Das Zwielicht verwandelte sich bereits in tiefblaue Dunkelheit, als die beiden Frauen die Lichtung erreichten. Der Tagesstern war untergegangen, doch die Sterne der Nacht lugten einer nach dem anderen hervor und schimmerten sanft, ehe sie ihre Plätze am Nachthimmel beanspruchten und hell durch die Wolkenfetzen schienen, die vor dem aufgehenden Mond vorüberzogen.
Rhapsody räusperte sich und sammelte ihre Gedanken. Sie fühlte sich wie getrieben, nachdem sie den Nachmittag unbemerkt hatte verstreichen lassen, und brauchte deshalb ein paar Atemzüge, um sich zu sammeln und Ehrfurcht zu verspüren. Die erschreckenden Neuigkeiten, die Oelendra ihr erzählt hatte, waren für den Moment vergessen, damit sie die uralte Zeremonie nicht störten, die sie Tag um Tag zum Andenken an ihre Mutter vollzog. Als auch der allerletzte Sonnenstrahl hinter dem Horizont versunken war, sang sie die ersten Töne der Abschiedsvesper, des Abendlieds, das der Sonne auf ihrem Weg durch die Dunkelheit eine gute Reise wünschte und versprach, sie am Morgen voller Freude zu begrüßen.
Sie sang leise und wartete, dass Oelendra einstimmte, aber die Lirin-Kämpferin stand schweigend da und lauschte. Rhapsodys Stimme wurde voller, während die Nacht sich weiter herabsenkte und die Sterne heller strahlten; sie konnte ihr Licht in den Augen spüren. Es fühlte sich so richtig an, hier in Tyrian zu singen, und ein Gefühl von Freiheit und Wohlbehagen stieg in ihr auf. Das Lied wurde nicht von Wind und Erde festgehalten, sondern schwebte frei und leicht zum Himmel empor. Die Lirin dieses Landes waren keine Liringlas, keine Himmelssänger, aber sie waren immer noch Himmelskinder.
Die Begrüßung der Sterne währte nicht lange; die Verse waren kurz und knapp, und schon bald hatte Rhapsody ihre Gebete beendet. Die komplexeren Lobgesänge ließ sie aus, denn sie wusste nicht recht, warum Oelendra nicht einstimmte, und wollte die Situation keinesfalls schlimmer machen, falls sie aus irgendeinem Grund ihr Missfallen erregt hatte. So atmete sie die süße Nachtluft tief ein und wandte sich an Oelendra. Ihr Lächeln verblasste, als sie deren Miene gewahrte.
»Oelendra? Was ist mit dir?«
Die Lirin-Kämpferin starrte mit einem völlig verlorenen Gesichtsausdruck gen Himmel. Sie sah so traurig aus, dass Rhapsody zuerst nur tiefstes Mitleid empfand. Dann aber fing sich Oelendra wieder, und ihr Gesicht spiegelte jene sanfte Weisheit, zu der sich Rhapsody bei ihrer ersten Begegnung so hingezogen gefühlt hatte.
»Nichts, Liebes. Ich habe nur nachgedacht. Warum gehst du nicht zurück ins Haus? Ich komme gleich nach.«
Rhapsody nickte und gehorchte. Sie ging den Weg zurück zu Oelendras Behausung, trat ein und ließ die Tür hinter sich offen stehen.
Im Schutz der Dunkelheit stand Oelendra wartend da und starrte zu den Sternen empor. Rhapsodys Lied hatte in ihr eine Erinnerung geweckt die Erinnerung an ein Ritual, das sie jeden Morgen und jeden Abend an jedem Tag ihres Lebens treu begangen hatte, ehe sie ihre Heimat verlassen hatte und hierher gekommen war. Ein Ritual, das sie bis eben vollkommen vergessen hatte.
Ihre eigenen Gebete hatten nicht nur die übliche Liringlas-Vesper umfasst, die Rhapsody gerade gesungen hatte, sondern auch das Klagelied des Gefallenen Sterns, des Sterns, dem sie ihren Namen verdankte. Wie lange war es her, dass dieses Lied gesungen worden war? Erinnerte sich unter den jetzt Lebenden überhaupt noch jemand an den verloschenen Stern, oder hatte sie mit ihrer Nachlässigkeit sein Andenken für immer getilgt? Sie spürte, wie ihr verkrampftes Herz sich entspannte, während die Erinnerungen zurückkehrten; die Lieder, die ihr in all den kummervollen Stunden Trost gespendet und eine Orientierung gegeben hatten, gehörten ihr jetzt wieder. Dabei hatte sie nicht einmal bemerkt, dass sie nicht mehr da gewesen waren. Dieses Mädchen hatte sie ihr geschenkt; der erste dunkle Ort, an den Rhapsody Licht brachte, war Oelendras eigenes Herz. Und der Ort, von dem das Licht stammte, war ebenfalls dunkel; er lag verborgen in den Tiefen der stillen See. Licht ins und aus dem Dunkel. Die Iliachenva’ar.
Der frische Wind der Frühlingsnacht griff nach dem Saum von Oelendras Umhang, aber es war nicht die Brise, die die Augen der Kriegerin feucht werden ließ. Oelendra wischte sich die Tränen von den Wangen, als sie am Rand der Lichtung Halt machte, um ihr Haus zu betrachten. Wie konnte ich das vergessen? Es muss geschehen sein, als die Tagessternfanfare verstummte, in dem Augenblick, als das Schwert und Serendair für immer voneinander getrennt wurden.
Nun umschloss die Dunkelheit sie von allen Seiten. Das Licht, das aus ihrem Heim strömte, war wie eine warme Insel mitten im schwarzen See der Nacht. Im Innern des Hauses sah sie Rhapsody umhergehen. Sie rührte in dem Eintopf, der über dem Feuer hing, und wandte sich dann einer Vase mit Frühlingsblumen auf dem Tisch zu; offenbar hatte sie diese im Dunkeln gepflückt.
Oelendra lächelte unwillkürlich. In ihr schlummern Möglichkeiten, dachte die alte Kriegerin, während sie die junge Sängerin beobachtete. Sie hat ein edles Herz und ist voll selbstloser Hingabe an andere. Sie weiß, dass es Dinge gibt, die größer, höher sind als sie selbst, und sie möchte ihnen dienen. Sie könnte dort erfolgreich sein, wo die anderen wo wir anderen versagt haben. Das Mädchen stellte zwei Teller auf den Tisch und blickte kurz aus dem Fenster, ehe sie sich wieder dem Eintopf zuwandte. Wie lange ist es her, dass jemand für mich den Tisch gedeckt hat?, überlegte Oelendra, als Rhapsody aus ihrem Blickfeld verschwand. Das Mädchen war anders, das machte die Sache schwieriger. Oelendra wusste, dass ihr vernarbtes Herz sich noch einmal öffnen musste, dass es den Schmerz noch einmal riskieren würde, um an dieses Mädchen zu glauben, ihr zu helfen und sie zu lieben, unter Tränen zu beten, dass sie die Prüfung überlebte, die das Schicksal ihr zugedacht hatte. Rhapsody reichte Oelendra die abgetrockneten Teller zum Wegstellen und setzte sich dann ans Feuer. »Erzählt Ihr mir die Geschichte von Gwydion bitte zu Ende?«
Oelendra klappte den Schrank zu und lächelte. Dann ging sie zu dem Schaukelstuhl und ließ sich mit untergeschlagenen Beinen darauf nieder. »Wir waren tatsächlich noch nicht fertig, nicht wahr? Nun denn ... Obgleich Gwydion tödlich verwundet war, lebte er noch, als ich ihn fand. Ich konnte nichts tun, um ihn zu retten, nicht einmal seine Schmerzen lindern, und deshalb trug ich seinen geschundenen Körper tief in den Großen Wald, am Schleier von Hoen vorbei, in die Obhut von Fürst und Fürstin Rowan. Sie bemühten sich sehr um seine Heilung und kämpften tagelang um sein Leben.
Als nichts helfen wollte und Gwydion weiter Todesqualen litt, nahm ich schließlich einen Sternsplitter vom Heft meines Schwerts und gab ihn der Fürstin. Weißt du, im Griff der Tagessternfanfare war ein Stück von Seren, dem Namensstern unserer Heimat. Das war meine Verbindung zu dem Schwert, ein reines Fragment des Ätherelements; ich wusste, dass nichts sonst in meinem Besitz solche Macht besaß wie dieses Stück außer dem Schwert selbst natürlich. Ich überließ es ihnen in der Hoffnung, dass sie mit diesem Sternensplitter einen letzten Versuch unternehmen würden, Gwydion zu retten, aber sie konnten nichts mehr für ihn tun. Vielleicht ist es gut so, denn mit dieser Elementarmacht zu leben wäre für Gwydion womöglich schlimmer gewesen als der Tod.«
»Warum?«
»Weil Gwydion der Urenkel von Elynsynos war und als solcher Drachenblut in sich hatte, das sich in seinen Adern mit Menschenblut mischte. Eine solch intensive Machtquelle hätte die schlummernde Drachennatur in ihm möglicherweise voll zum Tragen gebracht. Ich bezweifle, dass er als Drache hätte leben wollen, denn er besaß die Seele eines Menschen. Wahrscheinlich ist es für uns alle ein Segen, dass er nicht überlebt hat; wenn der F’dor in der Lage gewesen wäre, ihn an sich zu binden, den Drachen zu beherrschen ich schaudere bei dem Gedanken, wie er die Macht missbraucht hätte, um die Elemente selbst zu kontrollieren. Es war eine Verzweiflungstat, den Stern um Gwydions willen aufzugeben, und es war umsonst; trotzdem bereue ich nicht, es versucht zu haben.«
»Ich bin sicher, dass er Eure Freundlichkeit und Großherzigkeit auch noch in seinen letzten Augenblicken zu schätzen wusste, Oelendra.«
»Ich bezweifle, dass er irgendetwas anderes wahrnahm als seine eigene Todesqual, Rhapsody. Es war das Schlimmste, was ich jemals einen Menschen habe erdulden sehen, und ich habe grässliches Leid miterlebt.«
Rhapsody musste sogleich an Llauron denken. »Ich frage mich, ob Gwydion unter der weißen Esche im Garten des Fürbitters begraben ist, unter dem Baum, den Llauron Mahb nennt.«
»Vielleicht. Es ist jedenfalls das Wort für Sohn.« »Habt Ihr seinen Leichnam zurückgebracht?« Oelendra schüttelte den Kopf. »Nein; Fürst Rowan sagte mir, es sei Zeit für mich, ins Land der Lebenden zurückzukehren. Die Fürstin segnete Gwydions Körper, als ich durch den Schleier zurückkehrte. Ich konnte Llauron nicht einmal übermitteln, was sein Sohn in seinen letzten Augenblicken sagte oder tat, denn ich war nicht bei ihm.« Rhapsody war bass erstaunt. »Das Land der Lebenden?« Über Oelendras Gesicht huschte ein entrücktes Lächeln. »Der Hof der Rowans ist ein mystischer Ort, Rhapsody, auf der anderen Seite des Schleiers der Freude. Um ihn zu betreten, muss man dem Tod nahe sein oder sich in einer Situation befinden, in der es um Leben oder Tod geht. Dort verstreicht die Zeit nicht wie hier; man kann für Jahre verschwunden sein, und bei der Rückkehr ist nur ein einziger Augenblick vergangen.«
»Und wer sind die Rowans? Heiler?«
Nun wurde Oelendras Lächeln traurig. »Große Heiler sogar, obgleich ihre Heilkunst oft schwer anzunehmen ist. Die Fürstin ist Hüterin der Träume, Wächterin des Schlafes, Yl Breudivyr. Der Fürst ist die Hand der Sterblichkeit, der Friedliche Tod, Yl Angaulor. Deshalb weiß ich, dass Gwydion tot ist, auch ohne dass ich seinen letzten Augenblicken beigewohnt habe; Fürst Rowan selbst hat mir gesagt, dass es Zeit sei. Da verließ ich ihn, denn ich wurde nicht mehr gebraucht und war nicht mehr willkommen. Wenn ich den Fürsten und die Fürstin das nächste Mal sehe, werde ich für immer in ihr Reich eingehen und nicht mehr auf dieser Erde wandeln. Als ich dich sah, wusste ich, dass die Zeit nicht mehr fern ist.«
Eine Welle von Übelkeit durchflutete Rhapsody. »Wollt Ihr damit sagen, dass meine Ankunft die Ursache Eures Todes sein wird?«
»Nein, aber ich lebe schon viel länger, als meine Zeit währen sollte, und warte darauf, dass mich endlich jemand als Wächterin ablöst. Jetzt, da ich jemanden gefunden habe, an den ich mein Verwalteramt weitergeben kann, werde ich endlich zur Ruhe kommen und mit denen wiedervereint sein, die ich liebe. Nicht nur in dieser Welt gibt es Unsterblichkeit, Rhapsody.«
Oelendras Blick ging Rhapsody durch und durch, mitten ins Herz. Schon so oft hatte sie selbst sich nach dem Gleichen gesehnt.
»Und damals habt Ihr das Schwert aufgegeben?«
Lächelnd trank Oelendra einen Schluck dol mwl. »Damals hat das Schwert mich aufgegeben. Nachdem ich das Stück des Sterns entfernt hatte, wollte ich es wieder umgürten, aber es war in der Erde verschwunden, auf der ich es hatte liegen lassen. Einen Herzschlag lang sah ich sein Licht, dann war auch das verschwunden. Es schien fast, als wäre es mit Gwydion gestorben, begraben hinter dem Schleier von Hoen. Ein angemessener Ort, wie mir schien. Aber ich wusste, dass es irgendwann zurückkehren würde, und nun ist es so weit.«
Rhapsody nickte. Jetzt wusste sie, wie das Schwert in die Erde gekommen war. Den Rest des Abends verbrachten sie in angenehmer Unterhaltung. Rhapsody spielte auf der Laute, die Elynsynos ihr geschenkt hatte, mehrere Weisen aus der alten Welt und sang bei einigen davon auf Alt-Lirinsch mit. Oelendra lauschte hingerissen, stimmte aber wieder nicht mit ein. Ihrerseits erzählte sie der Sängerin von längst vergangenen Zeiten, von den letzten ruhmreichen Tagen nach dem Krieg, vor der Katastrophe, als Serendair noch eine kurze Zeit des Friedens erlebt hatte, von Freunden und Kameraden und unvergesslichen Erinnerungen. Schließlich wurde Rhapsody von der Müdigkeit der langen Reise überwältigt, und sie schlief neben dem Feuer ein. Einige Zeit später wachte sie auf, weil sich eine Hand sanft auf ihre Schulter legte.
»Komm, Liebes, ich zeige dir, wo du wohnen wirst.« Rhapsody erhob sich und rieb sich verschlafen das Gesicht. »Ich muss unbedingt bald eine Botschaft nach Ylorc schicken, wenn es irgendwie möglich ist«, sagte sie.
»Ja«, stimmte Oelendra ihr zu. »Ich begleite dich morgen früh nach Tyrian-Stadt. Dort macht die Postkarawane regelmäßig jede Woche Halt. Bestimmt sind deine Freunde froh, wenn sie hören, dass du wohlbehalten hier angekommen bist. Aber nun folge mir, du bist erschöpft.«
Wie im Traum folgte Rhapsody der älteren Frau an dem großen Kamin vorbei und einen Gang entlang. Oelendra führte sie in ein kleines Zimmer am anderen Ende des Hauses. Es hatte ein schmiedeeisernes Gitter vor dem Fenster, an der einen Wand stand ein Himmelbett, an der anderen ein schwerer Schrank. Auf dem Bett lag eine ganze Auswahl von Decken und Fellen, genug, um einen frostigen Winter zu überstehen.
»Das ist dein Zimmer, so lange du es haben möchtest«, sagte Oelendra. »Mach es dir gemütlich und schlaf ein wenig. Wenn es dir recht ist, zeige ich dir morgen die Stadt. Doch nun schlaf dich erst einmal aus. Ich vermute, du hast es bitter nötig.«
»Danke.« Rhapsody konnte kaum noch die Augen offen halten. »Wahrscheinlich sollte ich Euch warnen, ich habe nämlich oft Albträume. Falls Ihr mich in der Nacht hören solltet, entschuldige ich mich schon im Voraus dafür.«
»Nach allem, was du durchgemacht hast, wundert es mich nicht, dass du träumst. Ich habe das auch getan. Irgendwann geht es vorbei. Erst schläfst du eine einzige Nacht ohne Träume, dann kommen sie immer seltener, und schließlich suchen sie dich gar nicht mehr heim. Ruh dich gut aus.« Oelendra berührte Rhapsodys Schulter, als sie ging. Rhapsody zog sich aus und kroch sofort ins Bett.
Sie träumte nicht vom alten Land, auch nicht von einem Dämon, sondern von einem schönen Gesicht, das unsicher lächelte. Sie sah es wieder, wie es sie im Licht des Wäldchens anlächelte, ihr an der Schwelle der Drachenhöhle Lebewohl sagte.
Eine entstellte, böse Kreatur, vor der du dich in Acht nehmen musst, Hübsche. Und höre: Er befindet sich ganz hier in der Nähe. Sei vorsichtig, wenn du meine Höhle verlässt. Wieder lächelte das Traumgesicht sie unsicher an. Dann schien die Sonne durchs Laub des Waldes, und es begann zu schmelzen große, eisige Tränen rannen aus seinen Augen, bis es sich ganz auflöste und nur mehr eine Lache dampfenden Wassers übrig blieb, in dem sich noch immer sein Bild spiegelte.
»Was hast du zu trinken?«
»Portwein. Oder einen jungen Branntwein.«
»Nichts Stärkeres?«
»Hmmmm. Heute ist also kein guter Tag?«
»Offenbar hast du in letzter Zeit nicht viel auf meinen Zustand geachtet.«
»Das stimmt nicht; und deshalb habe ich diesen wundervollen canderischen Whiskey vorrätig.«
»Der wäre nicht schlecht.«
»Ich gestehe, dass ich ein wenig überrascht bin, dich zu sehen. Warum bist du hergekommen?«
»Ich denke, deine Gastfreundschaft ist schuld daran. Ihr kann ich nur schwer widerstehen.«
»Nun werde doch nicht gleich so unwirsch. Du weißt, dass ich mich immer sehr über deinen Besuch freue.«
»Natürlich. Habe ich dich bei etwas Wichtigem unterbrochen? Hast du gerade über die Vernichtung von jemand Bedeutendem nachgedacht?«
»Diese Bemerkung überhöre ich. Hier ist dein Whiskey. Was willst du von mir?«
Ashe nahm einen Schluck und behielt die beißende Flüssigkeit einen Augenblick im Mund.
»Ich möchte, dass du dir deine Pläne für Rhapsody noch einmal überlegst.«
»Ach wirklich? Und warum sollte ich?«
Er nahm einen weiteren, größeren Schluck und setzte sich an den reich verzierten Holzschreibtisch. »Wenn sie die ist, für die wir sie halten, dann ist es unklug, ihren guten Willen zu missbrauchen.«
»Wenn sie die ist, für die wir sie halten, dann wird sie es verstehen. Es ist ebenso ihr Schicksal wie das unsere.«
»Weißt du, ich glaube, du machst dir einen völlig falschen Begriff von Schicksal als solchem. Andere Leute nehmen es nicht immer so an, wie du es gern hättest, sie deuten es nicht einmal auf deine Weise. Vor allem, wenn es ihnen Schaden, Schmerz oder gar Untergang beschert.«
»Du urteilst jetzt nicht zufällig aus deinem eigenen Blickwinkel heraus, oder?«
Ashe hielt schweigend inne. »Nein. Selbstverständlich nicht.«
»Das dachte ich mir schon. Und seit wann bist du so um das Wohlergehen meines Schützlings besorgt, wenn ich fragen darf?«
»Du bist nicht der Einzige, der sie für seinen Schützling hält, weißt du. In diesem Augenblick ist sie bei Oelendra, um Unterricht zu nehmen.«
»Gut, gut. Das wird helfen. Aber weiche meiner Frage nicht aus. Woher kommt all deine Sorge um Rhapsody? Hast du den Eindruck gewonnen, dass sie der Aufgabe nicht gewachsen ist?«
»Wohl kaum. Wenn überhaupt, ist sie eher noch viel mehr dazu in der Lage, als wir ursprünglich angenommen haben.«
»Warum bist du dann so besorgt?«
Ashe schwenkte den restlichen Whiskey in seinem Glas und trank ihn dann in einem Zug. Leider übte der Alkohol keinerlei betäubende Wirkung auf ihn aus. »Es wäre mir äußerst unangenehm, wenn all unsere Pläne zu nichts führen würden, nur weil du deinen Einfluss auf einen der drei falsch eingeschätzt hast.«
Er blickte auf in Augen aus blauem Granit, die ihn anstarrten und deren Glanz etwas Reptilienhaftes an sich hatte. So fehl am Platz wirken sie in dem freundlichen alten Gesicht, dachte er.
»Nun, ich will mich deutlich ausdrücken. Ich brauche Rhapsody in der Rolle, für die ich sie vorgesehen habe. Das kann keiner von euch anderen. Aber es ist eine Nebenrolle. Wenn es darum geht, sich bei jemandem lieb Kind zu machen, dann ist es allein Achmed, dessen Gunst ich mir erhalten muss. Er ist als Einziger unersetzlich.«
Ashe lächelte, stand auf und schlenderte zur Hausbar hinüber. »Du durchschaust die Machtstrukturen ganz und gar nicht«, meinte er, während er sein Glas bis knapp unter den Rand füllte. »Achmed ist Rhapsody treu ergeben. Es ist ihre Loyalität dir gegenüber, die ihn beeinflussen könnte, nicht seine eigene. Du und deine Pläne könnten ihm kaum gleichgültiger sein. Und wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, wird er es dir heimzahlen.«
Nun war Llauron an der Reihe zu lächeln. »Weißt du, dein Mangel an Gründlichkeit enttäuscht mich. Ich fürchte nämlich, du irrst dich. Achmed hat andere Gründe, das zu tun, was ich will; Gründe, die viel älter sind und weitaus zwingender als irgendeine Liebe oder Freundschaft, die sein hässliches Herz für sie empfinden mag. Offensichtlich kennst du die drei doch nicht so gut, wir ich es mir erhofft hätte, nachdem du so lange mit ihnen zusammen warst. Zeitverschwendung.«
Ashe schwieg und starrte in die züngelnden Flammen des Kaminfeuers. Abgesehen vom Nebel könnte er einer der Schatten im Raum sein, dachte Llauron. Seine Stimme wurde sanft, als er seinem Sohn die Hand auf die Schulter legte.
»Weiß sie Bescheid?«
»Worüber?«
»Dass du sie liebst.«
»Nein.«
»Gut. Das ist für alle Beteiligten besser.«
Ein unangenehm ersticktes Lachen drang aus dem nebligen Schatten. »Wirklich? Ich bin wahrhaft gespannt, wie du diese Überzeugung zu erklären gedenkst. Wie kann es für irgendjemanden besser sein außer für dich?«
Der alte Mann seufzte und ging zurück zu seinem Stuhl. »Es gab eine Zeit, als du völlig darauf vertrautest, dass ich weiß, was für alle am besten ist vor allem weil das, was gut für mich ist, auch gut für dich ist und letzten Endes auch für den Rest des Landes.«
»Vermutlich verblasst auch die leidenschaftlichste Heldenverehrung ein wenig, wenn man zwanzig Jahre allein und in körperlicher und geistiger Qual durch die Welt gewandert ist.«
Die Stimme aus dem Sessel klang kalt und hohl. »Das ist nur vorübergehend. Bald wird es vorbei sein, und somit ist es unbedeutend. Wenn deine Herrschaft über dieses Land beginnt, endet deine Pein. Und natürlich kannst du dann jede Frau haben, nach der dir der Sinn steht.«
»Ich werde immer nur eine einzige Frau wollen.«
»Verzeih mir, wenn ich dich daran erinnere, diese Worte früher schon einmal von dir gehört zu haben.« Llauron zuckte nicht einmal mit der Wimper, als Ashe das Whiskeyglas ins Feuer warf, sodass die Flammen mit einem Schwall Rauch und Scherben aus ihrer steinernen Begrenzung ausbrachen. »Außerdem gibt es keinen Grund, warum du Rhapsody dann nicht haben solltest wenn du sie noch immer willst. Bis dahin ist sie es sicherlich müde, die Kurtisane des Bolg zu spielen. Wenn du wirklich Wert legst auf eine gebrauchte Hure, wird sie sich die Gelegenheit bestimmt nicht entgehen lassen.«
Ashe wandte sich um. Im Gegenlicht der Flammen sah Llauron den Zorn in den blauen Augen unter der Kapuze lodern, ja, er konnte sich vorstellen, wie sich der Drache in ihnen zum Sprung bereit machte.
»Sag so etwas nie wieder«, sagte Ashe mit tödlich ruhiger Stimme. »Du hast die Grenzen meiner Loyalität bereits weiter überschritten, als dir klar ist. Auf diesem Thema solltest du lieber nicht herumreiten.«
Llauron lächelte in sein Glas. »Du vergisst, dass wir hinsichtlich des Werts von höfischen Flittchen unterschiedlicher Auffassung sind, Gwydion. Einige der besten Frauen in meinem Leben waren Huren. Ich wollte Rhapsody durchaus nicht beleidigen.«
Ashe schwieg eine Weile. »Weißt du, Vater«, sagte er schließlich, »vielleicht bist du bewandert, wenn es um Macht und Strategie und die Beeinflussung des Schicksals geht. Aber du hast keine Ahnung von Vertrauen und vom menschlichen Herzen.«
»Meinst du?«
»Ohne Frage. Du versprichst mir Rhapsody, als hättest du Kontrolle über ihre Gefühle. Wenn alles vorbei ist, wird sie mich wahrscheinlich hassen, und das mit Recht. Es gibt Dinge, die sich nicht manipulieren lassen, und Dinge, die man nicht wieder in Ordnung bringen kann. Man kann nicht erwarten, dass jemand, den man als Schachfigur einsetzt, um die eigenen Ziele zu erreichen, und den man dabei zerstört, noch zu einem steht.«
Llauron wandte den Blick ab. »Warum denn nicht?«, fragte er den Boden. »Bei dir habe ich damit doch auch immer Erfolg gehabt.«
Ashes Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Dabei werde ich nicht mitmachen.«
In der Antwort lag etwa so viel Mitgefühl und Wärme wie in dem sterbenden Feuer im Kamin. »Zu spät, mein Junge, du steckst bereits mitten drin.«
Der beißende Wind, der die Blätter auf Llaurons Tisch rascheln ließ, war das einzige Zeichen, dass Ashe gegangen war.