Aus der Ferne war leicht zu erkennen, wie Yarim zu seinem Namen gekommen war. In der Sprache der Ureinwohner, die schon vor langer Zeit von Gwylliams Heeren gen Norden vertrieben worden waren, bedeutete das Wort ›rotbraun‹, die Farbe von getrocknetem Blut. Die meisten Gebäude bestanden aus Backstein des gleichen Farbtons, der aus der Erde des Landes hergestellt wurde, rotem Ton, im Feuer dunkelrot gebrannt. Die Hauptstadt, offiziell unter dem Namen Yarim Paar bekannt, aber meist nur mit dem Provinznamen bezeichnet, lag am Fuß eines hohen, sanften Hügels; näherte man sich ihr von Süden her, so blieb einem der Blick auf sie bis kurz vor dem Ende der Reise verwehrt. Plötzlich aber lag die Stadt zu Füßen des Reisenden und erstreckte sich in alle Richtungen. Da die Bauwerke dieselbe Farbe wie die Erde hatten, dauerte es eine Weile, bis das Auge sie überhaupt wahrnahm, wenn man im Wind auf dem Hügel stand. Man hatte beinahe das Gefühl, sie wären schlichtweg aus dem Boden gewachsen, das Einzige, was hier gedieh. Die Stadt sah aus, als brauchte sie dringend Wasser.
Von Osten her hatten die Winde eine Hitzewelle herangetragen. Der Frost, der wochenlang den Boden bedeckt hatte, war verschwunden, und an seine Stelle war das Gefühl eines falschen Sommers getreten, heiß und trocken. In den Wäldern weiter im Osten war das Wetter prächtig, aber hier in dieser Gegend wirkte es trostlos.
Einst war Yarim eine blühende Stadt gewesen, aber jetzt entdeckte Rhapsody überall, wo sie hinsah, Zeichen des Verfalls. Die Straßen waren mit Steinen gepflastert, aber in den Ritzen gediehen ungehindert Unkraut und Sonnengebleichtes Gras. Die Rinnsteine waren mit Müll verstopft, und das Wasser, das für den Hausgebrauch in großen Fässern gesammelt wurde, wies die gleiche schlammigbraune Farbe auf wie die Backsteine.
An vielen Ecken standen Gruppen von Bettlern, ein so normaler Anblick, dass die Leute, die an ihnen vorbeikamen, kaum Notiz von ihnen nahmen. Einige von ihnen waren zweifellos zwielichtige Gestalten und Gesindel, aber viele trugen den Ausdruck verzweifelten Hungers im Gesicht, an den Rhapsody sich nur allzu gut erinnerte. Eine junge Mutter mit einem Säugling erschien ihr besonders bedürftig, und sie griff nach ihrer Geldbörse, die sie gut versteckt am Körper trug. Aber zu ihrer Überraschung kam Ashe ihr zuvor, indem er der Frau ein paar Münzen in den Schoß warf. Rasch drückte sie der Frau noch ein Goldstück in die Hand und beeilte sich, Ashe wieder einzuholen.
»Ich wundere mich ein bisschen«, sagte sie.
»Worüber?«
»Ich dachte nicht, dass du zu den Leuten gehörst, die Almosen geben.«
Ashe sah sie an. »Rhapsody, ich habe die letzten zwanzig Jahre unter diesen Menschen gelebt. Gut, ich habe die meiste Zeit im Wald verbracht, aber sogar ich musste von Zeit zu Zeit in die Stadt, und da konnte ich mich wohl kaum unter die feinen Herrschaften mischen, oder? Der größte Teil meiner menschlichen Kontakte fand auf der Straße statt. Nicht nur durch meinen Umhang habe ich gelernt, wie man übersehen werden kann. Das gehört hier und auch auf den Straßen anderer Städte zum Alltag. Das Leben unter diesen Menschen hat mich schließlich davon überzeugt, dass ich als cymrischer Herrscher vielleicht doch etwas Nützliches tun könnte. Wir sind da.«
Sogleich wandte Rhapsody ihre Aufmerksamkeit dem großen Gebäude vor ihnen zu. In mancher Hinsicht erinnerte das tempelähnliche Bauwerk an die Stadt als Ganzes: majestätisch gebaut, aber heruntergekommen. eine Reihe rissiger Marmorstufen führte zu einem weitläufigen, mit Einlegearbeiten verzierten Vorplatz. Auf dem unregelmäßigen Untergrund erhoben sich acht riesige Säulen, alle über und über mit Moos und Flechten bewachsen. Das zentrale Gebäude war eine große Rundhalle, gekrönt von einer Kuppel, durch die sich zwei breite Risse zogen. Zu beiden Seiten befand sich jeweils ein großer Anbau mit kleineren Säulen, die sich in etwas besserem Zustand befanden. Ein hohes, schlankes Minarett, das metallisch blau in der Sonne glänzte, krönte den Mittelbau.
Sie stiegen die breiten Stufen hinauf und durchquerten das offene Portal. Im Innern des Tempels war es dunkel, Fackeln und Kerzen sorgten für trübes Licht. Es dauerte einen Augenblick, bis Rhapsody sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatte. Um den Innenraum schien man sich besser zu kümmern. Zwar hatte Ashe unterwegs auf ihrer langen Reise erwähnt, dass die labyrinthartigen Anbauten verstaubt und verwahrlost seien, aber wenn Rhapsody sich jetzt in dem wunderschön gearbeiteten Foyer umschaute, konnte sie das nicht bestätigen.
In der Mitte des weitläufigen Raums befand sich ein großer Brunnen, von dem ein dünner Wasserstrahl zwanzig Fuß hoch in die Luft stieg und dann in ein mit schimmerndem Lapislazuli eingefasstes Becken herabplätscherte. Der Fußboden war aus poliertem Marmor, die Wände mit kunstvoll verzierten Fliesen getäfelt, die Wandleuchter aus glänzendem Messing.
Auf beiden Seiten dieses Raums befand sich ein Vorzimmer; hier standen Wachsoldaten mit langen, dünnen Schwertern. Ihnen gegenüber, hinter dem Brunnen, war eine kunstvoll geschnitzte Tür aus Zedernholz, die ebenfalls bewacht wurde.
Rhapsody und Ashe gingen um den Brunnen herum und blieben bei den Wachen an der großen Tür stehen. Nachdem sie einen erklecklichen Geldbetrag bezahlt hatten, wurde ihnen die Tür geöffnet, und sie durften ins Allerheiligste eintreten. Mit der Eintrittsgebühr, so erklärte man ihnen, werde für den Fortbestand des Orakels gesorgt. »Ob Manwyn wohl darüber Bescheid weiß?«, meinte Ashe laut zu Rhapsody.
Der Raum hinter der Zedernholztür war riesig, erhellt durch das Licht, das durch eine Reihe kleiner Fenster in der Kuppel einfiel, und zahllose Kerzen. In der Mitte des Raums befand sich, gefährlich nah am Rand eines großen offenen Brunnens, ein Podest. Darauf saß mit übereinander geschlagenen Beinen eine Frau, bei der es sich um Manwyn handeln musste: groß, dünn, rosiggoldene Haut, feuerrotes Haar mit grauen Strähnen. Auf ihrem Gesicht erkannte man unschwer die Falten des mittleren Lebensalters; ihr Lächeln war seltsam und irgendwie beunruhigend. In der linken Hand hielt sie einen kunstvoll verzierten Sextanten, und sie war ganz in grüne Seide gekleidet.
Doch es waren die Augen der Seherin, die Rhapsody faszinierten. Sie wirkten noch weniger menschenähnlich als die von Ashe, und wenn man hineinsah, blickte einem das eigene Spiegelbild entgegen. Ohne Pupille, ohne Iris, ohne Lederhaut, die ihnen irgendwelche Konturen verliehen, waren sie Spiegel, vollkommene silberne Spiegel. Rhapsody hatte das Gefühl, in zwei Quecksilberkugeln zu schauen, und sie bemühte sich, nicht allzu sehr zu starren. Manwyn lächelte.
»Sieh in den Brunnen«, sagte sie. Ihre Stimme war ein unmelodisches Krächzen, das Rhapsody an der Schädeldecke schmerzte. Rasch tauschte sie einen Blick mit Ashe, der nickte. Seite an Seite näherten sie sich dem Podest.
»Nein, du nicht«, fauchte Manwyn und funkelte Ashe wütend an. »Du musst warten. Die Zukunft verbirgt sich vor dem, der in der Gegenwart unsichtbar bleibt.« Wie um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, spuckte sie verächtlich in seine Richtung aus. Rhapsody schluckte, ging aber weiter auf den Brunnen zu. Sie dachte daran, was Llauron ihr über Manwyn erzählt hatte: dass sie die labilste der Seherinnern sei, die Verrückteste. Obwohl sie nicht lügen konnte, war es manchmal schwer zu unterscheiden, wann es sich bei ihren Sprüchen um echte Prophezeiungen handelte und wann/um die Phantasien eines verwirrten Verstandes. Außerdem waren ihre Worte zuweilen doppeldeutig, oder sie besäßen verborgene Bedeutungen, sodass man sich nicht wirklich auf sie verlassen konnte. Aber es gab keine bessere Möglichkeit, um etwas über die Zukunft zu erfahren, und für diejenigen, die ihren Tempel aufsuchten, war sie oft die letzte Zuflucht. Wie jeder andere Ratsuchende hoffte auch Rhapsody, dass Manwyn heute einen vernünftigen und ausgeglichenen Tag hatte. So trat sie an den Rand des Brunnens, wappnete sich innerlich und blickte hinein. Ein gähnender Abgrund tat sich im Boden vor ihr auf, scheinbar ohne Grenzen, bodenlos. In der Dunkelheit war es ziemlich gefährlich, sich ihm zu nähern, denn die Ränder waren ungleichmäßig und im dämmrigen Licht schwer zu erkennen. Die Seherin lachte gackernd und zeigte zu der dunklen Kuppel empor.
Zum ersten Mal blickte Rhapsody hinauf und sah, dass die Kuppel schwarz war wie die Nacht, entweder durch einen architektonischen Trick oder durch Magie. Sie war über und über mit Sternen bedeckt vielleicht auch nur mit deren Abbildern, die blinkten, während dunstige Wolkenschleier an ihnen vorüberzogen. Rhapsody spürte, wie der Wind an ihrem Umhang zerrte, und wusste auf einmal, dass sie sich nicht mehr im Tempel befand, sondern draußen im Freien, am einsamsten Punkt der Nacht, mutterseelenallein mit der Seherin. Eine Sternschnuppe sauste über den Himmel, der Wind wurde stärker und peitschte ihr ins Gesicht, i »Rhapsody.« Ashes Stimme unterbrach ihre Träumerei; sie sah sich um und konnte ihm Halblicht des Tempels vage die Umrisse seines Umhangs ausmachen. Als sie sich zu Manwyn umwandte, war alles wieder so wie vorhin, als sie eingetreten waren, nur sah die Prophetin jetzt verärgert aus. Sie hielt den Sextanten ans Auge, deutete wieder in die dunkle Nachtkuppel empor und deutete dann auf den Brunnen.
»Schau hinein, um Zeit und Ort zu finden, die vorbestimmt sind«, sagte sie. Rhapsody holte tief Luft; sie hatte noch nicht einmal ihre Frage gestellt. Dann starrte sie in den Abgrund hinunter, wo sich ein Bild zu formen begann. Als es klarer wurde, erkannte sie eine Lirin-Frau mit grauem Gesicht, offensichtlich von Schmerzen gepeinigt, hochschwanger. Sie war gerade stehen geblieben, um sich auszuruhen, und hielt sich mit der Hand den großen, runden Bauch. In der Kuppel war ein kratzendes Geräusch zu hören, und Rhapsody blickte empor. Die Sterne hatten sich auf einen anderen Längen und Breitengrad verschoben, und sie prägte sich ihre Position genau ein. Zweifellos zeigte Manwyn ihr den Ort, an dem sie diese Frau finden würde.
»Wann, Großmutter?«, fragte sie ehrerbietig. Manwyn lachte, ein wildes, schreckliches Kichern, das Rhapsody schaudern ließ.
»Eine Seele geht, eine Seele kommt, in elf Wochen von dieser Nacht heute«, antwortete sie, als das Bild im Brunnen verschwand. Manwyn starrte auf etwas hinter Rhapsody, und als diese sich umwandte, sah sie Ashe näher kommen, zum ersten Mal mit zurückgeworfener Kapuze. Ein Lächeln breitete sich langsam auf dem Gesicht der Seherin aus, triumphierend, aber auch ein bisschen grausam. Sie sah Ashe direkt an, aber als sie zu sprechen begann, richtete sie ihre Worte weiterhin nur an Rhapsody.
»Ich sehe die Geburt eines unnatürlichen Kindes, hervorgegangen aus einer unnatürlichen Verbindung. Nimm dich vor dieser Geburt in Acht, Rhapsody: Die Mutter wird sterben, das Kind aber wird überleben.«
Rhapsody begann zu zittern. Jetzt verstand sie, was Ashe mit seiner Warnung vor vagen Prophezeiungen gemeint hatte. Bezog sich Manwyn auf die Lirin-Frau oder auf sie? Obgleich der Kontext Ersteres nahe legte, deutete die Klarheit in ihrer Stimme auf das andere hin. Sie wollte nachfragen, brachte aber kein Wort heraus.
»Was soll das bedeuten?«, wollte Ashe wissen. So wütend hatte Rhapsody ihn noch nie erlebt.
»Was für ein Spiel spielst du, Manwyn?«
Manwyns Hände schössen hinauf zu ihrem flammend roten Haar, ihre Finger bohrten sich in die ungepflegten Locken und zwirbelten sie zu langen verknoteten Strähnen. Lächelnd starrte sie zur Decke, summte eine wortlose Melodie und warf Ashe dann einen Blick zu, so direkt es mit ihren einfarbigen Augen eben ging.
»Gwydion ap Llauron, deine Mutter ist gestorben, als sie dich zur Welt brachte, aber die Mutter-Meiner Kinder wird bei ihrer Geburt nicht sterben.« Dann brach sie in wahnsinniges Gelächter aus.
Ashe berührte Rhapsodys Schulter. »Machen wir, dass wir hier wegkommen«, meinte er mit leiser Stimme. »Hast du erfahren, was du wissen wolltest?«
»Ich bin nicht sicher«, entgegnet Rhapsody. Ihre Stimme zitterte, wenngleich sie die Angst nicht verspürte, die sie deutlich darin vernahm.
»Gwydion, hast du deinem Vater Lebewohl gesagt? Er stirbt in den Augen aller, um zu leben, wo keiner ihn sieht; du spielst ein doppeltes Spiel, dennoch wirst du von seinem lebendigen Tod profitieren und auch unter ihm zu leiden haben. Weh dem Menschen, der für den Mann lügt, welcher ihn den Wert der Wahrheit gelehrt hat, Gwydion; du bist es, der den Preis für seine neu gewonnene Macht bezahlen wird.«
»SIKLERIV!«, fauchte Ashe mit einer mehrtönigen Stimme, die Rhapsody noch nie bei ihm gehört hatte, und das Wort drang durch sie hindurch wie ein Messer. Aus irgendeinem Grunde wusste sie, dass es »Ruhe!« bedeutete, und es klang fast wie ein übles Schimpfwort. Vermutlich war es die Drachensprache.
Ashe war rot angelaufen, und Rhapsody sah, wie die Ader auf seiner Stirn zu pulsieren begann.
»Kein Wort mehr, du wyrmzüngige Wahnsinnige!«, brüllte er.
Rhapsody überlief es kalt, denn sie spürte den Zorn des sich aufbäumenden Drachen. Tödlich ruhig war er, mit einer listigen, gebieterischen Energie, die ihre Füße und Hände taub machte. Plötzlich wurde ihr klar, dass auch in Manwyns Adern Drachenblut floss. Ihr Herz pochte, und sie nahm Ashes Hand.
»Lass uns gehen«, flüsterte sie drängend und zog ihn am Arm. Er widersetzte sich, offensichtlich kurz davor, sich auf den Kampf zweier starker Willen einzulassen. Rhapsody überkam Panik, wenn sie nur daran dachte. Manwyn erhob sich auf die Knie und stieß ein Geheul aus, das die Grundfesten der Rundhalle erschütterte, sodass Steinbrocken und Staub von der Decke fielen.
Die Augen noch immer auf das kreischende Orakel gerichtet, umfasste Ashe Rhapsodys Hand fester. Stück für Stück fühlte sie ihn entgleiten, völlig absorbiert von seiner Gegnerin, die jetzt wild auf ihrem Podest über dem bodenlosen Abgrund hin und her schwankte. Die Luft wurde immer dicker von Staub und Statik, Rhapsody konnte kaum atmen. Unter ihren Füßen bebte die Erde, und das Firmament der Kuppel schien in Flammen aufgehen zu wollen. Noch einmal zerrte Rhapsody mit aller Kraft an Ashe, aber sein Widerstand war noch größer geworden. Da holte sie tief Luft und sang seinen Namen, ein tiefer, leiser Ton, untermalt von Manwyns ohrenbetäubendem, abscheulichem Kreischen. Der Klang erfüllte den Rundbau, übertönte das Geheul, und Manwyn erstarrte. Ashe blinzelte, und in diesem Augenblick schleifte Rhapsody ihn aus dem Raum, verfolgt von Manwyns hysterischem Gelächter, das in ihren Ohren widerhallte.
Erst auf halbem Weg zum Stadttor hörten sie auf zu rennen. Ashe fluchte leise in zahlreichen verschiedenen Sprachen und Dialekten vor sich hin. Zwar versuchte Rhapsody, ihn zu ignorieren, fand aber seine Schimpfkanonade auf widerwärtige Art anziehend. Am Rand eines sehr großen ausgetrockneten Brunnens machten sie Halt und setzten sich, atemlos in der feuchten Hitze. Rhapsody erstickte fast unter ihrem Umhang und zitterte vor Anstrengung. Schließlich blickte sie auf und sah Ashe wütend an.
»War das wirklich nötig?«
»Sie hat angefangen. Ich habe nichts getan, um sie gegen mich aufzubringen.«
»Nein«, räumte Rhapsody ein, »das hast du wirklich nicht. Aber warum hat sie dich dann angegriffen?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Ashe, zog seinen Wasserschlauch hervor und bot ihn ihr an.
»Vielleicht hat sie sich bedroht gefühlt; Drachen sind oft unberechenbar.«
»Das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte sie, nahm einen großen Schluck aus dem Schlauch und gab ihn Ashe zurück. »Nun, das wäre überstanden. Allerdings muss ich sagen, je mehr ich von deiner Familie kennen lerne, desto weniger mag ich sie.«
»Und dabei bist du noch nicht einmal meiner Großmutter begegnet«, meinte Ashe und lächelte zum ersten Mal. »Das ist ein unvergleichliches Erlebnis. Hoffentlich taucht sie nicht beim Rat der Cymrer auf.«
Rhapsody schauderte. »Ja, hoffen wir es. Und was machen wir jetzt?«
Ashe beugte sich zu ihr und küsste sie, was ihm einen amüsierten Blick von ein paar vorbeischlendernden Bettlerinnen einbrachte. »Gehen wir einkaufen.«
»Einkaufen? Du machst Witze.«
»Aber nein. Yarim hat ein paar wunderbare Basare und einen Gewürzhändler aufzuweisen, dessen Bekanntschaft sich für dich bestimmt lohnt, wo du derlei Dinge doch so schätzt. Ich möchte gern etwas kaufen, was ich bei unserem Abschiedsessen tragen kann, und vielleicht auch noch ein paar ungewöhnliche Zutaten für unser Essen. Außerdem kann ich mir kaum vorstellen, dass du dir eine Gelegenheit zum Einkaufen entgehen lässt.«
Rhapsody lachte. »Ja, das stimmt«, gab sie zu. »Ich habe gehofft, ein paar nette Präsente für meine Enkel zu finden und vielleicht auch ein Geburtstagsgeschenk für Grunthor. Was meinst du, worüber er sich freuen würde?«
Ashe erhob sich, reichte ihr die Hand und half ihr auf. »Ich glaube, er würde dich gern in einem weit ausgeschnittenen, rückenfreien roten Kleid sehen.« Rhapsody musterte ihn.
››oh, richtig, tut mir Leid, da habe ich etwas verwechselt das Ansehe ich mir. Also Grunthor, hmmm. Sammelt er Souvenirs von seinen Heldentaten?«
Rhapsody schauderte. Schon seit jeher fand sie den Brauch widerlich, Körperteile von besiegten Feinden aufzubewahren.
»Manchmal.« »Na, wie wäre es dann mit einer hübschen Truhe für seine Trophäen?«
»Nein, ich glaube, das lieber nicht.« »Ach komm schon, sei ein bisschen erfinderisch. Welche Form würde sich eignen? Ich meine, sammelt er Köpfe? Dann könntest du ihm eine Garderobe mit Hutständern besorgen.«
Rhapsody dachte nach. »Nein, er sammelt keine Köpfe, es wäre ihm zu mühsam, sie abzuschneiden. Ich denke, eine Zigarrenkiste wäre eher geeignet.« Sie sah, wie sich ein amüsierter und zugleich angeekelter Ausdruck über sein Gesicht ausbreitete. »Nun, es war deine Idee.«
»Richtig.« Inzwischen hatten sie sich auf den Weg zu dem belebteren Viertel der Stadt gemacht, zu dem anscheinend auch die meisten anderen Passanten unterwegs waren.
»Rhapsody, ich muss dich um einen Gefallen bitten.« »Aber gern.«
»Sag das lieber nicht so schnell«, entgegnete er ernst. »Ich gehe davon aus, dass du es genauso ungern hörst, wie ich dich darum bitte.«
Sie seufzte. »Na gut. Worum geht es?« Er blieb stehen und sah ihr ins Gesicht. »Vielleicht erscheint es dir unsinnig. Vorhin hat Manwyn etwas gesagt, was du eigentlich nicht hören solltest, nicht weil ich es vor dir geheim halten will, sondern weil es eine große Gefahr für deine Sicherheit darstellt, für deine eigene und die einiger anderer Leute.« Er ergriff ihre Hände. »Hast du so viel Vertrauen zu mir, dass du es wagen würdest, dir die Erinnerung von mir wegnehmen zu lassen, nur für eine kleine Weile? Bis es wieder sicher ist?«
»Was faselst du da?«, fragte sie ärgerlich. »Gehört das auch zu deinem ganzen cymrischen Unsinn?«
»In gewisser Weise, ja. Aber es geht mir mehr um die Gefahr für dich als um sonst etwas, wenn ich dich darum bitte, denn ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt. Glaubst du mir das?«
Wieder seufzte sie tief. »Ich denke schon.«
Ashe lachte auf. »Wie überzeugend!«
»Nun, was erwartest du, Ashe ? entgegnete Rhapsody mit wachsendem Ärger. »Zuerst muss ich mich mit einer exzentrischen Prophetin herumschlagen, die in Rätseln spricht, und dann muss ich mir auch noch anhören, wie du dasselbe tust? Was willst du denn? Was meinst du damit, dass du mir die Erinnerung wegnehmen willst?«
»Du hast Recht«, erwiderte er, und seine Stimme wurde sanfter. »Ich weiß, dass das für dich unerträglich ist, Rhapsody. Deine Erinnerungen sind eine Art Schatz. Als solche kann ich sie sammeln, aber nur mit deiner Zustimmung. Sie können in einem reinen Gefäß aufbewahrt werden, so ähnlich, wie du es mit meiner Seele getan hast, bis zu dem Zeitpunkt, an dem es für dich nicht mehr gefährlich ist, sie wieder zu dir zu nehmen.«
Rhapsody rieb sich die Schläfen. »Woher soll ich wissen, was ich zurücknehmen muss, wenn ich mich gar nicht mehr daran erinnere?«
»Ich werde es dir ins Gedächtnis rufen. Und ich werde dir ein Zeichen geben, falls mir etwas zustößt. Was ich vorschlagen möchte, ist Folgendes: In der Nacht, in der wir voneinander Abschied nehmen, werde ich dir alles erklären, was du im Augenblick noch nicht verstehst. Ich werde dir nichts vorenthalten. Wir setzen uns in die Laube in Elysian können wir offen miteinander sprechen, und ich werde dafür sorgen, dass ein Gefäß zur Verfügung steht, das die Erinnerung an diese Nacht und an das Gespräch mit Manwyn aufnimmt und sicher verwahrt.«
»Das kann ich nicht«, entgegnete sie. »Tut mir Leid. Ich brauche die Information, die sie mir gegeben hat.«
»Ich meine nur das, was sie gesagt hat, nachdem sie dir deine Information gab«, erklärte Ashe. »Den Rest sollst du behalten. Bitte, Rhapsody, versteh doch, dass ich so etwas nicht von dir verlangen würde, wenn es nicht notwendig wäre. Hör dir an, was ich zu sagen habe, wenn wir zurückkommen. Wenn du mir deine Erlaubnis dann nicht geben willst, beuge ich mich deinem Entschluss. Aber bitte ziehe es wenigstens in Erwägung.«
»Nun gut«, stimmte sie zögernd zu. »Aber jetzt lass uns einkaufen gehen.« Sie atmete erleichtert auf, als der Teil seines Gesichts, den sie unter der Kapuze sehen konnte, sich zu einem Lächeln entspannte. Sie war nicht sicher, was schlimmer war die Aussicht, dass er sie bald verlassen würde, oder noch eine Täuschung mitzumachen, was dem cymrischen Volk eingeboren zu sein schien. Doch im Grunde spielte es keine Rolle. Beide Probleme würden demnächst ausgestanden sein.