Rhapsody war wie ein Kind, das ein Geheimnis mit sich herumträgt. Noch Tage nach ihrem Besuch bei der Drachin strahlte sie, obgleich sie nicht hätte erklären können, warum eigentlich. Ashe hatte den Eindruck, dass sie zwar bereit war, offen darüber zu sprechen, es aber aus irgendwelchen Gründen nicht vermochte und vielleicht auch Schwierigkeiten hatte, das, was sie in der Höhle gesehen und gefühlt hatte, in Worte zu kleiden. So war die Atmosphäre zwischen ihnen wesentlich fröhlicher als auf ihrer ersten gemeinsamen Wegstrecke, und das trotz des Regens und des Schlamms, dem sie nun ausgesetzt waren. Rhapsody schien ihm seinen Fehler am Tar’afel verziehen zu haben und scherzte entweder ausgelassen mit ihm oder ging in entspanntem Schweigen, hinter dem ihre innere Aufregung lauerte, neben ihm her. Diese Hochstimmung faszinierte seine Drachennatur, und so verfiel sie Rhapsody genau wie seine menschliche Seite nur noch mehr. Gelegentlich, wenn sie Halt machten, um zu essen, oder wenn sie abends am Feuer saßen, ertappte er sie dabei, wie sie ihn nachdenklich betrachtete, als versuchte sie, die Erinnerung an seine Gesichtszüge, die er ihr offenbart hatte, in den Schemen seiner Kapuze wieder zusammenzusetzen. Sobald sie merkte, dass er sie beobachtete, lächelte sie ihn an. Obgleich dieses Lächeln dasselbe war, mit dem sie auf ihre natürliche Art andere Freunde und Bekannte bedachte, spürte er doch irgendwie, dass darin etwas mitschwang, das ihm allein gehörte, nur ihm vorbehalten blieb. Angesichts der Auswirkungen, die es auf ihn hatte, war er froh, dass er nahezu unsichtbar war.
Nach drei Tagen Wanderung durch Regen und Schlamm gelangten sie zu einer Lichtung. In der Ferne hörte Rhapsody den Klang fallenden Wassers, aber aus irgendeinem Grund war die genaue Richtung nicht leicht festzustellen. Nach einer Weile war sie überzeugt, dass sie im Kreis gingen, denn sie waren soeben zum dritten Mal am selben Haselstrauch vorbeigekommen. Mitten auf dem Waldweg blieb sie stehen.
»Haben wir uns verirrt?«
»Nein.«
»Warum führst du mich dann im Kreis herum?«
Ashe seufzte, und Rhapsody glaubte ein Lächeln in seiner Stimme zu hören, als er antwortete:
»Ich habe einen Augenblick ganz vergessen, dass du eine Lirin bist. Kein anderer hätte es bemerkt.«
»Und?«, beharrte sie ein klein wenig verärgert.
Er schwieg einen Augenblick. »Tut mir Leid«, antwortete er dann. »Ich erkläre es dir, wenn wir zu unserem Unterschlupf kommen.«
»Unserem Unterschlupf?«
»Ja, es gibt da eine Stelle, an der wir unser Nachtlager aufschlagen werden, eine Stelle, wo wir baden können und zumindest einer von uns in einem Bett schlafen kann. Beide, wenn du dazu bereit bist.« Der neckende Unterton war in seine Stimme zurückgekehrt.
»Aber du willst verhindern, dass ich diese Stelle später wieder finde.«
Wieder seufzte Ashe. »Ja.«
Auch Rhapsody seufzte. »Würde es helfen, wenn ich die Augen schließe?«
»Das ist nicht notwendig«, lachte Ashe. »Komm, ich zeige dir, wo es ist.«
Das Brausen des Wassers wurde lauter, als sie zu einem Wäldchen mit Eschen und blühenden Holzapfelbäumen gelangten. Rhapsody war wie verzaubert, duckte sich unter einem Ast hindurch und trat in das Wäldchen, wo sie sich langsam umdrehte und sich an den zarten rosaroten und weißen Blüten und dem blassen Grün der frischen Frühlingsrinde ergötzte. Die Nachmittagssonne brach durch das Blätterdach, und Rhapsody streckte die Hände aus, als wollte sie ihre Strahlen einfangen. Die Waldluft war süß, reich vom Duft des gefallenen Regens.
»Welch ein wunderschöner Ort«, murmelte sie. »Kein Wunder, dass du ihn für dich behalten willst.«
Ashe lächelte. »Ich möchte ihn aber gar nicht für mich behalten«, widersprach er.
»Schließlich bist du ja hier, oder etwa nicht?«
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Rhapsody, die immer noch staunend um sich blickte.
»Vielleicht träume ich ja.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Ashe. »Ich habe deine Träume schon des Öfteren miterlebt, und ich bezweifle stark, dass sie so aussehen.« Rhapsody zuckte zusammen. Natürlich hatte er Recht, aber die Erinnerung daran, wie beunruhigend ihre Albträume sein konnten, ließ sie vor Verlegenheit erröten. So entschloss sie sich, in dieser Nacht möglichst weit weg von ihm zu schlafen.
Sie wanderten weiter in das Tal hinein; das Lied der Vögel wurde lauter und wetteiferte mit dem Wasserrauschen, das ihr zuvor schon aufgefallen war. Endlich erhaschte sie einen Blick auf einen Wasserfall. Er ergoss sich in vier Etappen über einen versteckten Abhang. Der Bach, den er bildete, floss in eine tiefe Schlucht; der Frühlingsregen ließ ihn kräftig anschwellen.
»Zeig mir mal deine Stiefel«, verlangte Ashe. Rhapsody beugte die Knie und hielt eine Sohle hoch. Anscheinend zufrieden gestellt, nickte er. »Dieses Mal musst du meine Hand nehmen, Rhapsody. Die Schlucht ist steil und der Schiefer um den Wasserfall herum äußerst schlüpfrig. Du wirst nicht genug Halt finden, aber wenn du mir deine Hand gibst, verspreche ich dir, dich nicht zu tragen, wenn ich es vermeiden kann.«
Sein Ton war leicht, aber Rhapsody wusste, dass er es ernst meinte; er würde sein Versprechen halten.
»Wie willst du wissen, wo ich Halt finde?«, scherzte sie ebenfalls. »Bist du etwa auch der Allgott?«
Ashe lachte. Rhapsody gab ihm ihre Hand, wobei sie bemerkte, dass er einen Blick auf ihr Handgelenk warf, wie er es immer tat, wenn ihre Hände sich berührten. So führte er sie zum Wasser. »Man hat mir schon einiges vorgeworfen, aber das noch nicht.«
Sie wateten durch den Bach und glitten nur ein einziges Mal aus. Rhapsody war froh, dass er sie festhielt, als sie in die Schlucht hinunterblickte. Sicher geleitete er sie ans andere Ufer, wo Büsche und Kraut die Felswand des Hügels flankierten. Dort hielt Ashe einen großen Ast für sie zur Seite und trat zurück, sodass sie vorgehen konnte.
Sie befand sich in einem verborgenen Teil des Tals, wo es dunkler war. Ihre Augen brauchten eine Weile, bis sie sich angepasst hatten; dann merkte sie, dass vor ihr eine kleine Hütte aufragte. Sie war aus Stein gebaut, das Dach schien aus Torf zu bestehen. Durch die Blumen und Gräser des Waldes, die auf dem Dach und um die Hütte herum wucherten, war sie kaum zu erkennen, schmucklos, mit nur einem Fenster und einer Tür. Neben ihr hatte sich ein großer Teich vom Rückfluss des Wasserfalls gebildet.
»Bleiben wir hier?«
»Ja. Ist das in Ordnung?«
»Ich finde es wundervoll«, sagte Rhapsody und lächelte ihn an. »Ich hätte nie gedacht, dass es hier eine Hütte gibt.«
»Genau das war meine Absicht«, entgegnete Ashe freundlich, nahm sie abermals bei der Hand und führte sie zu der Hütte hinüber. »Dies ist der einzige Ort auf der Welt, an dem ich meinen Umhang ablegen und ein gewöhnlicher Mensch sein kann jedenfalls der einzige Ort an Land. Wenn ich auf See bin, trage ich auch keinen.«
Rhapsody verstand die Bemerkung nicht ganz. Wenn der Nebel des Umhangs Ashes Schwingungen verbarg, dann musste es das Wasser sein, das ihn vor den Blicken seiner Verfolger verbarg. Sie erinnerte sich, dass Ashe einmal etwas Derartiges erwähnt hatte. Allmählich klärten sich die Dinge in ihrem Kopf; kein Wunder, dass Achmed sich in Ashes Gegenwart unwohl fühlte. Er konnte ihn mit seinen Schwingungssinnen nicht wahrnehmen. Das Rauschen des Wasserfalls musste die gleiche Wirkung haben, noch dadurch verstärkt, dass er in dieser versteckten Schlucht lag. Doch dann kam ihr ein Gedanke.
»Nein, das ist nicht der einzige Ort«, sagte sie aufgeregt. »In meinem Haus wärst du auch in Sicherheit.«
Ashe schauderte. »Im Kessel? Nein danke.«
Rhapsody schubste ihn zum Spaß. »Mein Haus liegt nicht im Kessel«, erwiderte sie. »Und ich denke, es ist noch schwerer zu finden als dieser Ort hier.«
»Ach ja?« Ashes Ton klang unverbindlich. Er öffnete die Tür und hielt sie aufgesperrt, damit die Brise vom Wald für ein wenig frische Luft sorgen konnte. Rhapsody spähte hinein. Der Raum war klein, mit einem zerwühlten Einzelbett und einem winzigen Kamin. Außerdem gab es einen Wandschrank ohne Tür, vom Zimmer mittels eines verschlissenen Vorhangs abgeteilt; in dem Schrank konnte sich eigentlich nicht viel befunden, denn auf dem Boden lagen in chaotischer Unordnung alle möglichen Dinge verstreut. Auf jeder horizontalen Fläche stand gebrauchtes Geschirr herum, vermischt mit Socken und Unterwäsche; eine ungewaschene Garnitur hing sogar am Garderobenhaken. Verdutzt über die Schlamperei blickte Rhapsody sich um.
»Himmel, das ist also deine Unterkunft?«, fragte sie ungläubig. »Wie willst du hier drin auch noch Platz finden?«
»Ganz einfach«, erwiderte Ashe abwehrend, jedoch mit einem Lachen in der Stimme. »Nur zu deiner Kenntnis: Die Hütte hat genau die richtige Größe für eine Person und vielleicht noch einen nachsichtigen Gast dazu. Alle anderen müssen draußen schlafen.«
Rhapsody schob ihn beiseite und trat ein. Die Einrichtung war vollkommen schmucklos, wenn man den allgegenwärtigen Schmutz nicht als zusätzliche Zierde rechnete. Außer dem Bett gab es noch einen kleinen Tisch und einen alten, wackeligen Stuhl mit einem scheußlichen, vollkommen durchgesessenen Polster. Über allem schwebte der unangenehme Geruch schmutziger Wäsche.
»Nun, was sagst du dazu?«
»Ich finde, dieses Zimmer könnte eine weibliche Hand gebrauchen oder ein Dienstmädchen.«
Ashe lachte. »Du kannst gern beide Funktionen übernehmen, wenn du möchtest.«
»Ich habe schon als Dienstmädchen gearbeitet, das ist keine Schande.«
»Ganz gewiss nicht«, entgegnete er. »Nichts, was du tun würdest, wäre eine Schande, glaube ich.« Rhapsody wurde rot, sagte aber nichts darauf. Das zeigt mal wieder, wie wenig da von mir weißt, dachte sie im Stillen.
»Wenn ich recht darüber nachdenke, wäre vielleicht eher eine Überschwemmung angebracht.«
»Auch das kann ich veranlassen.« Ashe berührte den Griff seines Wasserschwerts. »Nun, bleibst du? Du wirst dafür bezahlen müssen.«
Rhapsody wandte sich ihm zu. »Ach ja? Was ist denn der Preis?«
»Eine Antwort.«
»Wie lautet die Frage?«
»Es sind zwei Fragen.«
»Leg los.« Rhapsody verschränkte die Arme.
»Bist du Cymrerin, und wenn ja, aus welcher Generation? Du hast gesagt, du würdest nicht lügen, also weiß ich, dass du die Wahrheit sprächest.«
Nachdenklich senkte Rhapsody den Kopf. »In Ordnung, ich gebe dir eine Antwort. Auf deine erste Frage. Die Antwort lautet: Nein, ich bleibe nicht.« Mit diesen Worten ging sie zur Tür, wo er immer noch stand. Ashe streckte die Hand aus.
»Warte. Das war nur ein Scherz.«
»Nein, war es nicht. Lass mich durch.«
»Ich entschuldige mich«, sagte er und trat beiseite. Er war klug genug, ihr nicht den Weg zu versperren. So sah er ihr nach, wie sie zum Teich ging, sich ans Ufer setzte und den Tornister von der Schulter nahm.
»Keine Ursache. Ich bin hier sehr zufrieden.« Gemächlich packte sie ihre Decken aus und rollte sie aus.
Er ging zu ihr und beugte sich über sie. »Aber ich nicht. Rhapsody, du bist die Erste, der ich diesen Ort jemals gezeigt habe. Ich habe dich den ganzen Weg hierher gebracht, damit wir uns noch einmal richtig ausruhen können, ehe du dich auf den Weg nach Tyrian machst. Ich habe genug davon, draußen zu übernachten. Das tue ich dauernd, und ich möchte gern wenigstens eine Nacht in meinem Bett schlafen. Ich weiß, die Hütte macht nicht viel her, aber es ist mein einziges Zuhause. Bitte komm herein. Es tut mir Leid, dass es so unordentlich ist und dass ich manchmal so dumm bin. Du musst meine Fragen nicht beantworten, und ich höre auch auf, dich ständig damit zu bedrängen, ob du cymrischer Abstammung bist, das verspreche ich. Außerdem ist es ein Teil unserer Abmachung, dass einer von uns Wache hält, während der andere schläft, und das kann ich schlecht, wenn ich drinnen bin, während du hier draußen übernachtest. Es wäre eine sträfliche Vernachlässigung meiner Pflichten als dein Führer. Deshalb komm bitte wieder herein.«
Rhapsody musterte die verhüllte Gestalt neben sich. In seiner Stimme lag eine Verzweiflung, die sie nicht verstand, und sie verspürte Mitleid für ihn, für diesen müden Wanderer, der ständig unterwegs war, sich ständig verbergen musste vor den Augen derer, die ihn verfolgten. Plötzlich schämte sie sich ihrer mangelnden Dankbarkeit nach allem, was er für sie getan hatte; immerhin hatte er sein eigenes Leben und wohl auch seine Beziehung hintangestellt, um sie bis hierher zu begleiten. Wieder hörte sie die melodiöse, vernünftige Stimme des Drachen.
Der Mann da draußen, der dich hergebracht hat er wollte auch wissen, ob du Cymrerin bist, nicht wahr?
Ja.
Du kannst es ihm ruhig sagen, Hübsche. Er weiß es bereits. Es ist unverkennbar. Sie stand auf und klopfte sich den Schmutz von den Kleidern, dann hob sie ihre Sachen wieder auf. »Ich bin bereit, mich auf einen Handel mit dir einzulassen, Ashe«, sagte sie, während sie den Tornister wieder schulterte. »Ich werde deine Fragen beantworten.«
»Nein, bitte, ich habe kein Recht...«
»Lass mich ausreden. Ich werde eine oder auch beide Fragen beantworten, die du mir gestellt hast, vorausgesetzt, du beantwortest mir die gleichen Fragen zuerst selbst. Abgemacht?«
Ashe dachte einen Moment nach. »Abgemacht.«
»Gut, dann lass uns hineingehen.«
»Die Unordnung tut mir Leid.«
»Du musst dich nicht entschuldigen«, erwiderte Rhapsody. »Erstens ist es dein Zimmer, und das kannst du gestalten, wie es dir passt. Zweitens ist es hier im Vergleich zu Jos Zimmer wirklich aufgeräumt.«
Ashe lachte. »Dann muss sie ja in einem Abfallhaufen leben.«
»Ja, das stimmt, aber bevor ich ihr begegnet bin, hat sie einen großen Teil ihres Lebens tatsächlich im Abfall gelebt, deshalb versuche ich mich nicht darum zu kümmern, so sehr ich Schlamperei auch verabscheue. Ich fürchte, ein ordentlicher Haushalt gehört zu meiner Erziehung.«
Ashe nickte. Rhapsody ging zu dem Stuhl, hob die schmutzigen Wollsocken auf, faltete sie zusammen und legte sie sich auf den Schoß.
»Hier, die nehme ich«, meinte Ashe hastig. »Um die musst du dich nicht kümmern.« Kurz entschlossen warf er die Socken in einen leeren Korb im Wandschrank.
»Willst du nicht deinen Mantel ausziehen?«, fragte Rhapsody. »Du freust dich doch bestimmt schon lange darauf, ihn loszuwerden.«
Ashe schlug die Kapuze zurück, ließ den Umhang jedoch an und setzte sich aufs Bett. Rhapsody holte tief Luft, als sie sein Gesicht wieder sah; es war seltsam, ihn ein zweites Mal zu erblicken. Von der anderen Seite des Raums waren seine sonderbaren Pupillen nicht zu erkennen, aber der metallische Glanz in seinem Haar war ebenso überwältigend wie beim ersten Mal. Offenbar merkte er, dass sie ihn anstarrte, und machte ein unbehagliches Gesicht.
»Also«, begann er verlegen. »Also, bist du nun Cymrerin?«
»Du zuerst.«
»Ja.«
»Nun«, erwiderte sie, »du weißt es zwar schon, aber ja, ich auch.«
»Und was ist mit Achmed und Grunthor?«
»Für sie kann ich ohne ihre Zustimmung nicht sprechen«, antwortete sie bedauernd. »Da musst du deine eigenen Schlüsse ziehen.«
Ashe nickte. »Welche Generation?« Als sie ihn misstrauisch musterte, lächelte er. »Auf meines Vaters Seite die Dritte Generation. Bei meiner Mutter ist die Verwandtschaft zu den Cymrern so weit entfernt, dass es sich fast nicht mehr zu erwähnen lohnt.«
»Erklär mir das noch einmal«, bat Rhapsody. »Cymrer der Ersten Generation sind in der alten Welt geboren, und ihre Kinder, die hier zur Welt gekommen sind, gehören dann der Zweiten Generation an?«
»Ja.«
»Was, wenn jemand Seren war, in Serendair gelebt hat, aber nicht mit den Flotten in See stach?«
Ashe, der sie aufmerksam betrachtete, blinzelte, dann wurde sein Gesicht plötzlich leer. »Und die Katastrophe trotzdem überlebt hat?«
»Offensichtlich, sonst gäbe es ja keinen Grund, darüber zu sprechen, oder?«
Ashe nickte. »Nein, natürlich nicht, das war eine dumme Frage. Wenn meine Geschichtsstudien korrekt sind, ist das sehr vielen Leuten geschehen. Nicht alle, die Serendair verlassen haben, wollten sich Gwylliam anschließen; viele glaubten, er sei verrückt, einige hatten schlichtweg Angst, sie würden die Reise nicht verkraften vor allem Angehörige der Rassen, die von sich aus keine enge Verbindung zum Meer haben. Sie brachen auf, bevor die Drei Flotten in See stachen, und haben an anderen Orten Zuflucht gesucht, die näher bei der Insel liegen.«
Rhapsody erhob sich und zog sich den Umhang von den Schultern. »Wären diese darin Cymrer?«
Die blauen Augen hefteten sich noch durchdringender auf sie; die vertikalen Schlitze weiteten sich in der Dunkelheit des Raums und sogen ihre Antwort auf, als wäre sie Sonnenlicht.
»Ja«, antwortete er nachdenklich. »Obgleich sie die einheimische Bevölkerung nicht mit Gwylliams Sinnspruch begrüßten, denke ich, dass ein eingeborener Seren, der Serendair vor der Katastrophe verlassen hat, dennoch als Cymrer gilt. Auch die Mitglieder der Zweiten Flotte taten das nicht; sie landeten in Manosse oder Gaematria und setzten erst viele Generationen später Fuß auf diesen Kontinent, damals, als der Große Rat einberufen wurde. Und sie sind Cymrer, sie fühlten es tief in ihrer Seele, als das Hörn sie rief, sich beim Großen Gerichtshof zu versammeln. Ja, ich denke, alle, die einmal in Serendair lebten und es verließen, sind Cymrer der Ersten Generation.«
Rhapsody wandte sich von ihm ab und hängte ihren Umhang an den Haken bei der Tür, damit er nicht sehen konnte, wie schwer sie schluckte. »Vermutlich bin ich nach dieser Regel eine Cymrerin der Ersten Generation«, sagte sie, während sie die Falten des Mantels glatt strich und den Staub ausklopfte. Dann drehte sie sich wieder zu Ashe um. Aufmerksam studierte sie sein Gesicht, aber in seine Augen trat kein triumphierendes Funkeln, nur ein kleines Lächeln.
»Wie gelang es dir zu überleben? Wohin gingst du? Es muss ein Ort gewesen sein, den du mit dem Ruderboot oder der Fähre erreichen konntest, da du gesagt hast, du seist nie mit einem anderen Schiff gereist. Wie bist du hierher gekommen, eine halbe Welt entfernt?«
»Das sind aber mehr als nur zwei Fragen«, erwiderte Rhapsody hastig. Die Erinnerung an die endlose Reise durch die Eingeweide der Erde drang auf sie ein. Sie schüttelte sich, denn sie wollte nicht daran denken, wie es gewesen war, an der Axis Mundi entlangzukriechen; dennoch, das Gefühl lauerte nach wie vor dicht unter der Oberfläche ihres Bewusstseins. Sie musste sich anstrengen, den Gedanken zu verscheuchen, aber wenn sie es nicht täte, würde eine fast unüberwindliche Verzweiflung sie überrollen. »Außerdem dachte ich, wir hätten uns darauf geeinigt, Gespräche über die Vergangenheit so weit wie möglich zu vermeiden.«
»Entschuldige«, lenkte Ashe hastig ein. »Danke, dass du mir so viel erzählt hast.«
Rhapsody beäugte ihn beklommen. »Gern geschehen. Nachdem du mir nun diese Information entlockt hast ... was gedenkst du damit anzufangen?«
Ashe stand auf. »Baden.«
Wieder starrte Rhapsody ihn an. »Das ist alles? Die ganze lange Reise über hast du nichts unversucht gelassen, um mir diese Antwort aus der Nase zu ziehen, und jetzt willst du baden?«
»Ja«, erwiderte Ashe mit einem Lachen. »Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, musste ich mit dem Nebel meines Mantels vorlieb nehmen, um mich zu waschen, während du jede geschützte Stelle im Fluss und jeden abgelegenen Teich genutzt hast, um zu schwimmen; das ist wohl kaum gerecht und auch bestimmt nicht ersprießlich, wenn wir die Nacht heute in diesem kleinen Zimmer verbringen wollen. Wenn du mich also entschuldigen würdest, werde ich jetzt baden gehen.« Staunend sah Rhapsody zu, wie er einen Lappen vom Boden aufhob, der in weniger schäbigen Zeiten vielleicht einmal ein Handtuch gewesen war, und pfeifend aus der Hütte ging.
Ashe hatte gerade seine Hose wieder zugebunden, als die Tür sich öffnete und ein Hagel von Schmutz und Abfall aus der Hütte flog. Offenbar hatte Rhapsody einen großen Ast gefunden, den sie als Besen hernehmen konnte, und fegte jetzt das Zimmer mit einer Kraft, die sich mit jedem Wirbelsturm hätte messen können. Einen kurzen Augenblick erschien sie vor der Hütte, und ihre Blicke begegneten sich. Erschrocken hielt sie inne und starrte auf Ashes Brustkorb.
Vom Nabel bis zur linken Schulter zog sich eine hässliche Wunde, schwarz und unregelmäßig, eitrig und rot entzündet.
Sie schien alt, aber nie richtig verheilt zu sein, roh und offen, verbranntes Fleisch, das unter verkohlter Haut Blasen schlug. Blaue Venen liefen strahlenförmig über die Brust und bildeten über dem Herzen eine Art Stern. Der Anblick trieb Rhapsody Tränen in die Augen.
Normalerweise würde ich dir in einem solchen Fall das Herz herausreißen, obwohl es bei dir ganz danach aussieht, als hätte das schon jemand anderes erledigt. Rasch wandte Ashe sich ab und zog sich das Hemd über den Kopf. Als er wieder zur Hütte schaute, war Rhapsody verschwunden. Er fuhr sich mit der Hand durch die frisch gewaschenen Haare und wartete, ob sie noch einmal auftauchen würde, aber sie kam nicht. Schließlich beschloss er, das unbehagliche Schweigen zu brechen.
»Rhapsody?«
Sofort war sie wieder an der Tür. »Ja?«
Er zeigte zum Teich. »Ich habe ein Stück eingedämmt, damit sich eine kleine Lagune bildet, wenn du baden möchtest.«
Ihr Gesicht hellte sich auf. »Wunderbar! Danke, ich komme gleich raus.« Sie verschwand in der Hütte und erschien kurz darauf mit einem vollen Wäschekorb. Entsetzt starrte er sie an, denn die Sachen gehörten ihm.
»Was machst du da?«
»Die Wäsche.« Sie ging sie zu dem kleinen Teich, den er für sie zum Baden angelegt hatte, und ließ ein Kleidungsstück nach dem anderen hineinfallen, gefolgt von einem großen Stück Seife. Eine verdreckte Hose, ein Hemd mit einem großen Fettfleck und mehrere Garnituren gebrauchter Unterwäsche landeten zu Ashes großer Verlegenheit im Wasser. Mit großen Schritten eilte er zu Rhapsody und griff nach dem Korb.
»Hier, gib her. Das mache ich lieber selbst.«
Rhapsodys Augen funkelten. »Unsinn! Du hast mir die Stelle des Dienstmädchens angeboten, und ich habe sie angenommen, wenigstens für heute. So bezahle ich dich auf meine Art für deine Dienste als Führer. Wäschewaschen gehört dazu. Überhaupt wenn du die Kleider, die du anhast, auch noch gewaschen haben möchtest, dann zieh sie einfach aus.« Sie deutete auf die Sachen, die er trug, und nahm einen Stock zur Hand.
»Nein, danke.«
»Du solltest mein Angebot nutzen, so lange du kannst. Wenn wir quitt sind, dann musst du deine Sachen wieder selbst waschen und auch dein Loch äh, Verzeihung, deine Hütte ausfegen.« Das Wasser in der Lagune begann zu blubbern, Dampf stieg in die kühle Vorfrühlingsluft auf. Rhapsody hatte ihr Feuerwissen eingesetzt, um die Wäsche zu kochen, und rührte sie jetzt mitsamt der Seife um, sodass sich in der Lagune dicker Schaum bildete, der zwischen den Felsen abfloss.
Als die Wäsche sauber war, zog Rhapsody sie aus dem Wasser, das nun wieder so kühl geworden war, dass sie hineingreifen konnte, und hängte sie auf die Leine, die sie zwischen den Bäumen gespannt hatte. Ashe berührte jedes Stück, und sofort entwich alles überschüssige Wasser.
»Willst du jetzt baden?«, fragte er dann.
Rhapsody blickte durch das Blätterdach zum Himmel auf. Die Wolken wurden dicker und grauer. »Ich glaube nicht. Es sieht nach Regen aus.«
Auch Ashe betrachtete den Himmel. »Du hast Recht. Lass uns hineingehen.«
Sie rafften die Wäsche zusammen, liefen zur Hütte zurück und zogen gerade die Tür hinter sich zu, als die ersten Regentropfen aufs Dach trommelten. Vor Überraschung blieb Ashe wie angewurzelt stehen. Sein Zimmer war so sauber und ordentlich wie noch nie. Das Bett war gemacht, der Boden gefegt, und eine Teekanne stand auf dem Tisch, der ebenfalls abgewischt und poliert worden war.
»Wie hast du das alles in der kurzen Zeit angestellt?«
»Übung.«
»Aha. Nun, es wäre nicht nötig gewesen. Aber trotzdem danke.«
Rhapsody, die an der Tür stehen geblieben war, lächelte ihn an. »Das gehört zu meinen Aufgaben als Dienstmädchen. Wir leisten einige der Dienste, die du umsonst bekämest, wenn du verheiratet wärst.« Kaum waren die Worte heraus, biss sie sich auch schon auf die Lippen. Sie wusste immer noch nicht genau, ob er verheiratet war.
Aber Ashe lachte nur. »Wenn das der Fall ist, dann gibt es noch ein paar andere Dienste, auf die ich Wert legen würde.« Seine Augen funkelten belustigt.
»Tut mir Leid«, entgegnete Rhapsody, nahm ihm die Wäsche ab und legte sie aufs Bett. »Es handelt sich hier nur um ein zeitlich begrenztes Abkommen, bis meine Schuld an dich abbezahlt ist. Grundlegende Hausarbeit. Andere Dienstleistungen kosten extra, und es gibt gewisse Dinge, die du dir einfach nicht leisten kannst.«
Lächelnd wandte Ashe sich ab. »Es gibt Dinge, für die es sich lohnt zu betteln, zu borgen und sogar zu stehlen.«
Rhapsody faltete die Wäsche auf dem Bett zusammen. »Ja, aber ich glaube kaum, dass dergleichen dazugehört.«
Ashe hob ein Hemd aus Kambrik auf und hängte es im Wandschrank an einen Haken. »Ich bezweifle, dass du eine Ahnung hast, wovon ich rede, Rhapsody.«
Sie hob ihren Tornister vom Boden auf, öffnete ihn und sortierte die Dinge neu, um für ihre Wäsche, die sie zusammen mit Ashes gewaschen hatte, Platz zu schaffen. »Ich kann es mir aber denken«, entgegnete sie trocken.
»Du könntest dich irren«, meinte Ashe scherzhaft. »Warum versuchst du es nicht zu erraten? Welche Dienstleistung einer Ehefrau würde ich mir wohl von dir wünschen?«
Sie holte ein paar Beutel ganz unten aus dem Tornister. »Ich will aber nicht raten. Warum sagst du es mir nicht einfach, und ich versuche dich nicht zu verprügeln, es sei denn, du beleidigst mich.«
Ashe nahm seine Lederhandschuhe auf. Dann setzte er sich auf den verschlissenen Polsterstuhl und legte die Füße hoch, offensichtlich höchst angetan von der Aussicht, sie ein wenig zu necken. »In Ordnung.« Er musterte sie, während sie ihn weiterhin ignorierte und ihre Sachen ordnete. Kinder großziehen, dachte er.
»In der südlichen Neutralen Zone gibt es eine Gegend namens Gallo. Dort benutzen die Männer ihre Frauen als Schild, wenn sie in den Kampf ziehen. Die Frauen gehen vor den Männern her, um die Pfeile abzufangen.« Er wartete auf einen Ausbruch, aber Rhapsody schwieg. Er versuchte es noch einmal. »Wenn jemand beim Pferdehandel etwas braucht, um den Unterschied im Wert zweier Tiere auszugleichen ...« Er unterbrach sich, als er merkte, dass sie einen Gegenstand in ihrer Hand anstarrte. »Was ist los?«
»Sieh dir das an«, antwortete sie mit Staunen in der Stimme. Ashe stand auf und ging zu ihr hinüber. In ihrer Hand war der Krallendolch, den sie Elynsynos zurückgebracht hatte. »Ich habe ihn ihr doch gegeben.«
»Offenbar möchte sie, dass du ihn behältst.«
»Wahrscheinlich. Ich frage mich, wie sie ihn in meinen Tornister geschmuggelt hat, ohne dass ich etwas davon bemerkt habe.«
Ashe lächelte sie an. »Man darf die Entschlossenheit eines Drachen nie unterschätzen, wenn es um etwas geht, was sie lieben, Rhapsody. Ein Drache findet immer Mittel und Wege, das zu bekommen, was er sich wünscht.« Damit legte er seine zusammengefaltete Wäsche in den Wandschrank und trat hinaus in den Regen.