklären, Sam. Sie hat mich verkauft, und zwar häufig, wie ich leider zugeben muss. Dabei war ich gar nicht so leicht zu verkaufen; mein Körper verfügte nicht über die herkömmlichen weiblichen Reize, meine Brüste waren zu klein für diese Branche, und es half auch nicht, dass ich mich weigerte, verheiratete Männer zu bedienen. Das schränkte meinen Kundenkreis bedenklich ein. Doch trotz all dieser Hindernisse schaffte Nana es, Arbeit für mich zu finden.
Ich dachte, es würde mir nichts ausmachen; mir war ohnehin alles einerlei, ich schlug ja nur die Zeit tot. Aber ich erinnere mich noch an das erste Mal«, erzählte sie, und ihre Stimme wurde immer leiser und tonloser. »Ich war gerade fünfzehn. Es war lange her, dass ich mit dir zusammen gewesen war, und Nana konnte mich als unberührt verkaufen. Sie ging davon aus, dass ich noch einmal bluten würde, und sie hatte Recht. Vermutlich erzielte sie dafür einen besseren Preis. Wenn das später wieder passierte, bekam ich von ihr immer irgendeine Leckerei oder ein kleines Geschenk, aber dann hatte es immer etwas damit zu tun, dass die Männer gewalttätig waren, nicht unerfahren. Das erste Mal war es beides. Ich versuchte, tapfer zu sein, aber die Art von Mann, die bereit ist, für dieses besondere Privileg einen Sonderpreis zu bezahlen ...«
Sie hielt inne, als sie hinter sich ein lautes Schluchzen hörte. Erschrocken drehte sie sich um, raffte ihre Röcke, lief zu ihm und schlang die Arme um seinen Hals.
»Sam, es tut mir Leid. 0 ihr Götter, ich hätte es dir nicht erzählen sollen. Mir geht es gut, Sam, wirklich. Sam, bitte weine nicht. Es tut mir so Leid.«
Er zog sie auf seinen Schoß und vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter. Sie hielt ihn fest, bis das Weinen nachließ. In diesem Moment fasste sie den Beschluss, dass sie ihm nie wieder etwas über diese Zeit erzählen würde, und verschloss die Tür zu ihrer Erinnerung. Dabei war das noch gar nichts, dachte sie. Sich die wirklich schlimmen Sachen anzuhören würde er nicht aushalten.
»Aber es ist doch wirklich grotesk, dass du mich tröstest«, sagte er, als er wieder zu sprechen vermochte. »Du bist doch diejenige, die es erlebt hat meinetwegen!«
»Das ist Unsinn«, entgegnete sie und tupfte ihm behutsam mit ihrem Rock die Augen ab.
»Damit hattest du gar nichts zu tun. Ich bin diejenige, die weggelaufen ist. Und es war auch gut so wenn du nicht in meine Welt gekommen wärst und sei es auch nur für eine ganz kurze Zeit, dann wäre ich dir niemals gefolgt. Das ist die Wahrheit. Ich hätte mein Leben mit einem Bauern verbracht, den ich nicht geliebt hätte, ich hätte die Welt nie gesehen, von der du mir erzählt hast und die ich nun kennen gelernt habe. Ich wäre gestorben, lange bevor die Insel unterging, und wahrscheinlich wäre ich schon vor meinem Körper tot gewesen. Wenn du nicht gekommen wärst, wäre ich jetzt nicht hier. Du hast mein Leben gerettet, Sam, sieh es doch mal so. Ryle hira. Das Leben ist, wie es ist. Was immer wir erlitten haben, jetzt sind wir zusammen.«
Er wich ein Stück zurück und sah sie an, wie sie auf seinem Schoß saß und seine Hände hielt. Inzwischen gab sie kein so vollkommenes Bild mehr ab wie vorhin; ihr Kleid war zerknittert, ihre Haare lösten sich aus dem kunstvollen Knoten, aber im Feuerschein wirkte sie trotzdem so engelhaft schön, wie er sie noch selten gesehen hatte.
»Ich habe mich geirrt«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Was du mir erzählt hast, verändert doch mein Gefühl zu dir.« Rhapsody erbleichte. »Wenn es überhaupt möglich ist, liebe ich dich jetzt noch mehr.«
Erleichterung durchflutete sie. »Himmel, jag mir doch nicht so einen Schrecken ein«, schalt sie ihn und versetzte ihm einen Klaps auf den Arm. Dann wurde ihr Gesicht wieder ernst.
»Aber es gibt mehr als nur einen Grund dafür, dass du es dir noch einmal anders überlegst.«
»Keinesfalls.«
»Sam ...«
»Nein, Rhapsody.«
»Ich weiß nicht, ob ich dir Kinder schenken kann«, platzte sie heraus, und ihr Gesicht wurde wieder bleich. »Ich glaube, ich bin unfruchtbar.«
Ashe streichelte sanft ihre Wange. »Wie kommst du denn auf die Idee?«
Rhapsody starrte ins Feuer. »Nana hat uns immer ein Kraut namens Hurenfreund gegeben, einen Blattextrakt, der Schwangerschaften und Krankheiten verhindern sollte. Ich weiß nicht, ob das irgendetwas in mir verändert hat. In letzter Zeit habe ich keine derartigen Maßnahmen getroffen und bestimmt oft genug mit dir geschlafen, um ...«
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Schnell zog er sie an sich. »Nein, Aria; entschuldige. Ich dachte, du wüsstest das. Ich bin ein Drache, einer der erstgeborenen Rassen. Um ein Kind zu zeugen, müsste ich von meiner Seite eine bewusste Entscheidung treffen, und da du mir nicht gesagt hast, dass du es dir von mir wünschst übrigens meiner Meinung nach eine kluge Entscheidung, habe ich nichts dergleichen unternommen.« Schmerzliche Erinnerungen flackerten in seinen Augen. »Genau genommen war ich, als ich dich in der alten Welt zurückgelassen hatte, vor allem auch deshalb so verzweifelt, weil ich nicht mit Sicherheit wusste, ob du nach unserer ersten gemeinsamen Nacht nicht schwanger geworden warst.
Damals hatte ich keine Kontrolle darüber. Meine Drachennatur kam ja erst viel später zum Vorschein, damals, als der Sternsplitter in meine Brust gesteckt wurde. Auch für mich war es mit dir das erste Mal schon damals war ich dir restlos verfallen. Deshalb hättest du, so weit ich es beurteilen konnte, durchaus schwanger sein können, als ich dich verließ. Die Vorstellung brachte mich fast um du allein und verletzlich, wahrscheinlich entehrt, voller Schmerz und Angst, mit meiner Tochter oder meinem Sohn, die ich nie kennen würde. Es war, als hätte ich nicht nur die Liebe meines Lebens, meine Seelenpartnerin verloren, sondern auch noch dieses Kind.« Die Hand, die ihre Wange liebkoste, zitterte. Rhapsody nahm sie und küsste sie. »Aber es gab kein Kind. Bei allen Göttern, Sam, ich habe mir lange gewünscht, es wäre so gewesen.«
Im Feuerschein schimmerten seine Augen saphirblau. »Ich bin froh darüber, dass du dir ein Kind gewünscht hast, denn ich freue mich darauf, dir eines Tages diesen Wunsch zu erfüllen, wenn das Land wieder sicher und der F’dor vernichtet ist. Ich träume davon und habe sogar schon davon geträumt, ehe du mir abermals das Geschenk deiner Liebe gemacht hast. Und du brauchst dir auch keine Gedanken wegen deiner Fruchtbarkeit zu machen; ich bin es, der dir Nachkommen vorenthalten hat, nicht umgekehrt. Um dich und deine Fruchtbarkeit geht es hier nicht. Meine Sinne sagen mir, dass bei dir alles vollkommen in Ordnung ist.«
Erleichterung breitete sich mit einem bezaubernden Lächeln über Rhapsodys Gesicht aus. Einen Augenblick später jedoch wurde sie nachdenklich. »Nun, ich freue mich darüber. Möchtest du den Rest der Geschichte hören?«
»Wenn du ihn mir erzählen magst, gerne.«
»Ab jetzt wird es leichter. Nach ein paar Jahren wurde ein Mann auf mich aufmerksam, ein älterer Mann. Er schien auch an mir als Mensch interessiert zu sein, nicht nur an nun, nicht nur an anderen Dingen; wahrscheinlich ging es ihm sogar mehr um meine Persönlichkeit. Er überließ mir ein eigenes Haus und ermutigte mich in meinem Wunsch zu lernen. Er sorgte dafür, dass ich den besten Unterricht in Musik, Kunst und anderen Wissenschaften bekam.«
»In jener Nacht in Myrfeld hast du mir erzählt, dass du all diese Dinge lernen wolltest.«
»Ja. Er hat mich mit dem größten Benenner von ganz Serendair in Kontakt gebracht, einem Mann namens Heiles, bei dem ich Unterricht in den alten Künsten nahm. Aber nicht lange nachdem ich meine Ausbildung als Sängerin beendet hatte und kurz davor stand, den Status einer Benennerin zu erlangen, verschwand Heiles ganz plötzlich. Meines Wissens ist er nie gefunden worden. Unterdessen hatte ich meine Ausbildung fast abgeschlossen. Als ich gerade das Gefühl hatte, die Wissenschaft des Benennens allmählich in den Griff zu bekommen, verstarb mein Wohltäter.
Kurz darauf schickte ein Kerl, der Gefallen an mir gefunden hatte, seine Handlanger zu mir, weil er mich für irgendein männliches Privatvergnügen haben wollte. Doch ich weigerte mich mitzukommen, und ich nahm kein Blatt vor den Mund. Leider stellte sich das später als großer Fehler heraus. Und dann ... nun, ich will es einmal so sagen: Als ich Achmed und Grunthor begegnete, befand ich mich in einer ziemlich unangenehmen Lage. Sie befreiten mich und halfen mir zu fliehen. Sie waren selbst auf der Flucht, und so gelangten wir zusammen nach Ostend und machten uns von dort auf den Weg zur Sagia. Kennst du sie?«
Ashe dachte einen Moment nach. »Ja, das ist doch die Eiche der tiefen Wurzeln. Sie war ein Wurzelzwilling des Großen Weißen Baumes.«
»Genau. Die Axis Mundi, die Linie, die durchs Zentrum der Erde verläuft, führt ebenfalls an dieser Wurzel entlang. Durch die Sagia gelangten wir ins Erdinnere ich weiß immer noch nicht ganz genau, wie. Danach sind wir an der Wurzel entlanggekrochen, eine halbe Ewigkeit, wie mir schien. Dort haben wir eine mächtige Veränderung durchgemacht und die Kräfte von Erde, Feuer und Zeit in uns aufgenommen. Schließlich durchquerten wir eine große Feuerwand es wird wohl die Mitte der Erde gewesen sein. Ich glaube, eigentlich sind wir verbrannt; aber das Lied unserer Essenz blieb erhalten und formte uns neu, nachdem das Feuer unseren Körper verzehrt hatte. Und alle alten Narben, alle alten Wunden waren mit einem Mal verschwunden.« Sanft fuhr Ashe mit dem Daumen über ihr Handgelenk, die Stelle, an der einst die Narbe gewesen war, an die er sich noch so lebhaft erinnerte. »Wir wurden neu geschaffen; deshalb hast du mich, als du mir zum ersten Mal begegnet bist, mit deinen Drachensinnen für eine Jungfrau gehalten.«
»Nein, nicht deshalb. Ich habe dir schon vor langer Zeit erklärt, warum.«
Sie küsste ihn auf die Wange, wand sich aus seinen Armen und setzte sich wieder neben ihn aufs Sofa. »Die Reise erschien mir endlos. Jahrhunderte verstrichen; als wir endlich an die Oberfläche gelangten, waren wir hier, und alles, was wir gekannt hatten, war vor Urzeiten im Meer untergegangen. Alle Menschen, mit denen ich etwas zu tun gehabt hatte, waren schon lange tot; ich wusste nicht, wie viele Generationen gekommen und gegangen waren, bevor die Cymrer Segel gesetzt und später gelandet waren.
Deshalb vermute ich, dass Anwyn dich nicht wirklich angelogen hat. Wir sind nicht hier gelandet, wir haben nie einen Fuß auf eins der cymrischen Schiffe gesetzt, wir sind nie übers Meer gesegelt. Wir sind geflohen, bevor all diese Generationen geboren wurden, wir sind lange nach dem Krieg hier angekommen. Also war ihre Antwort ehrlich.«
Ashe lachte bitter und starrte ins Feuer. »Theoretisch jedenfalls. Aber Anwyn wusste Bescheid, Emily. Sie wusste, dass du gegangen warst, dass du dich auf dem Weg hierher befandest, an der Wurzel entlang. Sie fasste den Entschluss, mir diese Information vorzuenthalten und mich damit abzuspeisen, dass du nie eins der Schiffe bestiegen hast, die rechtzeitig die alte Welt verließen. Ich glaubte sterben zu müssen, Aria. Sie aber sah schweigend zu, wie ich unter meinem unermesslichen Kummer zusammenbrach. Und sie ist meine Großmutter, Rhapsody, meine eigene Großmutter! Glaubst du, mein Glück, meine geistige Gesundheit bedeuteten ihr etwas?«
Er sah sie an. Das Mitgefühl, das er in ihren Augen las, berührte sein Herz und schenkte ihm Trost und Wärme. »Vermutlich nicht, Sam, und das tut mir sehr Leid«, sagte sie und legte ihre Hand leicht auf seine Wange. »Hast du eine Ahnung, warum? Warum tut sie so etwas?«
»Es geht ihr um Macht. In diesem Fall um Macht über mich. So sind sie alle: Anwyn, mein Vater, die ganze Sippschaft. Jetzt verstehst du vielleicht, warum sie mir so völlig gleichgültig sind, warum ich bereit bin, ihnen den Rücken zu kehren und dir deine Erinnerung zurückzugeben. Du bist die Einzige, die sich je wirklich für mich interessiert hat. Trotz meiner illustren Herkunft bist du die Einzige, die mich jemals wirklich geliebt hat. Ich verdanke dir alles, aber meiner Verwandtschaft bin ich nichts schuldig. Trotzdem scheint es mir so, als solltest du immer nur die Spreu abkriegen, während sie den Weizen beanspruchen.«
Rhapsody lachte und lehnte den Kopf an seine Schulter. Er legte den Arm um sie. »Welch ein treffendes Bild. Wer von uns beiden ist denn eigentlich das Bauernkind? Weizen ist nur gut, wenn man etwas essen will, Sam. Aber aus Spreu kann man sich ein wunderbar weiches Bett machen, und im Allgemeinen verbringen wir dort mehr Zeit als am Tisch.« Ihre Augen funkelten schelmisch, und er lachte mit ihr und drückte sie an sich. »Außerdem kann man mit Spreu auch ein hervorragendes Freudenfeuer veranstalten. Also unterschätze den Wert der Spreu lieber nicht, Sam. Mit dem Brot werden wir bestimmt auch irgendwann an die Reihe kommen.«
Ashe seufzte tief und streichelte ihr Haar.
Lange blickten sie ins Feuer, in angenehmer Vertrautheit aneinander gekuschelt, und sahen zu, wie die Flammen in lautlosem Tanz die Farbe wechselten. Schließlich sagte er: »Ich habe eine Frage.«
»Oh, gut. Ich auch.«
»Du zuerst.«
»Nein, du.«
»Na gut«, meinte er, froh über die Banalität ihres Austauschs. »Warum hast du angefangen, dich Rhapsody zu nennen?«
Sie lachte. »Nana fand meinen richtigen Namen zu gewöhnlich. Außerdem klang er in ihren Ohren viel zu steif für na ja, für meinen neuen Beruf.«
»Aber Emily ist doch ein schöner Name.«
»Emily ist eigentlich nur eine Abkürzung, im Grunde nichts weiter als ein Spitzname.«
»Wirklich?«, fragte Ashe neugierig. »Das wusste ich nicht. Wie lautet denn dein richtiger Name?«
Rhapsody wurde rot und sah weg, aber ihre Augen lächelten noch immer.
»Ach, komm schon«, schmeichelte er, packte sie um die Taille und lachte, als sie sich seinem Griff entwand. »Du willst mich heiraten, da sollte ich doch wenigstens deinen richtigen Namen kennen, oder nicht? Wo du doch schon jede Variation von meinem weißt.«
»Ich weiß aber auch nicht, warum du dich Ashe genannt hast.«
»Weil ›Gwydion‹ mich womöglich das Leben gekostet hätte. Aber lenk nicht ab. Wie lautet dein Name?«
»Vorsicht, Sam«, warnte sie ernst. »Ein Name ist mächtig. Mein alter Name ist in dieser Welt noch nie ausgesprochen worden. Wenn es geschieht, dann sollte es von einer besonderen Zeremonie begleitet werden, die ihn mit Macht umgibt, damit er nicht von den Dämonen der alten Welt missbraucht werden kann. Wie zum Beispiel eine Hochzeit.«
Er nickte, ebenfalls wieder ernst. Rhapsody spürte den Umschwung und krabbelte auf seinen Schoß zurück.
»Aber«, sagte sie, und ihre Augen funkelten schalkhaft, »wenn ich ihn dir Stückchen für Stückchen sage, dann wäre das wahrscheinlich in Ordnung.«
»Nur wenn ...«
»Rhapsody ist eigentlich mein Mittelname«, unterbrach sie ihn, ehe er seinen Satz vollenden konnte. »Meine Mutter war eine Himmelssängerin, ihr Name war Allegra.«
»Ein schöner Name.«
»Ein guter Name für eine Tochter, nicht wahr?«
»0 ja, da hast du Recht«, antwortete er mit einem zärtlichen Lächeln.
»Jedenfalls hat mich mein Vater nach seiner Mutter genannt, und Mama war davon überhaupt nicht begeistert. Sie fand den Namen zu bieder und langweilig. Ich weiß das, weil sie es mir einmal erzählte, als wir allein vor dem Feuer saßen und sie mir die Haare bürstete. Sie wollte mir einen lirinschen Namen geben, einen musikalischen Namen, weil sie glaubte, das würde mir eine musikalische Seele verleihen.«
»Sie war eine kluge Frau.«
»So jedenfalls entstand Rhapsody. Das ist nicht nur ein musikalischer Begriff, sondern es steht auch für Unberechenbarkeit, Leidenschaft und wilde Romantik. Sie hoffte, damit ein Gegengewicht zu meinem ersten Namen zu schaffen.«
Er küsste sie auf die Stirn. »Er passt wunderbar zu dir.«
»Danke.«
»Und?«, fragte er, und jetzt glitzerte der Schalk auch in seinen Augen. »Wie hieß deine Großmutter?«
»Elienne.«
»Nicht deine Lirin-Großmutter, du freche Göre. Wie lautete der Name deiner Großmutter väterlicherseits?«
Rhapsodys Gesicht wurde noch rosiger, entweder aus Verlegenheit oder weil sie das Lachen unterdrücken musste. »Amelia.«
»Amelia? Das gefällt mir. Emily ist also eine Abkürzung für Amelia. Klingt nett.«
»Meine Familie hat mich Emmy genannt«, erklärte sie weiter. »Meine Freunde Emily. Die Einzige, die mich Amelia nannte, war ...«
»Lass mich raten deine Großmutter?« Wieder lachte Rhapsody. »Wie hast du das nur erraten?« »Und welchen Nachnamen hatten die Farmerfamilien in deinem Dorf für gewöhnlich?«
Sie spielte mit. »Nun, der bekannteste war Bauer, wie in Anbauer. Das deutete an, dass sie Pflanzen in der Erde anbauten. Nette Leute, ich mochte sie alle sehr gern. Aber wenn wir mit dem Geschichtsunterricht fertig sind, würde ich dir jetzt gern meine Frage stellen. Darf ich?«
»Aber sicher. Nur zu.«
»Ich möchte wissen, wer diese andere Frau ist, die du aufsuchen und heiraten wolltest, die Frau, die du entdeckt hast, nachdem der Ring seine volle Kraft entfaltet hatte.«
»Es gab nie eine andere Frau, Rhapsody; ich habe immer von dir gesprochen.«
Rhapsody schüttelte den Kopf. »Als du gesagt hast, du wüsstest, wer die richtige Frau ist, diese Cymrerin, der du zugetraut hättest, die Herrscherin ...« »Das warst du.«
»Aha. Und die Frau, von der du mir erzählt hast, du wärst in sie verliebt, damals im Wald, als wir ...« »Auch du.« »Was ist mit...«
»Alles du, Rhapsody. In meinem Leben gibt es keine andere, und es hat auch nie eine gegeben außer dir. Bis heute Nacht dachte ich, es wären zwei Frauen, aber da Emily und du in Wirklichkeit ein und dieselbe seid, wird alles erstaunlich einfach. Damals habe ich dich als Emily geliebt, jetzt liebe ich dich als Rhapsody, und das ist sowohl ganz anders und doch auch gleich. Du bist die einzige Frau, die ich jemals angefasst, jemals geküsst, jemals geliebt habe.«
Sie schlang die Arme um seinen Hals. »Dann soll es so bleiben«, flüsterte sie und lächelte ihn an. »Ist dieser Wunsch egoistisch genug für dich?«
In dem Kuss, der nun folgte, ging seine Antwort unter; er umfasste ihr Gesicht, als sich ihre Lippen berührten, atmete sie ein wie den Frühlingswind und füllte seine Seele mit ihrer Essenz. Seine Hände glitten über ihren Rücken, streichelten die knittrige Seide ihres Kleides und begannen es vorsichtig aufzuknöpfen.
»Sam, bitte nicht.«
»Was ist los?«
Sie holte tief Luft und sah ihn fest an. »Angesichts der Tatsache, dass ich morgen keine Erinnerung daran haben werde, ist es keine gute Idee, sich heute Nacht zu verloben.«
Ashe machte ein enttäuschtes Gesicht. »Emily ...«
»Lass mich ausreden. Es hat keinen Sinn, wenn wir ein Ehegelübde ablegen. Ein solcher Schwur wird leicht gebrochen, und wenn man nicht einmal weiß, dass man ihn gemacht hat, ist er erst recht nutzlos. Nach allem, was du gehört hast, willst du mich immer noch heiraten?«
Seine Augen sprachen Bände. »Mehr denn je.«
»Angenommen, alles andere wäre unwichtig, würdest du dann, wenn du die Wahl hättest, morgen lieber als mein Verlobter aufbrechen oder als mein Ehemann?«
Allmählich dämmerte ihm, was sie meinte, und er lächelte. »Als dein Ehemann ohne jede Frage.«
Ihre Augen waren ein Spiegel von seinen. »Dann heirate mich, Sam. Heirate mich heute Nacht.«
Am nächsten Morgen erwachte Rhapsody, als das Licht durch die Vorhänge drang. Sie streckte sich in der wohligen Wärme des Betts, drehte sich um und stellte verblüfft fest, dass Ashe neben ihr lag. Sie erschrak; ihre Bewegung weckte ihn, und er schlug die Augen auf.
»Guten Morgen«, sagte er leise und lächelte sie an. In seinen Augen schimmerte unaussprechliches Glück.
»Guten Morgen«, antwortete sie verschlafen, erwiderte matt sein Lächeln und gähnte. »Ich muss schon sagen, ich wundere mich, dich noch hier zu sehen. Ich dachte, du hattest vor aufzubrechen, bevor ich erwache.« Als ihr Bewusstsein langsam zurückkehrte, wurde ihr peinlich klar, dass sie beide unter den Laken splitternackt waren.
»Wir haben uns noch bis spät in die Nacht unterhalten. Erinnerst du dich noch an etwas?«
Rhapsody ließ sich die Frage durch den Kopf gehen. »Nein«, sagte sie, und ihre Stimme klang ein klein wenig traurig. »Nachdem wir in die Laube gegangen sind, weiß ich nichts mehr das ist meine letzte Erinnerung. Dann hat also alles geklappt?«
Sein Lächeln wurde breiter, während er die Hand ausstreckte, nach einer ihrer Locken griff und sie sich über den Hals legte. »Sehr gut sogar.«
Rhapsodys Gesicht wurde ernst, als die melancholischen Gedanken von gestern zurückkehrten. »Warum bist du geblieben?«
Ruhig antwortete Ashe: »Wir wollten vor dem Abschied noch möglichst viel Zeit zusammen verbringen. Du warst einverstanden, ehrlich.«
Rhapsody setzte sich auf und sah ihr Seidenkleid als zerknittertes Häufchen auf dem Boden am Fußende des Betts liegen, seine Seemannssachen überall im Zimmer verteilt. Ihr stieg die Röte in die Wangen; rasch kroch sie unter die Decke zurück und sah ihn an.
»Dann haben wir miteinander geschlafen?«, fragte sie leise.
»Ja. O ja.«
Rhapsody machte ein verlegenes Gesicht. »Du du wolltest es, nicht wahr? Ich habe dich nicht mit Schuldgefühlen unter Druck gesetzt oder dich angefleht oder etwas Ähnliches?«
»Aber nein, überhaupt nicht«, antwortete Ashe lachend. »Als wäre das jemals nötig.«
Sie wandte sich ab, damit er die Traurigkeit in ihren Augen nicht sah. »Ich wollte, ich könnte mich daran erinnern«, meinte sie betrübt.
Ashe fasste sie behutsam an den Schultern und drehte sie zu sich um, dann küsste er sie zärtlich. »Eines Tages wirst du dich erinnern«, sagte er. »Ich bewahre die Erinnerung für dich auf, Aria. Eines Tages werden wir sie wieder miteinander teilen können.«
In den Smaragdaugen standen Tränen. »Nein«, flüsterte sie. »Vielleicht gehört sie eines Tages wieder mir, aber für dich ist es Zeit, mit jemand anderem Erinnerungen zu beginnen.«
Ashe zog sie näher zu sich heran, um sein Lächeln zu verbergen. »Morgen«, sagte er. »Jetzt bin ich noch hier bei dir. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, den Verlust auszugleichen, bis die Erinnerung dir wieder gehört.« Er legte sie zurück aufs Kissen und küsste sie wieder, während seine Hände liebevoll ihre Brüste streichelten.
Feuer gemischt mit Schuldgefühlen strömte durch Rhapsodys Adern. Rasch überließ sie sich ihrer Leidenschaft, angefacht vom Schmerz des so kurz bevorstehenden Abschieds, und sie liebten sich abermals, klammerten sich verzweifelt aneinander, als würden sie sich niemals wieder sehen.
Als es vorüber war, waren sie beide unglücklich. Rhapsody lag still in seinen Armen, überschwemmt von schlechtem Gewissen. Die nachdenkliche Traurigkeit in Ashes Augen jedoch war schlimmer; in der Nacht zuvor hatte er gespürt, wie ihre Seelen sich in reiner Ekstase berührt hatten, und heute war dieses Hochgefühl verschwunden, ersetzt von bitterem Bedauern, dem Schmerz darüber, dass das höchste Glück zu nah war und es ihnen doch wieder entglitt.
Schließlich stand Rhapsody auf, holte sich frische Kleider und verschwand im Badezimmer. Unterdessen zog Ashe die Sachen an, die sie für ihn auf seinem Tornister bereit gelegt hatte. Er verfluchte Llauron, er verfluchte Anwyn, er verfluchte sich selbst, jeden und alles, was ihn von Rhapsody trennte und für den Schmerz in ihren Augen verantwortlich war. Während er wartete, dass sie wieder herauskam, führten ihn erst seine Sinne, dann seine Augen zu dem Dreipfennigstück, das auf dem Teppich vor dem Feuer lag. Lächelnd bückte er sich, um es aufzuheben. Dann durchsuchte er den Haufen hastig abgestreifter Kleidungsstücke, fand das Medaillon und legte das Geldstück sorgfältig hinein. Er hatte Emily wieder gefunden, und sie war seine Frau. Wenn er sie jetzt nur vor allem Unheil bewahren und dafür sorgen konnte, dass sie ihn weiterhin liebte, bis sie ihre Erinnerung zurückbekam ...