»Kläre deine Gedanken. Entspanne deine Haut. Konzentriere dich auf den Rhythmus deines Herzens.«
Achmed schloss die Augen im heftigen Wind, der die riesige, hallende Kammer durchwehte. Er stand im Kreis der Lieder und spürte, wie sich der Staub, der in der toten Luft hing, auf seiner bloßen Haut niederließ.
»Atme aus. Stoße dein kirai mit dem Atem aus.«
Achmed gehorchte; er hatte diese Technik vor jeder Jagd in der alten Welt eingesetzt. Genau genommen kannte er sie schon seit seiner Geburt und hatte sie unter Vater Halphasions Anweisung vervollkommnet; sie war ein notwendiger Schritt in dem Prozess, mit dem er die Routinerhythmen eines Körpers ausblendete das klopfende Herz, die Wellen des Atems, der Strom der Luft in den Nasenhöhlen, das unendliche Flüstern nachwachsender Haut, sodass Leere und Schweigen einkehrten, die mit den Lebensrhythmen desjenigen gefüllt werden konnten, den er suchte.
Obwohl er nackt war, spürte sein Körper nicht die Kälte des mächtigen Abgrunds, der sich um ihn und über ihm erstreckte. Sein Hautgewebe, das komplexe Netz aus Venen und Nerven, welches sein Gesicht und seinen Hals überzog, summte entspannt, für einen Augenblick vom Blutfluss befreit.
Langsam schwang das große Pendel der Uhr durch die Dunkelheit. Weit hinter seinen Lidern vernahm Achmed die Bewegung, hörte er das Schwirren der Schnur aus Spinnenseide. In dem Gewicht am Ende des Pendels mit dem diamantenen Käfig brannte die Essenz des in der Schlacht von Marincaer gefangenen F’dor-Geists. Achmed fühlte seine schwelende Wut, spürte, wie sein Zorn wuchs, wenn das Pendel auf ihn zu schwang, und sich wieder zu einem Flüstern dämpfte, sobald es sich entfernte, wie ein Funke eines Lagerfeuers, der in die dunkle Nacht aufsteigt. Er empfand kalte Genugtuung.
»Lass dein Ich sterben.« Die kratzig zischende Stimme der Großmutter knisterte in der leeren Höhle. Achmed gehorchte und fühlte sich plötzlich kalt, keine Schwingungssignatur ging von ihm aus. Er war so grau wie die Felswände der Höhle. Auch das hatte er zuvor schon gemacht.
»Wenn du dich selbst unterworfen hast, dann versuche die Essenz dessen einzufangen, was du suchst. Befiehl ihm innezuhalten.«
Langsam atmete Achmed aus und löste sich wieder von seinem kirai. Sein Hautgewebe summte, wobei es diesmal ein Netz von Schwingungen bildete, die von seinem Körper aufstiegen wie Nebeldunst vom Meer, gebunden an die Stirnhöhlen über seinen Augen. Er atmete wieder, seine Kehle begann zu vibrieren und drückte das unsichtbare pulsierende Netz noch höher in die schwere Luft.
Als das Pendel das nächste Mal Vorüberschwang, konzentrierte er sich blind auf die wilde Hitze im Innern des Diamantgewichts und hielt die rechte Hand empor. Zhvet, dachte er. Halt
Das Netz der Schwingungen dehnte sich aus um die Hitze, zog sich dann plötzlich zusammen und fing die bösartige Essenz in einer unsichtbaren Schlinge ein. Wie ein Fisch am Haken, so schnappte und zappelte der Dämonengeist und brüllte vor Wut, dass man ihn gefangen hatte. Das Pendel erstarrte und hing über dem Abgrund in der Luft. Nun erhob Achmed die linke Hand.
»Rufe in Gedanken alle vier Winde herbei«, wies ihn die Großmutter mit leiser Stimme an.
»Singe die Namen und verankere dann jeden an einem deiner Finger.«
Bien, dachte Achmed. Nordwind, der stärkste der Winde. Er öffnete seine erste Kehle und summte den Namen, dessen Klang durch seine Brust und die erste Kammer seines Herzens hallte. Dann hielt er den Zeigefinger hoch; die empfindliche Haut der Fingerspitze prickelte, als ein Luftzug sich um sie legte.
Jahne, flüsterte er in Gedanken. Südwind, der beharrlichste. Mit seiner zweiten Kehlöffnung rief er den nächsten Wind und stellte seine zweite Herzkammer zur Verfügung. Um seinen größten Finger spürte er die Verankerung einer zweiten Luftschnur. Als beide Schwingungen klar und stark waren, machte er weiter, öffnete die beiden anderen Kehlen und die beiden anderen Herzkammern. Leuk. Der Westwind, der Wind der Gerechtigkeit. Thas. Der Ostwind. Der Wind des Morgens, der Wind des Todes. Wie Fäden aus Spinnenseide hingen die Winde jetzt um seine Fingerspitzen und verharrten.
Zufrieden stellte die Großmutter fest, dass die Windsymbole am Rand des Kreises der Lieder glühten. Vier Töne in einem, dem Mono-Ton. Achmed war bereit. Nun war es Zeit für die wahre Prüfung.
»Jetzt das Binden«, sagte die Großmutter. »Und Schneiden.« Dies war der schwierigste Teil des Rituals für Achmed; da er ein Mischling war, hatte seine Physiologie nicht die anatomische Struktur, die es einem Vollblut-Dhrakier erlaubte, mühelos die Bande des ersten Netzes zu lösen und es den Winden allein zu überlassen, den Käfig aufrechtzuerhalten, den er gebildet hatte. Zusammen mit der Großmutter hatte er viele Stunden daran gearbeitet, eine andere Methode zu finden, mit der er diesen wichtigen letzten Schritt des Bann-Rituals ausführen konnte.
Jetzt konzentrierte er sich auf den rückwärtigen Teil seiner ersten Kehle. Er atmete ein und drückte die Luft über den Gaumen nach oben. Ein harter fünfter Ton schnitt durch den Mono-Ton der anderen: Achmed spürte, wie die Schnüre an seinen Fingern erschlafften. Rasch schnalzte er mit der Zunge, womit er die Enden des Windkäfigs losband und es seinem ersten Netz gestattete, sich aufzulösen. Dann drückte er den Daumen nieder, um den Windfaden über dem zappelnden Geist zu spannen.
Der Kampf war augenblicklich zu Ende, das Diamantgewicht zuckte und erstarrte. Der Damönengeist war gefangen im Zusammenfluss der vier Winde unter dem Befehl eines Dhrakiers, dem Sohn des Windes. Langsam drehte Achmed die Hand und wand den Faden darum wie eine Drachenschnur. Als das Band gesichert war, zog er daran und fühlte, wie der widerstrebende Geist mit jeder Drehung seiner Hand näher kam. Achmed öffnete die Augen.
Eine Armlänge entfernt hing die Schnur aus Spinnenseide in der Luft. Das Gewicht, der walnussgroße Diamant mit dem Dämonengefängnis in seinem Innern, schwebte in Augenhöhe vor ihm. Achmed sah die Großmutter an. Sie nickte.
»Du bist nicht länger einer der Ungeübten«, sagte sie. »Du bist bereit. Jetzt, da du das Bannritual gemeistert hast, müssen wir dich auf die Jagd vorbereiten.«
Ganz still stand Achmed da, während die Großmutter die Decken über das Erdenkind zog und sanft dessen Hand freigab. Schon seit Stunden schien er hier gewacht zu haben, hatte stumm beobachtet, wie die Matriarchin versucht hatte, die Angst des Kindes zu beschwichtigen. Immer wieder hatte es sich von einer Seite auf die andere geworfen, ohne auf die Bemühungen der Großmutter anzusprechen, ohne sich trösten zu lassen.
»Sssschhh, ssschhh, meine Kleine, was beunruhigt dich denn so? Sprich, dass ich dir helfen kann.«
Doch das Kind hatte nur heftig den Kopf geschüttelt und nur ein paar Worte gemurmelt.
›»Grüner Tod‹«, wiederholte die Großmutter. »›Schmutziger Tod.‹ Was meint sie nur damit? Sprich, Kind. Bitte.« Aber die einzige Antwort war das Schluchzen, das ruhelose Umherwerfen. Wütend biss Achmed die Zähne zusammen.
Schlimm genug, dass Rhapsody sich auf Gedeih und Verderb für Llaurons Sohn entschieden hatte seiner Ansicht nach war der Fürbitter immer noch der wahrscheinlichste Wirt des F’dor. Aber noch mehr setzte ihm zu, dass sie seit fast einer Woche nicht mehr im Kessel gewesen war, wenngleich sie durch die Akustik der Laube die Nachricht geschickt hatte, dass alles in Ordnung sei. Jetzt, da Achmed das gequälte, sich windende Kind betrachtete und die Verzweiflung der Großmutter in seiner Haut spürte, konnte er sich nur mit Müh und Not zurückhalten, dass er nicht in ihr verdammtes Herzogtum einmarschierte, Ashe auf der Stelle tötete und Rhapsody an den Haaren in die Kolonie zurückschleifte. Sie sollte hier sein, dachte er bitter. Wenn sie das sehen könnte und trotzdem noch bei ihm bleiben wollte ...
Bittere Galle drang ihm bis in den Mund. Er verscheuchte den Gedanken, denn er wollte ihn nicht bis ans Ende denken, das Ende, das ihn in seinen Träumen verfolgte. Schließlich beruhigte sich das Kind ein wenig. Die Matriarchin der toten Kolonie strich mit einer letzten zarten Liebkosung über die steingraue Stirn und löschte dann das Licht, indem sie den Pilz unter dem Absatz zerdrückte. Mit einem Kopfnicken deutete sie zur Tür der Kammer, und Achmed folgte ihr hinaus auf den Korridor.
»Ihre Furcht wächst«, sagte die Großmutter.
»Hat sie eine Ahnung, warum?«
»Falls sie es ahnt, vermag sie kein Bild davon formen, das ich verstehen könnte. Ihre Gedanken flüstern immer nur eins: ›Grüner Tod, schmutziger Tod‹.«
Achmed atmete hörbar aus. Er hatte keine Geduld für Rätsel, auch das war Rhapsodys Spezialgebiet. Sie sollte hier sein, wiederholten seine Gedanken voller Wut.
»Was kann ich tun?«, fragte er und warf einen Seitenblick auf das rußverschmierte Relief auf der Wand gegenüber. Es war ein geometrisches Muster, das vor der Zerstörung der Kolonie einmal eine Art Landkarte dargestellt hatte, wie viele der Bilder, welche die Wände schmückten.
Die schwarzen ovalen Augen der Großmutter betrachteten ihn ernst.
»Bete«, antwortete sie.
In einem üppigen Tal in den Krevensfeldern wand sich Nolo in der Nachmittagshitze. In den ganzen zehn Sommern seines Lebens konnte er sich an keinen enttäuschenderen Tag erinnern. Die Elritzen waren zu flink gewesen, die Sonne zu grell, ihm war viel zu heiß, und er war so hungrig, dass er nicht länger hier ausharren konnte. Also zog er seine Angelschnur aus dem Wasser und kniff die Augen zusammen, weil ihn das vom Teich reflektierte Sonnenlicht blendete.
»He, Fenn«, rief er, während er die Schnur um seine Hand aufwickelte, aber der kleine Hund war anderweitig beschäftigt. Bestimmt jagte er mal wieder Grashüpfer. Nolo stand auf, schüttelte den Dreck von seiner Angelschnur und steckte sie dann in die Tasche. Der Beutel, der sein Frühstück beherbergt hatte, war schon seit Sonnenaufgang leer; er untersuchte ihn trotzdem, für den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass sich doch eine Brotrinde oder eine Ecke Käse irgendwo versteckt hätte. Aber so gründlich er ihn auch inspizierte, er war genauso leer wie sein Magen.
»Fenn!«, rief er noch einmal und spähte angestrengt über die Wiese jenseits der Bäume des kleinen Tals. Da bewegte sich etwas im Hochgras, und er hörte ein Rascheln. Dummer Köter, dachte er und stopfte den Beutel zu der Angelschnur in die Tasche. Das Gras piekte an seinen bloßen Füßen, als er aus dem Schatten des Tals trat; ihm kam es vor, als zitterte der Boden ein bisschen. Nolo sah sich um. Niemand war zu sehen, aber auf einmal spürte er den kalten Griff der Angst, obwohl er keine Ahnung hatte, warum.
»Fenn, wo bist du?«, brüllte er mit sich überschlagender Stimme. Als Antwort hörte er ein angestrengtes Keuchen ungefähr einen Steinwurf entfernt, und einen Augenblick später durchbrach Fenns hohes Gebell die feuchte Luft. Mit einem Seufzer der Erleichterung trottete Nolo durch das Gestrüpp zu seinem Hund. Als er die kleine Anhöhe erreichte, sah er, was den Hund so fasziniert hatte.
Auf einem Zweig, einer dicken, schwarzen Ranke mit langen spitzen Dornen, die schärfer aussahen als die eines Brombeerbuschs, steckte der Kadaver eines Kaninchens. Neugierig riss Nolo die Augen auf. Da musste der Hund dem Kaninchen aber einen Mordsschrecken eingejagt haben; danach zu schließen, wie ihm der große Dorn aus der Brust ragte, war es mit einem Riesensatz rückwärts gehüpft. Sonst hätte man fast annehmen müssen, es wäre in mörderischer Absicht von hinten erdolcht worden aber so etwas war ja nicht möglich, das wusste Nolo genau. Eine kleine Pfütze frischen Bluts hatte sich um das arme Tierchen gebildet, und ein Tropfen davon zierte Fenns Nase. Auch die Augen des Hundes blitzten aufgeregt.
Kurz überlegte Nolo, ob er das tote Tier von dem Dornbusch befreien und seiner Mama zum Abendessen mitbringen sollte, entschied sich aber dagegen. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Tag, etwas verfälschte die Muße dieser Erholungspause von Hausarbeit und Lernen welch eine Verschwendung der Freiheit eines halben Mittsommertages.
»Komm, Fenn«, rief er. Dicht gefolgt von seinem Hund, rannte er den ganzen Weg zurück in die Ortschaft, zu dem kleinen strohgedeckten Haus, in dessen einzigem Fenster bald die Kerzen angezündet werden würden.
Sobald der Junge außer Sicht war, ging eine leichte Bewegung durch den Dornbusch. Die Blutpfütze wurde kleiner, mit gierigem Eifer aufgesogen von der Haut des Dorns, bis nichts mehr zurückblieb als trockene Erde.