31

Die Schneehauben auf den hohen Gipfeln der Zahnfelsen fingen die späte Morgensonne ein und glühten wie Feuer unter dem klaren Himmel. Prudence zog den Vorhang vor dem Kutschenfenster ein Stück zur Seite, um die Aussicht zu genießen, schloss dann einen Moment die Augen und spürte den warmen Wind im Gesicht. Dann erhob sie sich ein wenig von dem gepolsterten Sitz und beugte sich aus dem Fenster.

Zum vierten Mal an diesem Morgen zeigten der Kutscher und die Wache einer Gruppe Firbolg-Soldaten, die sie angehalten hatten, ihre Papiere mit Tristans Siegel. Prudences Blick wanderte zurück zu den Bergen. Dieses Land war so seltsam schön und bedrohlich: Dunkle, vielfarbige Gipfel ragten am Horizont gen Himmel wie die Zähne eines großen Raubtiers, das sich dort ausgestreckt hatte. Noch nie zuvor hatte Prudence die Ebenen von Bethania verlassen, und sie war fasziniert von der dunklen Magie Ylorcs, des bergigen Landes der Ungeheuer.

Plötzlich spürte sie Blicke auf sich ruhen, drehte sich unwillkürlich um und sah einem dieser Ungeheuer direkt ins Gesicht. Wie bei den anderen Firbolg-Soldaten, denen sie seit dem Überqueren der Grenze von Bethe Corbair begegnet waren, war auch sein Gesicht dunkel und haarig, der Körperbau drahtig, aber nicht sonderlich grotesk. Der Mann musterte sie offen, aber nicht unverschämt. Prudence wurde rot vor Verlegenheit, als ihr klar wurde, dass ihr eigener Gesichtsausdruck wahrscheinlich ein Spiegelbild des seinen war. Das sind Ungeheuer, menschenartige Tiere, die Ratten und Angehörige ihres eigenen Volks fressen, hatte Tristan ihr erklärt. Und natürlich fressen sie auch jedes menschliche Wesen, dessen sie habhaft werden können. Doch nun, da sie diese Kreaturen aus der Nähe betrachtete, schien ihr das eine Übertreibung wie aus einem Kindermärchen zu sein. Jedes Mal waren die Bolg wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatten die Kutsche leise angehalten, während sie bogenartige Schusswaffen auf die Pferde gerichtet hatten. Sobald sie sich dann von den nicht feindlichen Absichten der Mission überzeugt hatten, hatten sie die Kutsche wortlos weiter gewunken und waren wieder verschwunden. Unwillkürlich überlegte Prudence, ob die Bolg vielleicht einfach einen guten Eindruck auf sie machen wollten. Mit einem Ruck fuhr die Kutsche wieder an. Prudence lehnte sich in den gepolsterten Sitz zurück, auf dem Tristan und sie sich schon unzählige Male heimlich geliebt hatten. Einen Augenblick später wurde die kleine Schiebetür an der Wand ihr gegenüber geöffnet, und das Gesicht der Wache erschien.

»Es dauert nicht mehr lange, Fräulein. Wir sind noch ungefähr eine Stunde vom größten Außenposten entfernt, der Stelle, an der die Postkarawanen hereinkommen.«

Prudence nickte, und das Türchen glitt wieder zu. Ein letztes Mal blickte sie aus dem Fenster und sah, dass der Firbolg-Soldat sie noch immer anschaute. In seinen Augen war etwas, was sie beunruhigte.

Nach einer Weile wurde die Straße unter den Rädern der Kutsche weniger holprig, und das Schaukeln ließ nach. Prudence zog den Vorhang beiseite und klopfte an die kleine Schiebtür.

»Anhalten bitte.«

Langsam rollte die Kutsche aus, und Prudence öffnete im Aufstehen die Tür. Der Kutscher stieg von seinem Kutschbock, war aber nicht schnell genug, um ihr seine Hilfe beim Aussteigen anzubieten. Also raffte sie die Röcke, sprang auf die Straße hinunter und ging hinüber auf die große Wiese.

Vor ihr erstreckte sich ein großes Amphitheater, von der Zeit und den Naturgewalten in die Erde geschnitten, obgleich es aussah, als wäre von Menschenhand ein wenig nachgeholfen worden. Früher war der inzwischen vergessene, mit Hochgras und Gestrüpp überwachsene Ort sicher ein Versammlungsplatz für eine enorme Anzahl von Leuten gewesen. Eine Felsformation mitten im Zentrum der gegenüberliegenden schrägen Wand ähnelte eindeutig einer Rednerbühne. Das Amphitheater war riesig, umgeben von Felsvorsprüngen und innen in abgestufte Ränge unterteilt, die zu einer breiten, ebenen Fläche abfielen. Nach den Beschreibungen, die Tristan ihr einmal aus einem cymrischen Geschichtstext vorgelesen hatte, erkannte Prudence, was sie hier vor sich hatte.

»Der Große Gerichtshof«, murmelte sie vor sich hin. Dies war der Ort, an dem Tristans seltsame, nahezu unsterbliche Vorfahren einst ihre Versammlungen abgehalten hatten, um dem Cymrer-Reich Frieden zu schenken. Eine gute Absicht, auch wenn sie fehlgeschlagen war. »Wie bitte, Fräulein?«, erkundigte sich der Kutscher. Prudence drehte sich zu ihm um.

»Gwylliams Großer Gerichtshof«, wiederholte sie aufgeregt. Dieses Naturwunder war größer als die Feuerbasilika und Tristans Palast zusammengenommen.

Der Kutscher und die Wache tauschten ein Schmunzeln, dann öffnete der Kutscher den Wagenschlag.

»Ja, Fräulein, ganz wie Ihr meint. Doch nun beeilt Euch bitte und steigt wieder ein. Wir dürfen bis zum Posten nicht länger als eine Stunde brauchen, damit wir vor Einbruch der Dunkelheit von dort abfahren können, sonst schaffen wir es nicht, uns in drei Tagen mit der Karawane zu treffen.«

Prudence nahm seine ausgestreckte Hand und kletterte etwas ungehalten wieder in die Kutsche zurück. Schon mehrmals war ihr seit der Abfahrt aus Bethania das Schmunzeln der beiden aufgefallen, und sie kannte seinen Ursprung. Für den Kutscher und die Wache war sie Tristans Bauernhure, und es amüsierte die beiden, sie ganz allein mit all der sonst dem Adel vorbehaltenen Pracht herumzufahren. Während der Kutscher den Wagenschlag hinter ihr schloss, hörte sie ihn schon wieder lachen. Schwerfällig setzte sich die Kutsche wieder in Bewegung, Prudence warf noch einen letzten Blick auf das uralte Wunderwerk, das hier vergessen im endlosen Grün des Vorgebirges lag. Dann holte sie ihren Spiegel hervor und begann ihr Gesicht herzurichten eine Vorbereitung dafür, dem Mann, den sie liebte, einen weiteren albernen Gefallen zu tun.

»Erste Frau?«

Die Hebammen und Rhapsody blickten gleichzeitig auf. Der Wächter trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als er den Ausdruck auf den Gesichtern der Bolg-Frauen sah, denn diese schätzten die Unterbrechung offensichtlich ganz und gar nicht.

»Ja?«

»Hier ist ein Bote für Euch. Eine Frau. Aus Bethania.«

»Tatsächlich?« Rhapsody reichte einer der Hebammen die Heilpflanze, die sie gemeinsam untersucht hatten. »Was will sie denn?«

»Mit Euch sprechen.«

»Hmmm. Wo ist sie?«

»Am Griwen-Posten.«

»Nun gut. Danke, Jurt. Bitte richte ihr aus, dass ich gleich herunterkomme.« Rhapsody sammelte die Kräuter und Heilmittel und verteilte sie an die dreizehn Hebammen, von denen einige zu den mächtigsten Bolg in ganz Ylorc zählten. »Sind wir fertig?«, fragte sie. Die breitschultrige Frau nickte, und Rhapsody erhob sich. »Danke, dass ihr gekommen seid. Ich werde am Wochenende nachsehen, wie die Medizin anschlägt. Bitte entschuldigt mich jetzt.«

Prudence wartete im Schatten der kastanienbraunen Wallache, denn sie fühlte sich bei den riesigen Tieren sicherer als im Wachquartier. Sie schluckte schwer. Während der vergangenen Stunde hatte sie versucht, sich innerlich auf die bevorstehende Begegnung einzustellen, und dennoch war sie nicht auf den Anblick gefasst, der sich ihr nun bieten sollte.

Ein riesiger Firbolg in Kampfrüstung kam auf sie zu, neben sich eine sehr viel kleinere Gestalt, die trotz der sengenden Sommerhitze vom Kopf bis zur Wadenmitte in einen grauen Kapuzenumhang gehüllt war. Hinter dem Rücken des Riesen lugte eine Unzahl von Schwertgriffen hervor, sodass er aussah, als hätte er eine Mähne aus lauter Stacheln. Die kleinere Gestalt behielt die Kapuze auf, bis sie direkt vor Prudence stand. Als sie sie schließlich abnahm, kam ein Gesicht von solch unfassbarer Schönheit zum Vorschein, wie Prudence kaum je eines gesehen hatte umrahmt von goldenem Haar, das mit einem schlichten Band lose zurückgebunden war. Die Frau trug ein einfaches Hemd aus weißem Leinen und weiche braune Hosen. Aus irgendeinem Grund konnte Prudence bei ihrem Anblick nur mit Mühe die Tränen zurückhalten.

Auf einmal ergaben Tristans Worte einen Sinn für sie. In das Gesicht dieser Frau zu blicken war, als schaute man in ein knisterndes Feuer; es war in einem Maße hypnotisch und anziehend, dass man es bis in die Seele hinein fühlen konnte.

»Hallo«, sagte die goldhaarige Frau, lächelte und streckte Prudence eine kleine Hand entgegen. »Mein Name ist Rhapsody. Ihr wolltet mich sprechen?«

»Jja«, stotterte Prudence. Verdattert blickte sie auf die offen dargebotene Hand der Frau, riss sich dann aber zusammen und schüttelte sie zaghaft. Die Hand war wunderbar warm, und Prudence musste sich zwingen, sie wieder loszulassen. Um ihre Ungeschicktheit zu vertuschen, kramte sie in dem Beutel, den Tristan ihr mitgegeben hatte, und zog zwei sorgsam gefaltete, mit Gold versiegelte Bogen Pergament hervor. »Seine Hoheit Tristan Steward, Prinz von Bethania, hat mich gebeten, Euch persönlich diese Einladungen zu überbringen.«

Rhapsody runzelte die Stirn, und Prudence sank plötzlich der Mut.

»Einladungen?«

»Ja«, sprudelte Prudence hervor. »Zu seiner Hochzeit, am Abend des ersten Frühlingstages dieses Jahres.«

»Warum sind es zwei Einladungen?«

»Nun, eine ist für Seine ... äh ... für Seine Majestät, den König von Ylorc, und eine ist für Euch.«

Die smaragdgrünen Augen der Frau wurden noch größer vor Staunen. »Für mich?«

Prudence schoss das Blut in die Wangen. »Ja.« Nervös beobachtete sie, wie Rhapsody das gefaltete Papier in der Hand drehte und darauf starrte. »Ich habe den Eindruck, Ihr seid überrascht.«

Der Riese neben der Frau brach in dröhnendes Gelächter aus, und Prudence erbleichte vor Schreck. »Nun, nun, Gräfin, hör dir das bloß an. Der Prinz möchte, dass du an seiner Hochzeit teilnimmst. Ist das nicht goldig?«

Rhapsody reichte Prudence die Einladungen zurück. »Das muss ein Fehler sein. Warum sollte der Herrscher von Roland mir eine Einladung schicken?«

Prudence fuhr sich mit der Hand über die Kehle und spürte, wie sie zitterte. »Gräfin? Bitte entschuldigt, das wusste ich nicht. Ich hoffe, Ihr werdet mir verzeihen, wenn ich Euch mit einer falschen Anrede beleidigt habe, Herrin.«

»Nein, nein«, beteuerte Rhapsody hastig. »Er macht nur Witze.«

Die bernsteinfarbenen Augen des Riesen funkelten fröhlich. »Wie meint Ihr denn das? Sie ist die Gräfin von Elysian, genau das ist sie. Die höchstgeborene Dame in ganz Ylorc.« Prudence nickte, und der Ausdruck in ihren Augen veränderte sich.

»Ich glaube, Ihr versteht nicht, wie wenig das bedeutet«, meinte Rhapsody und warf Grunthor einen ärgerlichen Blick zu. »Für Euren Herrn bin ich immer noch ein Bauer. Meine Rolle an seinem Hof war die einer Botschafterin für den König von Ylorc. Und obgleich unsere letzte Begegnung einigermaßen zivilisiert verlief, war unsere Beziehung doch ansonsten stets recht angespannt. Aus all diesen Gründen bin ich überaus erstaunt, dass er mir eine Einladung für ein solch glückliches Ereignis zukommen lässt. Ich bin mir sicher, dass es sich um einen Irrtum handelt.«

»Du hattest also eine Beziehung mit ihm?«, erkundigte sich Grunthor in gespieltem Entsetzen.

»Dabei sagst du doch immer, er ist dumm!« So verstohlen sie konnte, stieß Rhapsody ihm den Ellbogen in die Rippen, dann schaute sie wieder zu Prudence, die inzwischen sichtbar zitterte. Der irritierte Ausdruck auf Rhapsodys Gesicht verwandelte sich in Besorgnis. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und berührte Prudences Arm.

»Geht es Euch nicht gut?«

Prudences Blick begegnete dem der goldhaarigen Frau, und als sie erkannte, wie besorgt sie war, wurde ihr warm ums Herz. »Nein, es ist alles in Ordnung«, sagte sie und tätschelte unbeholfen Rhapsodys Hand.

»Kommt, gehen wir aus der Sonne«, schlug Rhapsody vor und hakte sich bei Prudence unter.

»Ich bin eine grässliche Gastgeberin ich habe mich nicht einmal nach Eurem Namen erkundigt!«

»Prudence.«

»Nun, vergebt mir bitte meine Unhöflichkeit, Prudence. Erlaubt mir, Euch in Ylorc willkommen zu heißen. Wollt Ihr und Eure Eskorte etwas ...«

Auf einmal geriet die Welt ins Wanken. Rhapsodys Ohren füllten sich mit dem Pochen ihres eigenen Blutes, ihre Augen verschleierten sich. Blitzschnell streckte Grunthor den Arm aus und erwischte sie gerade noch, ehe sie auf dem Boden aufschlug. Als er sie in seinen Armen zu sich drehte, sah er, dass ihr Gesicht ganz verzerrt war, vor Angst, aber auch noch etwas anderem.

»Was ist los, Gräfin?«, fragte er besorgt, während er ihr mit seiner riesenhaften Pranke auf die Wange klopfte.

Rhapsody blinzelte, versuchte das Gefühl zu verjagen, dass der Himmel über ihr zusammenbrach, und blickte an Grunthor vorbei zu der orlandischen Botschafterin. Prudence war eine hübsche Frau mit blasser Haut und rotblonden Locken, stellte sie zerstreut fest. Aber in ihren dunkelbraunen Augen schimmerte etwas, was man beinahe schon als Panik bezeichnen konnte. Doch dann, während Rhapsody Prudence so ansah, verschwand dieses Gesicht plötzlich, wurde wie von den Klauen eines brutalen Windes fortgerissen, bis Knochen und Muskeln offen lagen. Ihre Augen verschwanden aus den Höhlen und ließen dunkle, mit getrocknetem Blut gefüllte Höhlen zurück. Rhapsody verschlug es vor Schreck den Atem.

»Herrin?« Auch Prudences Stimme zitterte.

Wieder blinzelte Rhapsody. Prudences Gesicht sah wieder aus wie zuvor.

»Es tut mir ... es tut mir sehr Leid«, sagte sie. Vorsichtig zog Grunthor sie auf die Füße und klopfte ihr den Schmutz von den Kleidern. Mit einem schwachen Lächeln sagte sie zu der erschrockenen Botin: »Anscheinend macht mir die Sonne auch zu schaffen. Im Griwen-Posten können wir uns hinsetzen und uns abkühlen. Würdet Ihr mit uns kommen?«

Prudence warf einen Blick hinüber zu dem Posten, wo sechs Firbolg-Wachen standen und sie neugierig begafften. Einer von ihnen lächelte ihr zu, eine gruselige Grimasse, bestenfalls ein anzügliches Grinsen. Prudence schauderte.

»Ich, ich muss zurück«, stammelte sie. »Die Postkarawane ist drei Tage vor uns, und wir sollten uns beeilen, um sie nicht zu verpassen.«

Rhapsodys Gesicht wurde ernst. »Ihr seid nicht mit der geschützten Karawane gekommen?«

Prudence schluckte. Tristan hatte keinen Zweifel an der Notwendigkeit gelassen, ihre Mission diskret und geheim durchzuführen.

»Nein«, antwortete sie.

»Wollt Ihr mir sagen, dass der Herrscher von Roland eine Zivilistin ohne den Schutz der bewaffneten wöchentlichen Karawane nach Ylorc geschickt hat?«

»Ich habe eine Leibwache dabei, und auch der Kutscher ist ein orlandischer Soldat«, entgegnete Prudence. Welch eine Ironie, dachte sie. Mit Tristan hatte sie die gleiche Diskussion geführt. Es war schon ein wenig makaber, dass sie jetzt die Position verteidigte, gegen die sie damals protestiert hatte.

Einen Augenblick lang machte Rhapsody ein nachdenkliches Gesicht, dann fasste sie einen Entschluss. Sie streckte Prudence die Hand entgegen. »Bitte kommt mit mir«, sagte sie. »Ich verspreche Euch, Ihr seid hier in Sicherheit.«

Die Worte klangen so wahr, dass Prudence fast unwillkürlich nach Rhapsodys Hand griff und sich von ihr zum Posten führen ließ.

Der Wachturm des Griwen-Postens war aus einer Felswand gehauen worden, die zu einem von Ylorcs höchsten Gipfeln führte. Im Innern des Postens waren die Wände glatt und gerade geschliffen, die Böden aus poliertem Stein. Darüber erhob sich in zahlreichen Stockwerken der eigentliche Turm, größer als Avonderres Leuchtturm. In Richtung Westen, Norden und Süden gab es drei Plattformen, verbunden mit in die Mauer zementierten Leitern, die so lang waren, dass Prudence ihr Ende nicht sehen konnte. Staunend blickte sie um sich, während sie mit dem riesigen Firbolg und der kleinen zierlichen Frau an den Barrikaden vorbeiging, die mit langen Reihen verborgener Fenster versehen und mit hunderten schussbereiter Bogen gesäumt waren.

Sie kamen an Arbeitsräumen, Baracken und mehreren großen Versammlungshallen vorbei, und Prudences Staunen wuchs von Minute zu Minute. Sie hatte ihr ganzes Leben in Tristans Festung zugebracht, deren Wälle sich mit diesen hier nicht annähernd messen konnten. Dabei war Griwen nur ein Außenposten und nicht etwa ein Teil der eigentlichen Bergfestung. Sie nahm sich vor, Tristan klar zu machen, dass man ihm hier eindeutig überlegen war. Schließlich hielt Rhapsody vor einer schweren, lackierten und mit Eisenbändern beschlagenen Tür an. Sie öffnete sie und wies mit einer Handbewegung ins Innere des Raumes.

»Bitte kommt herein«, sagte sie.

Prudence gehorchte; ihr Blick streifte sogleich die Waffengestelle neben der Tür. In der Mitte des Raumes stand ein langer, schwerer Tisch aus roh behauenem Kiefernholz, umgeben von ebenso groben Stühlen. Rhapsody blieb lange genug in der Vorhalle stehen, um ein paar Worte mit dem Riesen wechseln zu können, dann kam sie ebenfalls ins Zimmer. Sie winkte in Richtung Tisch.

»Bitte, Prudence, macht es Euch bequem.«

Prudence gehorchte, während Rhapsody ihren langen grauen Umhang abnahm und ihn an einen Haken neben der Tür hängte. Dann ließ sie sich auf einem Stuhl gegenüber von Prudence nieder.

»Es tut mir Leid, dass ich nicht die Gelegenheit hatte, Grunthor richtig vorzustellen«, sagte sie. »Er holt Erfrischungen für uns.« Prudence nickte. »Nun, während wir allein sind, könntet Ihr mir doch erzählen, warum Ihr wirklich gekommen seid.«

Prudence wandte den Blick ab. »Ich weiß nicht, was Ihr damit meint.«

»Vergebt mir, aber ich glaube, das tut Ihr doch. Obgleich der Herrscher von Roland und ich ein paar unangenehme Gespräche hatten, und der Tatsache zum Trotz, dass er sich in seinem Urteilsvermögen mehrmals ernsthaft geirrt hat, kann ich kaum glauben, dass er so töricht ist, in einer Routinesache einen Sonderbotschafter loszuschicken, der so offensichtlich kein Soldat ist, um eine Hochzeitseinladung zu überbringen. Vor allem wenn es eine wöchentliche Karawane gibt, die solche Sendungen mit einer Eskorte von fünfzig bewaffneten Männern bewerkstelligt. Warum seid Ihr wirklich hier, Prudence?«

Rhapsodys Ton war sanft und verständnisvoll. Als Prudence ihr in die Augen schaute, fand sie dort rückhaltlose Sympathie. Allmählich verstand sie nur zu gut, was Tristan meinte, wenn er davon sprach, wie schwer es war, nicht an sie zu denken. Diese Frau besaß eine ungeheure Anziehungskraft, ob in der Musik ihrer Worte oder einfach in der Wärme, die von ihr ausging. Wie dem auch sein mochte Prudence musste jedenfalls gegen den Sog ankämpfen, der davon ausging.

»Der Herrscher von Roland bedauert das, was er Euch früher angetan hat«, erwiderte sie stockend. »Es ist ihm offen gesagt peinlich, wie er Euch behandelt hat.«

»Dafür besteht kein Anlass.«

»Dennoch möchte er die Sache wieder gutmachen. Deshalb hat er mich gebeten, Euch zu einem Besuch nach Bethania einzuladen, damit er sich persönlich entschuldigen und weiterhin seine guten Absichten gegenüber dem Königreich von Ylorc beweisen kann. Außerdem würde er Euch gern die Stadt zeigen und verspricht Euch einen Rundgang mit allem, was dazugehört, und einer entsprechenden Eskorte.«

Rhapsody unterdrückte ein Lächeln. Als sie das erste Mal in Bethania gewesen war, hatte sie aus Versehen für einen Aufstand auf der Straße gesorgt und wäre um ein Haar sowohl von Tristans Soldaten als auch von der Stadtwache ergriffen worden.

»Das ist sehr freundlich, aber ich bin noch immer nicht sicher, ob ich das recht verstehe. Warum hat er mir nicht eine schriftliche Einladung geschickt oder Euch zumindest mit der Karawane reisen lassen? Die Zeiten sind gefährlich, nicht nur in Ylorc, sondern überall.«

»Ich weiß.« Prudence seufzte tief. »Ich erfülle nur den Auftrag meines Gebieters, Herrin.«

Die goldhaarige Frau überlegte einen Moment und nickte dann. »Bitte nennt mich Rhapsody. Ich fürchte, ich bin gerade erst von einer ziemlich langen Reise zurückgekehrt und muss mich jetzt eine Zeit lang um meine Pflichten hier in Ylorc kümmern. So Leid es mir tut, kann ich daher die Einladung Eures Herrn nicht annehmen.«

Prudence bekam einen trockenen Mund, als sie sich Tristans Enttäuschung vorstellte. »Wie bedauerlich. Ich hoffe, Ihr schlagt nicht auch noch die Einladung zur Hochzeit aus.«

Rhapsody lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Ich bin nicht sicher, was ich dazu sagen soll. Noch immer erscheint es mir äußerst seltsam, dass der Hohe Herrscher von Roland eine Angehörige des niederen Volkes bei seiner Hochzeitsfeier dabei haben möchte.«

»Ich versichere Euch, er hat es absolut ehrlich gemeint.«

»Hmmm. Nun, braucht Ihr sofort eine Antwort?«

»Aber nein, keineswegs«, antwortete Prudence erleichtert. »Ihr könnt Eure Entscheidung zusammen mit dem König von Ylorc bekannt geben.«

Die Tür ging auf, und Grunthor trat ins Zimmer, gefolgt von einem Bolg-Soldaten, der ein Tablett mit einem Krug, Gläsern, Honigbrötchen und Obst brachte. Der Mann stellte alles rasch auf den Tisch und verließ den Raum sogleich wieder, die Tür fest hinter sich zuziehend. Rhapsody lächelte Grunthor zu, dann wandte sie sich wieder an Prudence, und abermals stockte ihr der Atem. Tristans Botin lag schlaff in einer grotesken Verrenkung auf dem Stuhl, die leeren Augenhöhlen zur Decke gerichtet. Ihr Gesicht war völlig entstellt, die Nase verschwunden; in dem Moment, als Rhapsody weggesehen hatte, schien sie von wilden Hunden oder anderen Raubtieren zerfleischt worden zu sein.

Rhapsody schloss die Augen, um die Vision zu beenden, aber das Bild ließ sich nicht verscheuchen. Stattdessen lag Prudences zerstörter Körper nun im Dunkeln auf einem grünen Hügel. Nur an den Überresten ihres zerzausten Haars war sie überhaupt zu erkennen, rotgoldene Strähnen, mit schwarzem Blut verklebt, leise im Wind wehend. Rhapsody holte tief Atem, wappnete sich innerlich, versuchte ihr rasendes Herz zu besänftigen und stellte sich der Vision. In ihrem Geist erweiterte sich das Bild, entfernte sich ein Stück von ihr, bis sie den Ort erkannte, an dem der verstümmelte Körper lag. Es war Gwylliams Großer Gerichtshof.

Eine riesige, starke Hand umschloss sanft ihre Schulter, und die Vision verschwand. Rhapsody öffnete die Augen. Prudence starrte sie an, mit dem gleichen angstvollen Ausdruck wie vorhin, nur war er jetzt noch intensiver geworden.

»Prudence.« Rhapsody konnte nur flüstern. »Prudence, Ihr müsst heute Nacht hier bleiben. Bitte. Ich fürchte um Eure Sicherheit, wenn Ihr gleich wieder geht.«

Doch Prudence fürchtete sich ohnehin. »Ich danke Euch, wirklich«, sagte sie dennoch, »aber es besteht kein Grund, dass Ihr Euch Sorgen macht. Ich werde gut bewacht, und nach weniger als der Hälfte des Weges stoßen wir auf der Rückfahrt ja auf die Karawane.«

Rhapsody drängte die Tränen zurück, die ihr plötzlich in die Augen traten. »Dann seid Ihr trotzdem mindestens drei Tage allein unterwegs. In der Zwischenzeit kommt aber die nächste Karawane schon hier vorbei, die der dritten Woche. Kehrt doch mit ihr nach Bethania zurück es ist gleich der erste Halt nach Bethe Corbair. Bis dahin könnt Ihr hier bleiben, in Sicherheit, als unser Gast. Bitte, Prudence; eine kleine Kutsche ohne bewaffneten Schutz ist verletzlich, und wir leben in gefährlichen Zeiten.«

Die Verzweiflung in Rhapsodys Stimme machte Prudence nur noch mehr Angst, und sie erhob sich vom Tisch, noch immer sichtbar zitternd. »Nein. Es tut mir Leid, aber ich muss umgehend nach Bethania zurück. Ich habe die Botschaft überbracht, mit der ich hergeschickt wurde. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, meine Wachen warten auf mich.« Sie blinzelte und bemühte sich, nicht auf die Tränen dieser Frau zu reagieren. Tristan hatte vollkommen Recht; es war, als hätte sie sich in einer Welt aus endlosem Schnee verlaufen und Rhapsody wäre die einzige Wärmequelle. Tief in ihrem Herzen fragte sich Prudence, ob sie nicht auch etwas Dämonisches an sich hatte.

Schnell schob sie ihren Stuhl zurück, rannte zur Tür, riss sie auf und verschwand. Grunthor blickte erst auf die noch in den Angeln zitternde Tür, dann sah er zu Rhapsody hinüber, die still am Tisch saß und die Wand anstarrte.

»Geht’s dir jetzt wieder gut, Fräuleinchen?«

Einen Moment schwieg sie nachdenklich. Als sie aufblickte, glänzten ihre Augen entschlossen.

»Grunthor, würdest du etwas sehr Wichtiges für mich erledigen?«

»Alles, Schätzchen. Das weißte doch.«

»Folge ihr, bitte. Sofort. Nimm so viele Truppen mit, als müsstest du sie gegen einen sehr mächtigen Gegner verteidigen, und folge dieser Kutsche, bis sie den Großen Gerichtshof passiert und die Grenze nach Roland hinter sich gebracht hat. Ehe du zurückkommst, vergewissere dich, dass sie Ylorc wohlbehalten verlassen hat und sich auf den Krevensfeldern befindet, um die Karawane der zweiten Woche zu erreichen, weit weg von unserem Land. Tust du das für mich?«

Grunthor betrachtete sie ernst. »Na klar, Gräfin. Wir nehmen die Feldtunnel, dann kriegt sie nich mal mit, dass wir da sind.«

Rhapsody nickte. Die cymrischen Brustwehren bildeten ein Labyrinth versteckter Gräben, Rinnen und Tunnel, die am Fuß der Zahnfelsen vor vielen Jahrhunderten von treu zu Gwylliam stehenden Nain-Handwerkern ausgehoben worden waren. Verfallen und unbenutzt durchzogen sie die Steppe, aber Grunthor hatte sie wieder entdeckt. Sofort hatte Achmed es zur Priorität erklärt, dass sie auf Vordermann gebracht wurden, und nun durchquerten die Bolg die weiten Felder vor den Bergen still und unsichtbar. Prudence war schon verängstigt genug. Es würde sie wohl kaum beruhigen, wenn sie entdeckte, dass der Riesen-Sergeant und ein guter Teil der Bolg-Truppen ihr folgten.

Grunthor gab Rhapsody einen Kuss auf die Wange und verließ das Zimmer. Allein wartete sie noch ein paar Minuten, dann ging auch sie hinaus, um auf den hohen Turm des Grivven-Postens zu steigen, wo sie in das trübe Licht der untergehenden Sonne hinausstarrte und zusah, wie ihr riesenhafter Freund und sein Regiment sich über die Felder auf den Weg machten und vor ihren Augen im Erdboden verschwanden, um der fernen Kutsche zu folgen.

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