Oelendra lächelte in sich hinein, als ihre Schülerin einen soliden Treffer auf Urists Mitte landete, sich anmutig drehte und den Schlag parierte, den Syntianta auf ihren Rücken führen wollte. Sie beobachtete, wie Rhapsody herumwirbelte, um sich ihrem ersten Gegner noch einmal zu stellen, und das Schwert zurückzog, ehe ihr tödlicher Stich die Kehle des Lirin-Soldaten tatsächlich berührte. »Treffer!«, sagten sie wie aus einem Munde und brachen beide in lautes Gelächter aus. Doch Rhapsody hatte keine Zeit, den Augenblick zu genießen, denn jetzt stürmte Syntianta auf sie ein, das Schwert mit beiden Händen schwingend, eine Fertigkeit, für die sie berüchtigt war. Zu allem Überfluss waren Rhapsody die Augen verbunden. Dennoch schlug sie sich erstaunlich gut.
Oelendra entschied, dass sie ihre Sache viel zu gut machte. Leise näherte sie sich dem Wettkampf und hob einen Bauernspieß vom Boden auf. Sie wartete, bis Syntianta Rhapsody wieder richtig in den Kampf verwickelt hatte, schlich sich dann von der Seite an und zielte mit dem Stock auf Rhapsodys Knie, um sie zu Fall zu bringen.
Der Wirbel von Bewegungen, der nun folgte, war mit dem Auge kaum zu erfassen. Rhapsody drehte sich graziös und stieß dabei Urist zu Boden, sprang über den Stock und rollte sich aus der Gefahrenzone, wobei sie Syntianta so aus dem Gleichgewicht brachte, dass diese über Urist stolperte. Dann schlug sie Oelendra mit der Tagessternfanfare den Stock aus der Hand, sodass er hoch in die Bäume hinaufsauste.
Oelendra lachte laut, umarmte ihre Schülerin und nahm ihr die Augenbinde ab. »Das reicht für heute, lass uns feiern. Herzlichen Glückwunsch, Rhapsody, jetzt kannst du fast so schön tanzen, wie du singst.«
In dieser Nacht beschloss Rhapsody, Oelendra eines ihrer größten Geheimnisse zu offenbaren. Anders als diejenigen, in die sie ihre Lehrerin bereits eingeweiht hatte, betraf dieses ihre Freunde. Sie erinnerte sich an Achmeds Mahnung, entschied aber, Oelendras Rat zu folgen und ihrem Herzen zu trauen. Es sagte ihr, dass sie nichts zu befürchten hatte. Auf Zehenspitzen schlich sie die obere Halle entlang zu Oelendras Schlafzimmer. Dort brannte noch Licht; Rhapsody wusste, dass Oelendra nachts oft gar nicht schlief. Als reinrassige Lirin brauchte sie sehr wenig Schlaf, denn ihr Körper wurde durch die Schwingungen des Waldes in einen unterbewussten Meditationszustand versetzt, der sie erfrischte und ihr neue Kraft verlieh. Rhapsody klopfte leise an die Tür.
»Komm herein, Liebes.«
Behutsam öffnete Rhapsody die Tür. Oelendra saß aufrecht im Bett und entwirrte gerade ihren langen, dünnen Zopf. Bei diesem Anblick traten Rhapsody sogleich wieder die Tränen in die Augen, denn auch ihre Mutter hatte das jeden Abend getan, wenn sie allein waren, und dann ihr Haar und Rhapsodys vor dem Feuer gebürstet. Oelendra erinnerte sie in so vielen Dingen an ihre Mutter, und dies erfüllte sie jedes Mal mit Wehmut. Natürlich war Oelendra sofort bewusst, was in Rhapsody vor sich ging, und sie klopfte auf die Bettkante neben sich.
»Setz dich«, sagte sie und begann ihr Haar zu bürsten.
Rhapsody gehorchte. »Oelendra, bitte erzählt mir von den Drei und den Prophezeiungen über sie.«
Lächelnd antwortete Oelendra: »Das war wirres Gerede, Rhapsody. Manwyn versuchte zu verhindern, dass ihre Schwester vom Cymrischen Rat hinausgeworfen würde. Es hat nicht funktioniert. Der Rat verbannte Anwyn trotz der Versprechungen ihrer Schwester, obwohl diese prophezeite, dass Retter nahen würden, um wieder gutzumachen, was Anwyn verbrachen hatte. Ich denke, nach vierhundert Jahren ist es an der Zeit, dass wir das Hirngespinst aufgeben und uns mit anderen Plänen befassen.«
Rhapsody nickte. »Erinnert Ihr Euch noch genau daran, was sie gesagt hat?«
»Ja, ich habe ihr geholfen, es niederzuschreiben. Warum?«
»Nun, Ihr kennt mich doch«, antwortete Rhapsody lächelnd. »Stets wissbegierig.«
Ernst blickte Oelendra sie an, dann rezitierte sie die Worte in der Sprache der Cymrer.
Die Drei werden kommen; früh brechen sie auf,
spät treten sie in Erscheinung, Die Lebensalter des Menschen: Kind des Blutes, Kind der Erde, Kind des Himmels.
Ein jeder Mensch, entstanden im Blute und darin geboren, Beschreitet die Erde, wird von ihr genährt, Greift zum Himmel und genießt seinen Schutz, Steigt indes erst am Ende seiner Lebenszeit zu ihm auf und gesellt sich zu den Sternen. Blut schenkt Neubeginn, Erde Nahrung. Der Himmel schenkt zu Lebzeiten Träume im Tode die Ewigkeit. So sollen sie sein, die Drei, einer zum anderen. Wieder nickte Rhapsody. »Und es gab keine ausführlichere Erklärung?«
»Nicht wirklich«, erwiderte Oelendra. »Die Weisen studierten Manwyns Worte und versuchten, ihre Bedeutung zu entschlüsseln. Irgendwann setzte sich die Auffassung durch, es handle sich um eine Allegorie darauf, dass jeder den F’dor töten konnte, da von allen Lebensaltern des Menschen gesprochen wurde. Damals glaubte ich das nicht, aber inzwischen bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass die Prophezeiung eigentlich so gut wie nutzlos ist. Warum bewegt dich das mitten in der Nacht? Hast du geträumt?«
»Nein«, antwortete Rhapsody. »Gibt es denn keine andere Erklärung?«
»Nun, Anborn, Gwylliams Sohn, fragte Manwyn vor dem Rat, wie die Drei die Spaltung überwinden würden.«
»Erinnert Ihr Euch, was sie geantwortet hat?«
Oelendra nickte und dachte einen Augenblick nach.
Wenn Leben entsteht, verbindet sich das Blut und wird doch vergossen; auch teilt es sich zu leicht, als dass es die Trennung heilen könnte.
Die Erde wird von allen geteilt und ist doch selbst geteilt, von Generation zu Generation.
Nur der Himmel umfasst alles und bleibt selbst ungeteilt; darum wird es durch ihn zu Frieden und Einheit kommen.
Wenn Euch daran gelegen ist, Feldmarschall, so schützt den Himmel, auf dass er nicht einstürze.
Rhapsody lachte. »Na, das war ja sehr hilfreich!«
Oelendra legte die Haarbürste auf den Nachttisch. »Siehst du jetzt, warum ich nichts auf das Geplapper einer Verrückten gebe?«
»Ja, aber vielleicht solltet Ihr es dennoch tun.« Oelendra stutzte und blickte Rhapsody scharf an. »Sag mir, was du damit meinst, Rhapsody.«
Mit ernster Miene erwiderte Rhapsody: »Ihr wisst, dass ich nicht mit Euch gesegelt bin, Oelendra, doch Ihr wisst auch, dass ich der Ersten Generation der Cymrer entstamme. Ihr habt angenommen, dass ich, statt mit den Cymrern zu fahren, in ein Land ging, das näher bei Serendair lag, was damals viele Lirin taten, aber das stimmt nicht. Genau genommen bin ich erst sehr kurze Zeit in dieser Welt. Ich habe Euch von Grunthor erzählt, von meinem Bolg-Freund, der mir den Umgang mit dem Schwert beigebracht hat. Jetzt sollte ich wohl hinzufügen, dass auch er Cymrer ist. Und wir kamen noch mit einem dritten Freund.« Ihre Stimme wurde leiser, während Oelendra große Augen bekam. »Er ist Dhrakier.«
Aufgeregt ergriff Oelendra ihre Hand und drückte sie fest. »Du bist also eine der Drei?«
Rhapsody zuckte die Achseln. »Ich glaube es. Ich meine, ich weiß es eigentlich nicht, aber Grunthor ist an die Erde gebunden und Achmed an das Blut. Und da ich eine Liringlas bin, vermute ich doch, dass mich das zu einem Kind des Himmels macht.«
»Früh brechen sie auf, spät treten sie in Erscheinung«, murmelte Oelendra vor sich hin. »Nur der Himmel umfasst alles und bleibt selbst ungeteilt; darum wird es durch ihn zu Frieden und Einheit kommen.« Ihre Augen begannen zu strahlen. »Das bist du, Rhapsody; ich wusste es von dem Augenblick an, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Selbst wenn du nicht zu den Dreien gehören würdest, glaube ich in meinem Herzen, dass du diejenige bist, die das vollbringen kann, die wahre Iliachenva’ar. Das Schwert hat Manwyns Prophezeiung wahr gemacht.« Vor Aufregung zitterten ihre Hände.
»Nun, Oelendra, geratet lieber nicht gleich in Verzückung«, warnte Rhapsody. »Ich weiß nichts über die Drei, und auch wenn es prophezeit wurde, dann wohl doch nicht mir. Ich dachte nur, Ihr solltet wissen, dass ich nicht allein gekommen bin.«
»Und du wirst auch nie mehr allein sein, Rhapsody. Was immer nötig ist, um dich auf diesen Kampf vorzubereiten, was immer dein Schicksal sein mag, ich bin für dich da.«