Kapitel Neun

Das Dienstbotenbett knarrte in der nächtlichen Stille des Hauses, als Ingrey sich darauf niedersetzte und die Hände auf die Knie presste. Selbstbetrachtung war eine Gewohnheit, der er sich lange enthalten hatte, aus Furcht vor dem, was sie zutage fördern musste. Heute Abend, endlich, zwang er sich dazu, seine Aufmerksamkeit nach innen zu wenden.

Er wischte seine allgemeine dumpfe Furcht beiseite wie einen vertraut gewordenen Nebel. Schob die klammernden Ranken der Selbsttäuschung fort, die wie ein Schleier seinen Blick nach innen hemmten. Er hatte nicht mehr genug Zeit oder Geduld für sie. Früher hatte er seinen gebundenen Wolf als eine Art Knoten unter der Bauchdecke wahrgenommen, verkapselt, wie ein zusätzliches Organ, aber eines ohne Nutzen. Dieser Knoten, der Wolf, war nicht mehr da. Er war auch nicht in seinem Herzen, und auch nicht in seinem Geist, obwohl der Versuch, den eigenen Geist zu sehen, so anmutete, als wolle man den eigenen Hinterkopf betrachten. Das Tier war entfesselt. Wo also …?

Es ist in meinem Blut, erkannte er. Kein Teil von ihm, sondern in jedem Teil von ihm. Es war nicht mehr nur in ihm, es war er. Es ließ sich nicht mehr so leicht herausreißen, wie man sich eine Hand abschneiden konnte oder sich die Augen ausreißen. Nein, eine derart simple Chirurgie kam nicht mehr in Frage.

War das etwa der Ursprung der eigentümlichen Blutopfer, wie die Sumpfleute sie darbrachten? Eine tiefere Bedeutung, die für sie im Dunkel der Zeit verloren gegangen war? Die Sumpfleute waren die eingeschworenen Feinde der Alten Wealdländer gewesen. Sie hatten ungezählte Jahrhunderte lang den Totemkriegern und den Tierschamanen der Waldstämme in Schlachten und Raubzügen entlang der Grenzen ihres Marschlandes gegenübergestanden — und Gefangene genommen, darunter wohl auch welche, die viel zu gefährlich waren, um sie festzuhalten. Hatte dieses Ausbluten einst einen ernsteren Hintergrund gehabt und rein praktischen Zwecken gedient?

Konnte eine rein körperliche Trennung des Blutes vom Leib auch die Seele läutern?

Wie es schien, würde die Ablehnung seines Schicksals nach so langer Zeit in einem Tümpel aus Blut münden. Eher aus einer morbiden Neugier heraus als aus irgendwelchen anderen Gründen durchwühlte Ingrey seine Satteltaschen und zog die Seilrolle hervor. Er legte sie und das Gürtelmesser neben sich aufs Bett und blickte zu den Deckenbalken auf, die sich im Licht der einsamen Kerze schattenhaft über ihm abzeichneten. Ja, es war möglich, das Selbstopfer. Sich die eigenen Knöchel binden, sich Hochzerren, einen Knoten machen. Kopfüber herabhängen. Die geschärfte Klinge an die eigene Kehle setzen. Er konnte seinen Wolf in einem warmen Purpurstrom aus dem Körper entlassen, seiner Heimsuchung an Ort und Stelle ein Ende setzen. Sich selbst in einem endgültigen Nein davon befreien.

Ich kann diese finstere Macht ablehnen. Indem ich in eine noch größere Dunkelheit eintrete.

Würde seine Seele, von den Göttern abgelehnt, einfach still vergehen und dem Vergessen anheimfallen, das angeblich auf die verlorenen und verdammten Geister wartete? Dieses Schicksal kam ihm nicht allzu schrecklich vor. Oder — wenn er diesen Ritus falsch einschätzte — würde seine verlorene Seele, unterstützt von dieser unbekannten Macht, sich in etwas anderes verwandeln? Etwas Unvorstellbares?

Wusste Wenzel, was es war?

All diese Köder, die der junge Graf ausgeworfen hatte, zeigten deutlich, was Wenzel von Ingrey hielt. Für ihn bin ich Beute. Dann soll er sehen, wie ich ihm davonlaufe! Er konnte Wenzel den Fang verwehren.

Ingrey erhob sich und tastete am Balken entlang. Er zog das Seil durch eine kleine Lücke zwischen dem Holz und der Decke darüber. Dann setzte er sich wieder und musterte das herabhängende Ende des Strickes. Er berührte das graue Flechtwerk. Er fühlte sich seltsam ungerührt und unbeteiligt bei dieser Betrachtung, und doch zitterte ihm die Hand. So viel Blut würde einen ziemlichen Schlamassel auf dem Fußboden hinterlassen, den irgendein entsetzter Dienstbote morgen früh wegwischen müsste. Oder würde es durch die Dielenbretter rinnen und von der Decke darunter tropfen? Würde ein Tropfen im Dunkeln von den Geschehnissen darüber künden? Feuchte Spritzer auf ein Kissen oder ein schlafendes Gesicht? War das ein Donner, ist das Dach undicht? Bis jemand ein Licht entzündete und die helle Flamme das feine Nieseln als roter Regen fetter Tropfen enthüllte. Würde jemand aufschreien?

Lag Lady Ijadas Gemach unter dem seinen? Er maß in Gedanken die Korridore und Räumlichkeiten ab und die Lage der Zimmertür, durch die sich die Zofe zurückgezogen hatte. Vielleicht. Es spielte keine Rolle.

Lange Zeit verharrte er, wie er war; sein Atem ging flach. Er wartete an der Schwelle der Nacht.

Nein.

Sein Blut verzehrte sich nach Ijada, aber nicht auf diese Weise. Er dachte an das kleine Wunder ihres Lächelns. Es war nicht die unaufrichtige Grimasse, mit der Frauen ihn für gewöhnlich bedachten, in einer Mischung aus Furcht und Höflichkeit. Eine bloße Geste, die nie die Augen erreichte — während Ijada allein schon mit den Augen lächeln konnte. Furchtlos. Ohne heimlichen Abscheu. Vielleicht sogar mit einer Spur von Genuss, wie bei einem Anblick, den sie unerklärlich anziehend fand. Und doch war sein Wolf und das, was er tun konnte, für sie nicht weniger gefährlich als für jede andere Frau, die er nie anzufassen oder auch nur anzusehen gewagt hatte. Sie war nicht sicher vor ihm, nein … bei ihr zeigte sich etwas anderes, Unerwartetes: Sie war gleichermaßen gefährlich für ihn!

Dieser Gedanke hatte eine eigenartige Auswirkung auf seine Gefühle. Es ließ sich nicht mit den üblichen poetischen Floskeln beschreiben: Sein Herz überschlug sich nicht und ging ihm auch nicht auf. Und ganz gewiss hüpfte es ihm auch nicht im Leib umher. Es schlug einfach weiter in seiner Brust, wie üblich, vielleicht ein wenig schneller und heftiger. War er sonderbar, weil er dieses eigentümliche Gefühl von Gefahr so genoss? Doch die Dinge, an denen er in der Düsternis seiner Träume Gefallen fand, waren nicht dieselben, von denen andere Männer sprachen, wenn sie derb mit ihren Gelüsten prahlten. Das hatte er schon vor einer ganzen Weile festgestellt.

Er zog die Hand zurück und ballte sie zur Faust.

Wenn ich es also vorziehe, Euch nicht in solcher Röte erwachen zu lassen, Ijada, was dann?

Er war mit seiner Verweigerung so weit gegangen, wie er nur konnte. Wenn er diesem Weg weiter folgte, blieb ihm nur noch der Tod. Ich habe drei Möglichkeiten. In diesen Morast aus Blut zu waten und nie wieder hervorzukommen. Betäubt und reglos zu verharren wie bisher — obwohl man davon ausgehen konnte, dass weder der weitere Verlauf der Dinge noch der schonungslose Wenzel eine solche Tatenlosigkeit viel länger zulassen würden. Oder er könnte sich abwenden und jenen anderen Weg einschlagen.

Und was bedeutet das? Oder hat mein Verstand sich nun vollends in lyrischem Wortgeplänkel verloren? Seine Schlafkammer war so still, dass er das Rauschen des Blutes in den Ohren hören konnte wie das Keuchen eines Tieres.

Konnte er damit aufhören, sich selbst zu verleugnen, und stattdessen andere zurückweisen? Prüfend wog er die Worte auf der Zunge: Nein, ihr täuscht euch, ihr alle, Kirche und Herren und das Volk auf der Straße. Ihr hattet schon immer Unrecht. Ich bin nicht … bin nicht … was? Und ist das alles, was mir einfällt: Nein zu rufen?

Ach, die Macht der Gewohnheit.

Aber wenn ich kehrtmache und dem anderen Weg folge, dann weiß ich nicht, wohin diese Straße führt. Oder wo sie endet.

Oder wem ich unterwegs begegne, und dieser Gedanke verstörte ihn noch mehr als das Messer und der Strick und das verwunschene Blut zusammen.

Obwohl es mich wundern würde, wenn es auf diesem Weg noch dunkler werden könnte.

Er erhob sich, steckte das Messer weg und verstaute das Seil. Entkleidete sich für die Nacht und schlüpfte unter die Bettdecke. Alt und dünn und abgenutzt war sie, aber sauber. Es musste ein wohlhabender Haushalt sein, der für seine Dienstboten einen solchen Luxus bereitstellte.

Ich weiß nicht, wohin ich gehe. Aber ich habe genug von dem, wo ich war.


Nach einer sehr kurzen Begegnung mit Wenzel im Morgengrauen, bei der nur organisatorische Fragen zur Sprache kamen, brach Ingrey mit seiner Gefangenen auf. Hetwars Trupp begleitete sie weiterhin, und die Männer waren froh, einen toten Prinzen mitsamt seinem Dutzend übel gelaunter Gefolgsleute und deren Gepäck los zu sein. Ingrey hatte sogar die letzte Zofe nach Hause geschickt. Ein Kammermädchen mittleren Alters aus dem Gefolge der Rossflutens hatte ihren Platz eingenommen und ritt nun hinter Gesca im Sattel mit. Die kleine Schar stieg aus dem Tal von Ochsauen in den heranbrechenden Tag auf und durchquerte die dicht besiedelten, fruchtbaren Tieflande, die zur Grafschaft Hirschendorn gehörten.

Wie Wenzel am Vortag trieb Ingrey sein Reittier voran und bedeutete Ijada ohne Entschuldigung, mit ihm zu reiten. Er war sich bewusst, dass Gesca argwöhnisch hinter ihnen her blickte. Dennoch ritten sie außer Hörweite des neugierigen Offiziers.

Ijada war an diesem Morgen ungewöhnlich blass und in sich gekehrt. Sie hatte graue Schatten unter den Augen. Auf sein grüßendes Nicken antwortete sie mit einem Lächeln, das kurz und zurückhaltend ausfiel. Erkannte sie endlich, dass sie in eine Falle ritt? Zu spät?

»Wir können nicht länger ziellos umherstolpern, ohne auch nur über einen Plan nachzudenken«, setzte er entschlossen an. »Du hast meinen zurückgewiesen. Hast du einen besseren?«

»Fortlaufen war es nicht, was ich mir unter einem Plan vorstelle.« Sie blickte ihn von der Seite an. »Und seit wann wurde aus dem Ich ein Wir

Er verstummte und presste die Lippen zusammen. Bei allen fünf Göttern: Vom ersten Augenblick an, wo ich dich auf Burg Keilerkopf gesehen habe. »In jenem Raum im Obergeschoss des Gasthauses in Rottwall«, erwiderte er stattdessen.

Sie neigte den Kopf zu einem versöhnlichen Nicken.

»Und abgesehen von deiner rechtlichen Verstrickung teilen wir noch ein gewisses anderes Problem«, fuhr er fort. »Katzenfräulein.«

»Oh, diese beiden Probleme liegen nicht so weit auseinander. Hundeherr.«

Unwillkürlich bogen seine Mundwinkel sich nach oben. Lächelte er wirklich so wenig, dass sein Mund sich dabei so merkwürdig anfühlte? »Immerhin hat Graf von Rossfluten etwas zu deinem Schutz unternommen. Heute Morgen ließ er mich wissen, dass du in der Hauptstadt in einem Haus untergebracht werden sollst, das sich in seinem Besitz befindet, mit Dienstboten aus seinem Haushalt. Das ist besser als ein feuchter Kerker unten am Fluss, und ich glaube, es ist auch ein Zeichen dafür, dass dein Verhängnis noch keine beschlossene Sache ist.«

»Er will mich im Auge behalten«, stellte sie nachdenklich fest.

»Auf Wenzels Bitte hin hat Lord Hetwar mir während deines Aufenthalts dort die Aufsicht über dich übertragen.« Er musste jetzt nicht erwähnen, wie sehr dieser unerwartete Glücksfall ihm den Atem verschlagen hatte. »Dem Schreiben nach zu urteilen, das ein Bote mir überbrachte, ist Hetwar ganz froh darüber, wenn du eine Zeit lang außer Sichtweite bleibst.«

Sie blickte auf. »Wenzel will uns also beide in seiner Nähe behalten. Warum?«

»Ich würde sagen …« Er stockte und sprach dann langsamer weiter: »Ich würde sagen, er ist im Augenblick ein wenig verunsichert. So vieles geschieht auf einmal, mit dieser Beerdigung und seiner unglücklichen Frau und all der Unruhe, die die Krankheit des Geheiligten Königs mit sich bringt, und — die Mutter möge es verhüten, doch es scheint sehr wahrscheinlich zu sein — die bevorstehende Wahl. Biast und sein Gefolge werden bald in Ostheim eintreffen, und der Prinz wird gewiss auch seinen Schwager bei den anstehenden politischen Winkelzügen hinzuziehen. Und unter all dem liegen noch die anderen unheimlichen Geheimnisse Wenzels, die alten und die neuen. Wenn Wenzel einen Teil dieses Mosaiks an Ort und Stelle halten kann, bis er die Zeit findet, sich darum zu kümmern, ist es umso besser. Für ihn jedenfalls. Denn ich für meinen Teil habe nicht vor stillzuhalten.«

»Was hast du dann vor?«

»Wenn mehr als eine einflussreiche Gruppierung in Ostheim deinen Prozess gerne unterdrückt und diesen Skandal stillschweigend aus der Welt geschafft sehen würde, wie ich vermute, könnte man vielleicht sogar damit durchkommen. Eure Verwandten könnten sich auf das alte Stammesrecht berufen und ein Wergeld für Prinz Boleso anbieten.«

Sie atmete tief ein und hob überrascht die Augenbrauen. »Wird die Kirche es dulden, wenn ihre Justizräte von einem solch bedeutenden Fall ausgeschlossen werden?«

»Wenn die höchsten Herren der Häuser Hirschendorn und Dachswall sich einigen, wird dem Geistlichen der Kirche des Vaters keine andere Wahl bleiben. Doch da liegt schon das erste Problem, denn der König ist nicht in der Lage, auf irgendeinen Vorschlag einzugehen. Als ich Ostheim verlassen habe, hatte Hetwar sogar Zweifel, ob der alte Mann von Bolesos Tod noch viel mitbekommen hat. Biast, wenn er erst einmal ankommt, wird nicht ganz im Bilde sein, aber gänzlich abgelenkt. Deutliche Worte vom Hof in Ostheim sind schon seit Wochen kaum noch zu bekommen, und es wird wohl erst noch schlimmer werden, bevor es wieder besser wird. Aber der Kurgraf von Dachswall besitzt allein schon beträchtlichen Einfluss. Wenn er sich um der Ehre seines Hauses willen überzeugen lässt, dich zu unterstützen, und wir Wenzel dazu bringen können, sich bei ihm für dich einzusetzen, könnte der Plan gelingen.«

»Das Wergeld für einen Prinzen wäre eine gewaltige Summe. Weit außerhalb der Mittel meines armen Stiefvaters.«

»Es müsste aus dem Vermögen derer von Dachswall bezahlt werden. Vielleicht mit einem Zuschuss von Wenzel.«

»Kennt Ihr den Grafen von Dachswall? Ich habe nicht den Eindruck, dass er als freigiebig bekannt ist.«

»Äh …« Ingrey zögerte, dann antwortete er freimütig: »Nein, das ist er nicht.« Er blickte zu ihr hinüber, wie sie in der allmählich kräftigeren Morgensonne neben ihm ritt. »Aber wenn das Geld …«

»Die Bestechungssumme?«, murmelte sie.

»… auf anderem Weg aufgebracht werden kann, ließe er sich vermutlich leichter dazu bewegen, seinen Namen zur Verfügung zu stellen. Deine ererbten Güter … wie groß sind sie?«

Ihre Stimme klang mit einem Mal merkwürdig widerstrebend. »Sie erstrecken sich etwa dreißig Meilen von Ost nach West entlang der Rabenberge und zwanzig Meilen nach Norden bis zur Wasserscheide mit den Kantonen.«

Ingrey blinzelte überrascht. »Das ist um einiges größer, als ich bisher nach deinen Worten geschlossen hätte. Ein so ausgedehntes Waldland ist ein gewaltiger Besitz. Es bietet Wild, Holz, Holzkohle, Weidemöglichkeiten für Schweine, womöglich sogar Erz in den Bergen … Du besitzt beinahe selbst schon genug, um das Wergeld für einen Prinzen aufzubringen, würde ich sagen! Wie viele Dörfer und Weiler gibt es dort, wie viele Herdstellen in den Steuerlisten?«

»Keine. Nicht in dieser Gegend. Niemand jagt dort. Niemand betritt den Wald.«

Die plötzliche Anspannung in ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen. »Warum nicht?«

Mit gespielter, doch wenig überzeugender Beiläufigkeit zuckte sie die Achseln. »Das Land ist verflucht. Verwunschene Wälder, wispernd und dunkel. Der Wehe Wald, so nennt man diesen Ort. Jeder, der ihn betritt, wird von Albträumen heimgesucht, so heißt es … von Träumen um Blut und Tod.«

»Das sind doch bloß Geschichten«, meinte Ingrey verächtlich.

»Ich habe den Wald einmal betreten«, erwiderte Ijada unerschütterlich. »Nachdem meine Mutter starb und klar war, dass dieses Gebiet mir zufallen würde. Ich wollte es selbst in Augenschein nehmen, weil ich annahm, ich hätte das Recht dazu. Und die Pflicht. Der Förster wollte mich erst nicht hineinführen, aber ich bestand darauf. Die Knechte meines Stiefvaters und meine Dienstmagd waren entsetzt. Eine ganze Tagesreise weit ritten wir hinein, und dann schlugen wir das Lager auf. Ein Großteil dieses Landes ist wild und zerklüftet, nur Schluchten und Steilhänge, Dornengestrüpp, schroffe Felsen und düstere Senken. In der Mitte liegt ein breites, flaches Tal, von jahrhundertealten Eichen bestanden. Das ist der finsterste Winkel, der angeblich am schlimmsten heimgesucht ist, ein verfluchtes Heiligtum des Alten Weald. Die einheimische Überlieferung weiß zu berichten, dass es das vergessene Blutfeld selbst ist, aber diese zweifelhafte Ehre nehmen auch schon zwei andere Grafschaften entlang der Rabenberge für sich in Anspruch.«

»Schon viele alte Heiligtümer sind im Laufe der Zeit zu Ackerland geworden.«

»Dieses nicht. Wir haben in jener Nacht dort geschlafen, gegen den Willen meiner Begleiter. Und wir haben tatsächlich geträumt. Die Knechte haben geträumt, dass sie von wilden Tieren zerrissen würden, und erwachten schreiend. Meine Magd träumte, in Blut zu ertrinken. Am nächsten Morgen waren alle ganz versessen darauf, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen.«

Ingrey dachte darüber nach, was sie erzählt hatte. Und dann über das, was sie nicht gesagt hatte. »Aber du warst es nicht?«

Diesmal zögerte sie so lange, dass er seine Frage beinahe wiederholt hätte. Aber er beherrschte sich. Seine Geduld wurde schließlich belohnt, als sie leise erwiderte: »Wir haben alle geträumt. Ich brauchte eine Weile, bis mir klar wurde, dass mein Traum anders gewesen war.«

Wieder wartete er ab. Sie blickte ihn unter gesenkten Wimpern hervor an, als wolle sie abschätzen, wie viele unheimliche Geschichten er sich noch anhören würde.

Doch als sie weitersprach, schien sie nur auf Umwegen zum eigentlichen Thema kommen zu wollen: »Hast du je gesehen, wie ein Almosenspender von einer Schar verhungernder Bettler bedrängt wird? Wie sie ihn einem Strudel gleich umschließen, jeder von ihnen schwach, in ihrer Menge jedoch stark, furchteinflößend und wild? Gebt uns, gebt, denn wir verhungern. Doch wie viel man ihnen auch gibt, selbst wenn man alles gibt, was man besitzt — es wäre nicht genug. Sie könnten den Spender in Stücke reißen und an Ort und Stelle verschlingen und wären doch nicht satt.«

Er nickte bloß, unsicher, wohin das führen sollte.

»In meinem Traum traten Männer zwischen den Bäumen hervor und kamen auf mich zu. Blutverschmierte Männer, viele von ihnen ohne Kopf, in den rostigen Rüstungen des Alten Weald. Einige von ihnen trugen Tierstandarten, die Schädel mit vielfarben glänzenden Steinen geschmückt, oder sie trugen Umhänge aus Leder … Hirsch und Bär, Ross und Wolf, Dachs und Otter, Keiler und Luchs und Ochse und ich weiß nicht was für Tiere sonst. Gesichtslos, verschwommen und grausig zugerichtet. Sie umringten mich in einer brodelnden, bettelnden Masse, als wäre ich ihre Königin, oder ihre Lehnsherrin, die gekommen ist, um wer weiß was für Wohltaten zu verteilen.

Ich verstand ihre Sprache nicht, und ihre Gesten verwirrten mich. Ich hatte keine Angst vor ihnen, obwohl sie mit ihren verwesenden Fingern meine Kleidung berührten, bis sie von kaltem, schwarzem Blut durchtränkt war. Sie wollten etwas von mir. Ich wusste nicht was, aber ich wusste, dass es ihnen zustand

»Ein erschreckender Traum«, sagte Ingrey fest und versuchte, so unbeteiligt wie möglich zu klingen.

»Ich hatte keine Angst vor ihnen. Aber sie haben mir das Herz entzweigeteilt.«

»Waren Sie so bemitleidenswert?«

»Nein, ich meine das wirklich. Oder nicht wirklich, sondern im Traum … Ich habe meine Rippen geteilt und in meine Brust gegriffen, mein pochendes Herz hervorgeholt und es dem Wiedergänger angeboten, den ich für ihren Anführer hielt. Er war einer von den Kopflosen. Sein Haupt steckte noch im Helm und hing an seinem breiten, goldbeschlagenen Gürtel, und er führte eine Standarte mit eingerolltem Banner mit sich. Er verbeugte sich tief und legte mein Herz auf einen Steinblock. Dann durchtrennte er es mit der verbliebenen Klinge seines geborstenen Schwertes. Die eine Hälfte gab er mir zurück, mit einer Geste höchster Ehrerbietung. Die andere Hälfte steckte er auf die Standarte, und sie alle fingen an zu schreien. Ich habe nicht verstanden, ob es eine Bitte war oder ein Opfer oder ein Pfand oder was sonst, bis …« Sie hielt inne und schluckte.

»Bis Wenzel gestern Abend diese Worte sprach: Bannerträger«, fuhr sie dann fort. »Ich hatte den Traum schon halb vergessen, unter der Last meiner sehr viel drängenderen Sorgen. Aber diese Worte ließen meine Erinnerung wieder aufleben, so eindringlich, dass es sich anfühlte wie ein Schlag. Ich glaube, du hast gar nicht gemerkt, wie nahe daran ich war, in Ohnmacht zu fallen.«

»Ich … nein.«

Sie nickte erleichtert. »Gut.«

»Und wie verstehst du deinen Traum jetzt, nach gestern Abend?«

»Ich dachte … ich glaube jetzt, dass die toten Krieger mich zu ihrem Bannerträger gemacht haben, in jener Nacht.« Sie führte die Rechte vom Zügel zu ihrer linken Brust und legte sie mit weit ausgebreiteten Fingern in der heiligen Geste darauf. Er glaubte zu erkennen, wie die Finger sich in einem kurzen Zucken verkrampften. »Und ich erinnerte mich plötzlich daran, dass das Herz für den Herbstsohn steht. Das Herz für Mut. Und Treue. Und Liebe.«

Ingrey hatte versucht, ihre Gedanken auf politische Winkelzüge und nutzbringende, vernünftige Pläne zu lenken. Wie war er jetzt schon wieder so tief in einem Morast des Übernatürlichen geraten? »Es war bloß ein Traum. Wie lange ist es her?«

»Ein paar Monate. Die anderen konnten es am nächsten Morgen gar nicht erwarten, das Lager abzubrechen und heimwärts zu galoppieren. Aber ich ritt langsam und schaute immer wieder zurück.«

»Und was hast du gesehen?«

»Nichts.« Sie runzelte die Stirn wie in der Erinnerung an großes Leid. »Nichts als Bäume. Die anderen hatten Angst vor diesem Landstrich, doch ich hatte dort mein Herz verloren. Ich wollte in den Wald zurück, allein, wenn niemand mich begleiten wollte, und noch einmal versuchen, alles zu verstehen. Aber noch bevor ich die Gelegenheit dazu fand, wurde ich zum Haus des Grafen von Rossfluten geschickt.« Ihr Blick, der auf Ingrey ruhte, wurde eindringlicher. »Aber der Wehe Wald kann nicht verkauft werden.«

»Gewiss lässt sich jemand finden, der seinen Ruf nicht kennt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du verstehst nicht.«

»Sind diese Ländereien vielleicht ein unveräußerliches Erblehen?«

»Nein.«

»Bereits verpfändet?«

»Nein! Und das werden sie auch nicht. Wie sollte ich sie je wieder auslösen?« Sie lachte freudlos. »Mir steht jetzt keine einträgliche Heirat mehr in Aussicht, vermutlich überhaupt keine Heirat — und ich habe keine weiteren Einkünfte.«

»Aber es könnte dir das Leben retten, Ijada …«

»Du verstehst nicht! Die fünf Götter mögen mir beistehen, ich verstehe es ja selbst nicht. Aber … sie haben diesen Wald in meine Obhut gegeben, diese Toten. Ich kann mich dieser Verantwortung nicht entziehen, solange meine Männer nicht bezahlt wurden.«

»Bezahlt? Welche Währung können Geister erstreben? Oder Hirngespinste?«, fügte er gereizt hinzu.

Sie verzog verärgert das Gesicht, und mit einer knappen Handbewegung schlug sie seine Zweifel beiseite. »Ich weiß es nicht. Aber irgendetwas wollen sie!«

»Dann muss ich einen anderen Weg finden«, murmelte Ingrey. Oder es später noch einmal zur Sprache bringen.

Nun musterte sie ihn nachdenklich. »Und hast du dir auch überlegt, wie du den Ursprung des Banns ausfindig machen willst?«

»Noch nicht«, räumte er ein. »Auch wenn ich nach Rottwall nicht annehme, dass man mir noch einmal so etwas auferlegen könnte, ohne dass ich es merke. Ohne dass ich ihm widerstehe. Außerdem werde ich wachsam sein.«

»Ich habe mich gefragt … bist du dir wirklich sicher, dass dieser Bann mir galt? Vielleicht sollte er auch dich vernichten, und nicht mich. Wen hast du gekränkt?«

Bei diesem unerfreulichen Gedanken blickte Ingrey düster drein. »Viele Männer. Eben das ist meine Aufgabe. Aber ich habe stets angenommen, dass ein Feind gedungene Halunken nach mir ausschickt.«

»Glaubst du denn, der durchschnittliche Halunke möchte sich mit dir anlegen?«

Bei diesem Gedanken musste er grinsen. »Es mag sein, dass der Auftraggeber dafür noch ein paar Münzen drauflegen muss.«

Auch ihre Mundwinkel zuckten. »Vielleicht ist dein unbekannter Feind ja ein Geizhals, und das Kopfgeld für einen wilden Wolfskrieger war ihm zu hoch.«

Ingrey lachte in sich hinein. »Mein Ruf verspricht mehr, als mein Schwertarm halten kann, fürchte ich. Ein Feind muss einfach nur genug Männer ausschicken. Es reicht auch ein hinterhältiger Schuss aus der Dunkelheit. Das ist leicht zu bewerkstelligen. Einzelne Männer sind nicht schwer zu töten, so gerne wir auch mit dem Gegenteil prahlen.«

»Allerdings«, murmelte sie düster, und Ingrey verfluchte seine leichtfertigen Worte. Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Doch es ist immer noch eine gute Frage. Was wäre mit dir geschehen, wenn dieser Bann bewirkt hätte, was er anscheinend bewirken sollte?«

Ingrey zuckte die Achseln. »Ich wäre in Ungnade gefallen.

Aus Hetwars Diensten entlassen. Vielleicht sogar gehängt. Unser Ertrinken wäre wohl als Unfall betrachtet worden. Und einige Männer wären froh gewesen, hätte ich ihnen weitere Unannehmlichkeiten erspart. Aber ich hätte nicht erwarten dürfen, dass sie ihre Dankbarkeit offen zeigen.«

»Aber dein Einfluss in der Hauptstadt wäre zunichte gemacht worden.«

»Ich war in der Hauptstadt nie einflussreich. Ich bin bloß einer von Hetwars eher zweifelhaften Handlangern.«

»Dann muss Hetwar ja ein mildtätiger Mann sein, wenn er dich unterhält.«

Ingrey öffnete den Mund und schloss ihn wieder. »Hm.«

»Als ich Wenzels Tier zum ersten Mal sah, habe ich mich gleich gefragt, ob der Bann wohl von ihm ausging. Und mehr noch, als er sein Geheimnis enthüllte. Immerhin hat er angedeutet, dass er sich für einen Schamanen hält.«

Du hast das auch so gesehen? Ijada, so rief Ingrey sich ins Gedächtnis, hatte Wenzel nie als kleinen und eher trägen Jungen gekannt. Aber führte das dazu, dass sie ihn überschätzte oder dass Ingrey ihn unterschätzte?

Ijada fuhr fort: »Doch in dem Falle verstehe ich nicht, warum er uns beide heute lebend hat ziehen lassen.«

»Alles andere wäre zu auffällig gewesen«, sagte Ingrey. »Ein gedungener Mörder ist stets auch ein Zeuge, aber für den Bann hätte es keine Zeugen gegeben. Wer immer diesen Zauber gewirkt hat, ob Wenzel oder ein anderer, er legte Wert auf Verstohlenheit. Vermutlich.« In neuerlichem Zweifel runzelte er die Stirn.

»Dieser neue Wenzel flößt mir eine Heidenangst ein.«

»Mir nicht.« Doch Ingreys Mund und sein Geist erstarrten, als er sich plötzlich daran erinnerte, wie er sich vor nicht einmal zwölf Stunden um ein Haar selbst getötet hätte. Wäre dieser Tod unauffällig genug gewesen, um selbst unter Wenzels Dach keine weiteren Fragen nach sich zu ziehen? Doch diesmal war es kein Bann. Ich habe es selbst getan.

Nachdem Wenzel mich in Aufruhr versetzt hat …

»Was blickst du plötzlich so ernst?«, wollte Ijada wissen.

»Es ist nichts.«

Verärgert verzog sie das Gesicht. »Ganz bestimmt.«

Nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander hergeritten waren, sagte sie: »Wenn Wenzel über das Alte Weald wirklich so viel weiß, wie er behauptet, würde ich doch zu gerne erfahren, was er sonst noch über das Blutfeld erzählen kann. Oder über Am Heiligen Baum, wie er es genannt hat. Frag ihn danach, sobald du wieder mit ihm sprichst. Aber erzähle nichts von meinem Traum.«

Ingrey nickte. »Hast du mit ihm jemals über dein Erbe gesprochen?«

»Nie.«

»Mit Prinzessin Fara?«

Ijada zögerte. »Nur im Hinblick auf den materiellen Wert als Mitgift, oder besser gesagt: dessen Nichtvorhandensein.«

Ingrey trommelte mit den Fingern auf seine Ledergamaschen. »Es ist bestimmt nur ein Traum gewesen. Die meisten Seelen wären in der Stunde ihres Todes von den Göttern aufgenommen worden, ob deine Wälder nun das Blutfeld sind oder ein minderes Schlachtfeld aus der Zeit des Alten Weald. Jede verlorene Seele, die sich den Göttern verweigert hat, muss schon seit Jahrhunderten dahingeschwunden sein — so haben die Geistlichen es mir zumindest beigebracht. Vierhundert Jahre sind eine viel zu lange Zeit, als dass Geister in so deutlicher Gestalt überleben könnten.«

»Ich habe gesehen, was ich gesehen habe.« Ihr Tonfall legte nahe, dass sie kein Interesse hatte, groß über das Für und Wider zu diskutieren.

»Vielleicht ist es auch das, was die Hinzufügung von Tiergeistern zu menschlichen Seelen bewirkt«, fuhr Ingrey fort, einem plötzlichen Einfall folgend. »Anstatt zu vergehen, wird ihre Verdammnis zu einer ewigen, eisigen und schweigenden Qual. Gefangen zwischen der Materie und der spirituellen Welt. Die Schrecken des Todes dauern fort, die Freuden des Lebens sind verloren …« In plötzlicher Sorge musste er schlucken.

Ijada blickte abwesend die gewundene Straße entlang. »Ich hoffe nicht. Diese Krieger waren erschöpft, und sie litten, aber ihr Dasein war nicht gänzlich freudlos, denn sie zeigten Freude an meiner Gegenwart. Zumindest gewann ich diesen Eindruck.« Kleine Fältchen zeigten sich in ihren Augenwinkeln, als sie sich ihm wieder zuwandte. »Gerade eben hast du noch gesagt, es wäre nur ein Traum gewesen. Aber jetzt glaubst du daran und hältst es für einen Hinweis auf dein eigenes Verhängnis. Beides zusammen geht nicht, wie gern du auch in düsteren Vorahnungen schwelgen magst.«

Ingrey war so überrascht, dass er schnaubte. »Was hältst du denn davon?«

»Ich glaube …«, erklärte sie langsam, »dass ich es wüsste, wenn ich jetzt zurückkehren könnte.« Kurz schlug sie die Augen nieder, und ihr nächster Blick wirkte prüfend. »Du vielleicht auch, nehme ich an.«

Unvermittelt wurden sie von einer großen Reisegruppe unterbrochen, die ihnen auf der Straße entgegenkam. Es war das Gefolge eines Sippenführers aus Ostheim, der pflichtgemäß zum Leichenzug nach Ochsauen reiste. Ingrey ließ seine Männer beiseite reiten und hielt in der Menge nach bekannten Gesichtern Ausschau, von denen er einige erblickte, worauf er knappe Grüße mit den jeweiligen Leuten tauschte. Es waren die Männer derer von Keilerstritt, also mussten es auch die beiden gräflichen Brüder und ihre Frauen sein, die in dem Wagen, der mit dicken Teppichen verhangen war, über den unebenen Boden holperten.

Unmittelbar darauf musste Ingreys Trupp erneut ausweichen, diesmal einer kirchlichen Prozession, die sich aus Äbten und hochrangigen Geistlichen in prunkvoller Kleidung und auf edlen Reittieren zusammensetzte.

Als sie sich wieder formiert hatten, stellte Ingrey fest, dass Gescas Pferd sich direkt neben dem seinen befand und dass der Offizier ihn mit argwöhnischen Blicken bedachte. Ingrey trieb sein Reittier an und legte ein rascheres Tempo vor.

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