Kapitel Sechzehn

Im zunehmend bleichen Licht des Nachmittags suchte Ingrey sich seinen Weg durch die gewundenen Straßen der Königsstadt. Er ging am alten Flussschiffer-Tempel vorüber, der von den Einwohnern des Hafenviertels besucht wurde, umrundete dann die Stadthalle und den freien Markt auf dem Platz dahinter. Der Markt schloss bereits für den Abend, und nur noch wenige Hausierer saßen unter ihren Markisen oder hatten ihre Waren auf Decken ausgebreitet: trauriges, übrig gebliebenes Gemüse oder Früchte, welke Blumen, Ausschussware aus Leder, durchwühlte Haufen mit neuer oder gebrauchter Kleidung. Ingrey suchte sich seinen Weg hangauf, zu den prachtvollen Anwesen in der Nähe der königlichen Halle, und umging mit Bedacht eine bestimmte Straße, um Hetwars Palast auszuweichen und die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass er jemandem über den Weg lief, den er kannte.

Das Stadtschlösschen des Kurgrafen von Rossfluten in Ostheim war ein Brautgeschenk der Prinzessin Fara. Die Fassade aus geschnittenem Naturstein war mit einem Fries springender Hirsche geschmückt, das für die Hirschendorn-Sippe stand. Nur das Banner über der Tür zeigte den laufenden Hengst über den gekräuselten Wassern der Lure, das Wappen des bedeutsamen alten Geschlechts derer von Rossfluten. Außerdem verkündete dieses Banner, dass der Graf derzeit hier wohnte.

Wohnte, aber im Augenblick nicht zu Hause war, wie Ingrey kurz darauf von den uniformierten Torwachen erfuhr. Der Graf und die Prinzessin mitsamt ihrem Gefolge waren bisher noch nicht von der Beerdigung zurückgekehrt und von den Feierlichkeiten, die in der Halle des Geheiligten Königs darauf folgten. Ingrey ließ den Pförtner in dem Glauben, dass er eine bedeutsame Nachricht des Siegelbewahrers Hetwar beförderte, und ließ sich sogleich in Wenzels Arbeitszimmer geleiten. Dort reichte man ihm ein Glas Wein und ließ ihn allein.

Er stellte den Wein unangetastet beiseite und ging in dem Gemach unruhig auf und ab. Die Nachmittagssonne kroch über die dicken Teppiche. Die Regale waren nur zur Hälfte gefüllt, meistenteils mit irgendwelchen staubigen Wälzern, die anscheinend mit dem Haus zusammen übernommen worden waren. Das schwere, geschnitzte Schreibpult war aufgeräumt, und keinerlei Schriften oder Korrespondenz war darauf zurückgeblieben. Eine vielversprechend aussehende Schublade erwies sich als verschlossen, doch Ingrey erkannte, dass es keine Rolle mehr spielte: Schon kündigten Schritte in der Vorhalle Wenzels Ankunft an, und im nächsten Augenblick bereits schwang die Tür auf. Das anstehende Gespräch würde vermutlich schon schwierig genug werden, auch wenn der Graf ihn nicht gerade dabei erwischte, wie er in seiner Post stöberte. Obwohl Ingrey bezweifelte, dass Wenzel dann überrascht gewesen wäre.

Der Graf trug immer noch die düsteren, höfischen Trauergewänder, in denen Ingrey ihn bei der Bestattungszeremonie gesehen hatte. Er streifte den langen Mantel ab, während er sich durch die Tür schob und sie hinter sich schloss. Dann faltete er das Tuch über seinem Arm und umrundete Ingrey, der wiederum einen Bogen um den Grafen beschrieb. Beide hielten wachsamen Abstand voneinander, als hingen sie an den unterschiedlichen Enden eines Seils.

Schließlich warf der Graf den Mantel über einen Stuhl und lehnte sich gegen die Kante des Schreibpults. Er verharrte reglos und gab keinen Vorteil an Größe oder Haltung preis, während er Ingrey prüfend musterte. Sein einziger Grüß war ein leises: »Gut, gut, gut …«

Ingrey bezog vorsichtig vor einem der nächsten Regale Stellung und verschränkte die Arme. »Was habt Ihr gesehen?«

»Ich hatte meine Wahrnehmung eingeschränkt, wie jedes Mal, wenn ich Gefahr laufe, den mit Sicht begabten Vertretern des Tempels zu begegnen. Aber mehr war auch nicht vonnöten. Ich konnte alles gut genug erschließen. Der Herbstsohn hätte Boleso nicht ungeläutert aufnehmen können, und doch hat Er ihn mit sich genommen. Es waren nur zwei Männer anwesend, die für diese Aufgabe in Frage kamen, und ich war mir gewiss, dass ich nichts in dieser Richtung unternommen habe. Nun denn. Eure Fertigkeiten schreiten geschwind voran, Schamane.« Seine angedeutete Verbeugung mochte spöttisch gemeint sein oder auch nicht. »Hätte Fara davon gewusst, und wäre sie in der Lage gewesen, es zu verstehen, hätte sie Euch gewiss gedankt, Wolfsherr.«

»Anscheinend«, antwortete Ingrey, »bin ich doch nicht auf Euch als einzigen Lehrmeister angewiesen. Pferdeherr.«

»Ach, hübsche neue Freunde habt Ihr da gefunden — bis sie Euch hintergehen. Wenn die Götter Ihr Spiel mit Euch treiben, Vetter, tun Sie es um Ihrer eigenen Ziele willen, nicht um der Euren.«

»Und doch scheint es so, als könnte ich nicht nur Boleso die Erlösung bringen. Ich könnte auch Euch von Eurer verborgenen Last befreien und von Eurer Furcht vor den Scheiterhaufen der Kirche. Wie wäre es, wenn ich Euch von Eurem Pferdegeist zu reinigen versuche?« Das war ein gefahrloses Angebot. Ingrey ging davon aus, dass Wenzel lieber seine Haut hergegeben hätte.

Der Graf kräuselte die Lippen. »Ach weh, da gibt es ein Hindernis: Ich bin leider nicht tot! Seelen, die noch fest der Materie verhaftet sind, geben ihre treuen Tiergefährten nicht preis, so wenig, wie Ihr mir das Leben selbst aus dem Leibe befehlen könntet.« Ingrey war sich nicht ganz sicher, was Wenzel seinem Gesicht entnahm, denn der Graf fügte noch hinzu: »Ihr glaubt mir nicht? So versucht es!«

Ingrey befeuchtete sich die Lippen, schloss halb die Augen und griff in sein Innerstes. Diesmal war er nicht vom Glanz und der Anleitung eines Gottes getragen, doch da er diese Aufgabe nun schon ein zweites Mal anging, konnte er den Mangel womöglich durch Selbstvertrauen wettmachen. Er spürte nach Wenzels Schatten, streckte die Hand aus und knurrte: »Komm!«

Es war, als würde er an einem Berg zerren.

Der Schatten entfaltete sich ein wenig, doch er folgte seiner Stimme nicht. Wenzel blickte verwundert auf und holte Atem. »Stark«, räumte er ein.

»Aber nicht stark genug«, gestand Ingrey seinerseits ihm zu.

»Nein.«

»Dann könnt Ihr mich auch nicht läutern«, führte Ingrey den Gedankengang zu Ende.

»Nicht, solange Ihr lebt.«

Ingrey spürte, wie sein sorgsam verfolgter Weg zwischen zwei einander entgegenstehenden Seiten — Wenzel und dem Tempel — gefährlich schmal wurde. Und wenn er sich nicht entschied, bevor ihm zu wenig Platz zum Drehen blieb, riskierte er, letztendlich beiden Mächten gegenüberzustehen. Es war gewiss besser, einen mächtigen Feind und einen mächtigen Verbündeten zu haben als zwei aufgebrachte Gegner. Aber wen sollte er wählen? Er atmete tief durch. »Ich habe heute Nachmittag überraschend einen alten Bekannten getroffen. Wir haben uns lange unterhalten.«

Wenzel hob fragend die Brauen.

»Cumril. Ihr erinnert Euch an ihn?«

Wenzels Nasenflügel bebten, als er scharf die Luft einsog. »Ah.«

»Zufälligerweise stellte sich heraus, dass er genau der Mann war, nach dem Ihr ebenfalls gesucht habt. Ihr erinnert Euch, wie Ihr darauf bestanden habt, Boleso müsse einen abtrünnigen Zauberer unter seine Kontrolle gebracht haben? Nun, Cumril war der Betreffende. Ich habe ihn auf Burg Keilerkopf nicht gesehen, weil er mich leider zuerst erkannt hat und mir aus dem Weg ging.«

Wenzels Augen funkelten interessiert. »Das mag gar kein so großer Zufall gewesen sein. Abtrünnige Zauberer sind dünn gesät, und die Kirche verwendet viel Mühe darauf, ihre Reihen noch weiter zu lichten. Cumril war zumindest einer, von dem Boleso schon gehört hatte und nach dem er insgeheim forschen konnte.« Er zögerte. »Es muss eine interessante Unterredung gewesen sein. Hat Cumril sie überlebt?«

»Für den Augenblick.«

»Und wo ist er nun?«

»Das kann ich nicht sagen.« Nicht genau.

»Irgendwann in allernächster Zukunft werde ich des Spiels müde sein und Euch nicht mehr alles durchgehen lassen. Ich habe einen langen und unerfreulichen Tag hinter mir.«

»Also gut. Dann komme ich gleich zur Sache. Ich habe eine Frage an Euch, Wenzel: Warum wolltet Ihr mich dazu bringen, Ijada zu töten?« Das war nicht ganz ein Schuss ins Blaue, aber trotzdem hielt Ingrey den Atem an und wartete ab, was er dabei treffen würde.

Wenzel blieb gefährlich still, bis auf ein kurzes Aufflackern in seinen Augen: »Was bringt Euch zu dieser Überzeugung? Cumril? Nicht eben der glaubwürdigste aller Ankläger.«

»Nein.« Ingrey zitierte die eigenen Worte des Grafen: »Es waren nur zwei Männer anwesend, die für diese Aufgabe in Frage kämen, und ich war mir gewiss, dass ich nichts in dieser Richtung unternommen habe. Nun denn.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich muss herausfinden, wie Ihr diesen Bann geknüpft habt. Ich vermute eine Geisterbeschwörung.«

Wenzel schwieg eine ganze Weile, als müsse er unter einer Vielzahl möglicher Antworten auswählen. »Etwas in der Art.« Er seufzte, und der Haltung seiner Schultern nach zu urteilen schien er eine unangenehme Entscheidung zu fällen. »Ich würde es nicht als Fehler bezeichnen, denn wäre es geglückt, hätte es mein jetziges Leben über alle Maßen erleichtert. Ich nenne es einen falschen Zug, wegen der eigentümlichen Konsequenzen, die es nach sich gezogen hat. Ich möchte nur anmerken, dass ich nicht gegen Euch spiele.«

»Gegen wen spielt Ihr dann?« Ingrey stieß sich von der Wand ab und lief in einem Halbkreis vor dem Grafen auf und ab. »Zuerst dachte ich, es ging hier um die politischen Ränkespiele in Ostheim.«

»Allenfalls indirekt.«

Entschlossen ignorierte Ingrey das flaue Gefühl im Magen, das Brausen in den Ohren und die Verwirrung seines Geistes, die ihn schwindeln machte. »Was geht hier wirklich vor, Wenzel?«

»Was glaubt Ihr?«

»Ich glaube, Ihr würdet alles tun, um Eure Geheimnisse zu schützen.«

Wenzel legte den Kopf schräg. »Einst traf das zu«, sagte er und fügte hinzu: »Aber nicht mehr lange, hoffe ich …«

Ingreys Leib fühlte sich an wie eine gespannte Sprungfeder. Seine Hand spielte über den Messergriff. Wenzel entging dies nicht.

»Was, wenn ich Eure Seele auf die alte, harte Weise befreie?«, sagte Ingrey sanft. »Was immer Ihr für Kräfte habt — ich bezweifle, dass sie es überstehen würden, wenn ich Euch den Kopf abschneide und ihn in den Storchenfluss werfe.«

Wenzel regierte auf Ingreys Drohung mit völliger Reglosigkeit. »Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie sehr Ihr eine solche Tat bedauern würdet. Wenn Ihr mich loswerden wollt, wäre das genau der schlechteste Weg. Mein Erbe.«

Ingrey blinzelte verwundert. »Ich bin kein Erbe der Rossfluten-Sippe.«

»Nicht nach Recht und Eigentum. Aber nach den Gesetzen des Alten Weald ist ein Neffe nach einem Sohn der nächste Verwandte. Und wie es scheint, wird dieser untaugliche Leib, in dem ich hier stecke, bei Fara keinen Sohn zeugen. Das macht Euch zum Erben meines Blutes, wenn Ihr noch am Leben sein solltet, sobald ich das nächste Mal sterbe. Damit Ihr es richtig versteht: Das bereitet mir keine Freude, und es ist auch keine Wahl, die ich getroffen hätte. Es ist der Zauber, der Euch einfach an Kindes statt annimmt.«

Das Gespräch hatte mit einem Mal eine so plötzliche und unerwartete Wende genommen, dass es Ingreys Händen entglitten war. Wenzel hatte seinen kühnen Vorstoß mit einem so heftigen Ruck abgewehrt, dass Ingrey nun das Gefühl hatte, kopfüber in der Luft zu hängen — über einer Feuergrube und in beunruhigender Finsternis. Die Hand auf dem Messergriff erschlaffte. »Wenn Ihr das nächste Mal sterbt?«

»Erinnert Ihr Euch, was ich Euch über die Geistertiere der Schamanen erzählt habe? Wie sie geschaffen werden, indem man ein Leben zu dem anderen fügt, einen Tod auf den nächsten? Etwas Ähnliches wurde auch mit menschlichen Seelen versucht. Einmal.«

»O ihr Götter, Wenzel! Ist das wieder eine Eurer Gutenachtgeschichten?«

»Die hier wird Euch den Schlaf rauben, das verspreche ich Euch!« Er holte tief Luft. »Seit sechzehn Generationen wurde meine Seele vom Vater auf den Sohn weitergereicht, in ungebrochener Kette, außer, wenn sie auf einen Bruder überging. Das hat sich als eine schlimme Erbschaft erwiesen. Der Tod dieser irdischen Hülle wird mich nicht aus der materiellen Welt befreien, sondern nur in den nächsten männlichen Körper meiner Erblinie überwechseln lassen. Und das ist im Augenblick der Eure. Mein Blut fließt in Euren Adern — sowohl von Seiten Eurer Mutter wie von Seiten Eures Vaters, auch wenn die ungebärdige Wolfengrund-Sippschaft sicher viel zu Eurer einzigartigen Verdrießlichkeit beiträgt.« Wenzel verzog das Gesicht.

Ingrey versuchte es sich vorzustellen: Kein erhabenes Tier, sondern ein erhabener Mann? Und wenn die angesammelten Geister der Tiere verschmolzen und zu etwas Mächtigerem, Unheimlichem wurden, was mochte dann aus den angehäuften Seelen von Menschen entstehen? »Ihr habt mir schon viele Lügen erzählt, Wenzel. Warum sollte ich diese hier glauben?«

Ingrey war dem Tisch näher gekommen, während er unruhig auf und ab ging, als würde sich eine Leine immer weiter aufwickeln. Nun stand er drohend unmittelbar neben Wenzel. Der beugte sich ihm zu, und in seinen stahlgrauen Augen funkelten die verschiedensten Empfindungen, die für Ingrey jedoch zu fremdartig waren, als dass er sie durchschauen konnte: Zorn und Verachtung, Schmerz und Grausamkeit, Neugier und Feindseligkeit. »Soll ich es Euch zeigen? Das wäre wohl die gerechte Strafe für Eure Unterstellung.«

»O ja, Wenzel«, hauchte Ingrey. »Sagt mir einmal die Wahrheit.«

»Da Ihr so darauf drängt …« Wenzel drehte sich um, bis sie einander Auge in Auge gegenüberstanden, nur wenige Fingerbreit entfernt. Dann legte er die plumpen Hände an beide Seiten von Ingreys Kopf. »Ich bin der letzte Geheiligte Hohe König des Weald. Oder des Alten Weald, wie man es nennt, um es von neueren Zerrbildern zu unterscheiden.«

Ingrey zuckte zurück und wurde abrupt von der Tischkante aufgehalten. »Ihr habt erzählt, der letzte wirkliche Geheiligte König starb auf dem Blutfeld.«

»Das tat er nicht. Oder zweimal, ganz wie man es sieht.« Die Finger des Grafen erreichten Ingreys Schläfen und streichelten sie in kleinen, schweißfeuchten Kreisen, während er fortfuhr: »Ich war ein junger Mann, der Erbe meines altehrwürdigen Geschlechts, und jagte auf den Wiesen entlang der Lure, bevor Audar auch nur geboren war und seine Windeln beschmutzen konnte. Die Darthacanier bedrängten unsere Stämme, die alten Sippen. Sie besetzten unser Land, fällten unsere Bäume, schickten Missionare, um unsere Schreine zu entweihen, und Soldaten, um die Leichen der Missionare nach Hause zu schleppen. Die Männer meines Volkes kämpften und starben. Ich sah meinen Vater fallen und meinen Geheiligten König.«

Bilder entstanden in Ingreys Kopf, während Wenzel erzählte. Sie waren viel zu lebhaft, als dass sie seiner eigenen Vorstellung entsprungen sei konnten. Dies ist allerdings eine Zauberstimme, dass sie mich erinnern lässt, was ich niemals sah. Dunkle Wälder, grüne Täler, Palisadenzäune um Dörfer mit Häusern aus Flechtwerk und Lehm. Scharfer Qualm stieg aus Öffnungen in den strohgedeckten Dächern. Reiter in Rüstungen aus gehärtetem Leder passierten die Tore und ritten in die Schlacht oder kehrten von dort zurück, blutig und erschöpft. Das spärliche Metall an ihrer Ausrüstung klirrte in der frostigen Luft. Ihre Stimmen trieben mit dem Winternebel und formten Worte in einer Sprache, die Ingrey gerade eben nicht verstehen konnte, die ihn aber an Jokols kraftvolle Dichtung erinnerte.

»Die nächste Wahl sprach mir die Königswürde zu, denn ich war inzwischen zum Führer eines erbitterten Volkes geworden, und ich hatte Söhne, die mir nachfolgten. Sie machten mich zu ihrer Fackel, und ich brannte für sie in den immer dichteren Schatten. Unsere Herzen waren voller Glut. Doch die Götter verschmähten unsere Opfer und wandten sich von uns ab.«

Ein gelbbrauner junger Mann, ängstlich und entschlossen, nackt bis auf die Symbole, die auf seinen Leib gemalt waren, stand hoch auf dem Ast einer Eiche im flackernden Schein von Fackeln. Um seinen Hals lag ein Seil, geflochten aus den seidigen Bastfasern der Brennnessel, und das Blut strömte ihm aus einer Reihe sorgsam gesetzter Schnitte. Hoch hob er die ausgestreckten Arme und sprach mit einer volltönenden Stimme, die von einem leichten Zittern beeinträchtigt wurde. Dann ließ er sich nach vorne fallen, wie ein Mann von einem hohen Felsen in einen See springen mochte. Dicht über dem Boden endete der Sturz mit einem Ruck, der ihm das Genick brach … Wenzels weit aufgerissene Augen zeigten Entsetzen. War das einer seiner prinzlichen Söhne, als Bote zu den Göttern geschickt von seinem Geheiligten König …? Das war die Wahrheit, und gleich in Sturzbächen. Ingrey war zumute, als würde er mit dem Kopf voran darin untergetaucht, bis ihm der Schädel platzte. Die Visionen hielten an, in einem mächtigen Strom, beflügelt von den geflüsterten Worten.

»Wir haben den Ort am Heiligen Baum selbst mit eingebunden in unseren Zauber für Unbesiegbarkeit, und ich als der Geheiligte König war die Nabe des Zaubers.«

Singende Stimmen, die wie auf Flügeln in den Nachthimmel stiegen. Die Bäume erbebten, als würde der Atem des Gesangs über sie hinweg streichen. Die tiefen, ineinander fließenden Töne ließen Ingrey jedes Haar am Leibe zu Berge stehen.

»Doch wir konnten nicht länger den Fortbestand der Königswürde dem Geschick der Schlachten überlassen. Denn wenn ich fallen würde, dann würde auch der Zauber zerspringen, und alle, die darin eingewoben waren, wären im selben Moment verloren. Deshalb haben mein ältester Sohn …«

Ein bärtiger, blonder Jüngling, das vertrauensvolle Gesicht vor der Zeit gealtert unter der Last. Ja, es zeigte sich eine gewisse Verwandtschaft zu dem gelbbraunen jungen Mann in der Eiche, sowohl in den Gesichtszügen wie auch in der Bürde, die darin zu lesen war. Ein Bruder oder ein Vetter?

»… und schufen gemeinsam das große Band, in dem Königswürde, Seele, Pferd, der Angelpunkt des Zaubers und alles andere zusammengehalten und ohne Unterbrechung weitergereicht werden sollten, egal wo, wann oder wie unsere körperlichen Hüllen ihr Ende fanden. Bis der Sieg errungen war.« Wenzel hielt kurz inne. »Ihr seht, worauf es hinausläuft?«

Ingrey gab zwischen den halb geöffneten Lippen einen erstickten Laut von sich. Wenzel bewegte sich, stellte sich mehr seitlich zu Ingrey. Sein Atem strich über Ingreys Gesicht, als er weitersprach.

»Audars Truppen ergriffen mich noch in den ersten Stunden der Schlacht. Sie brachen mir die Knochen, wickelten mich in meine königliche Standarte und warfen mich in die erste Grube, die sie ausgehoben hatten. Noch bevor die Kämpfe vorüber waren, fingen sie mit der Schlächterei an. Ich starb mit dem Mund voll Erde und dunklem Blut …«

Der Gestank ließ Ingrey würgen; eine Brühe aus Schmutz und Blut und Urin.

»… und erwachte im Leib meines Kindes, das inzwischen selbst schon im Mannesalter stand. Und bereits ein Gefangener war. Unseren Blicken blieb nichts von dem Grauen erspart, und am Ende hießen wir die Axt auf unserem Hals willkommen wie den Kuss einer Geliebten. Ich dachte, es wäre vorüber. Die Niederlage war wie Asche in meinem Mund …«

Die klammen Splitter eines Baumstumpfs, blutdurchtränkt, bohrten sich in Ingreys durchgestreckte Kehle. Eine müde Stimme ächzte vor Anstrengung, und aus dem Augenwinkel sah Ingrey einen stählernen Bogen herabgleiten, und sein Klagelaut endete mit einem Krachen, als der Rückenwirbel durchtrennt wurde.

»… und dann erwachte ich im Körper meines zweiten Sohnes, Meilen entfernt an der Grenze. Ich war dem Gemetzel vom Blutfeld auf die bitterste Weise entkommen, auf den Schwingen unseres Zaubers. Sein Geist war nicht auf meine Ankunft vorbereitet. Ich musste mit ihm kämpfen, ihm die Sprache entringen, jede Bewegung, sein Augenlicht. Einen kurzen Moment lang waren wir alle wie wahnsinnig, zusammen in seinem Schädel eingeschlossen. Aber dann gewann ich seinen Leib und begann einen Krieg, um das Weald zurück zu erringen.«

Ingrey schluckte und versuchte, die Herrschaft über die eigene Stimme wiederzuerlangen, und sei es auch nur, um sich durch deren Klang zu vergewissern, dass er sich noch in seinem eigenen Kopf befand. »Ich glaube, ich habe schon von diesem Rossfluten-Prinz gehört. Er war ein berühmter Kriegsherr. Zwanzig Jahre kämpfte er entlang der Feuchtmarschen, bis zu seiner Niederlage und seinem Tod.«

»Niederlage, ja. Tod … nun. Der Sohn meines Sohnes war zwanzig Jahre alt, als ich mir seinen Körper zu Eigen machte. Der Ort am Heiligen Baum war zu diesem Zeitpunkt schon ein verlassenes Ödland …«

Ein durchnässter Wald kämpfte sich aus einem schwarzen Morast empor, blattlos in eisigen Nebel gehüllt. Die Bäume waren verdreht, knotig von Zysten, aus denen kalter Saft in gefrorenen Körnern hervorquoll wie Schleim aus entzündeten Augen.

»… Ein jeder Stammeskrieger, der dort in den Zauber miteingebunden war, lebte inzwischen nicht mehr; sie waren in der Schlacht gefallen oder am Alter gestorben, auch die wenigen, die dem Gemetzel entkommen waren. Bis auf einen.«

Wenzels Blicke, die sich in Ingreys Augen bohrten, schienen nun selbst einem Traum entsprungen. Die Visionen kreiselten in den Pupillen, wie von einem Wirbel verschlungen. Visionen, die niemals trogen, hatte Wenzel einst gesagt. Das mochte sein. Aber Ingrey wusste selbst zu gut, wie man mit der Wahrheit lügen konnte. Ich glaube, was ich sehe. Aber was habe ich nicht gesehen?

»Unser Widerstand verlief nicht glücklich. Es gab viele Tode, in rascher Abfolge, unter den verbannten Angehörigen der Rossfluten-Sippe der alten, königlichen Linie. Plötzlich fand ich mich selbst im nutzlosen Körper eines Kindes gefangen, und meine Ungeduld verzehrte ihn. Man betrachtete uns als verrückt. Es brauchte dreißig Jahre und einen weiteren Tod, bis ich wieder die Herrschaft beanspruchen konnte. Doch wollte keine der anderen Sippen mehr für uns kämpfen Ich wandte mich der Politik zu und versuchte, das Weald von innen heraus wiederzugewinnen. Ich sammelte Wohlstand an, und jede Macht, die ich bekommen konnte, und ich lernte, wie man Männer beugen konnte, die sich nicht zerbrechen ließen. Ich suchte nach Bruchstellen in der königlichen Familie von Darthaca, und ich machte mich daran, selbige zu erweitern.«

Die Visionen verloren an Eindringlichkeit, als würde das Nachlassen der Leidenschaft auch die Erinnerungen zu fahlen, blassen Geistern altern lassen. »Dieser Graf von Rossfluten, den man als den ›Königsmacher‹ bezeichnete, nicht wahr?«, fragte Ingrey schwach. »Das wart auch Ihr?«

»Ja, und sein Sohn und der Sohn seines Sohnes. Ich strömte von Körper zu Körper und sammelte eine große Dichte von Leben an. Doch meine Söhne waren keine freiwilligen Opfer mehr. Wie es heißt, sammeln die Götter die Seelen, ohne sie zu zerstören. Das ist der Beweis, dass ich kein Gott auf Erden bin. Sollten die heimgesuchten Geister nicht in Wahnsinn auseinander fallen, durfte nur einer herrschen. Und zu dem Zeitpunkt gab es keine Wahl mehr, wer das sein würde.

Einhundertfünfzig Jahre lang kämpfte ich, plante, blutete und starb und schändete meine Seele durch verhängnisvolle Fehler und das menschenfresserische Zehren meiner Kindeskinder. Und für einen einzigen, ruhmvollen Augenblick meinte ich, es wäre vollbracht, das Weald neu auferstanden. Doch der neuen Königswürde fehlte der Zauber, das Legendenlied des Landes. Da war nichts von der alten Waldmagie. Die Götter hatten es mir verfälscht. Ich wurde nicht aus dem qualvollen Kreislauf befreit. Mein Krieg war vorüber, aber nicht gewonnen.

Und so begann die Linie der absonderlichen Grafen von Rossfluten, die vor allem für ihre Zurückgezogenheit bekannt wurden …«

»Könnt Ihr Euch nicht aus dem Zauber befreien?«, hauchte Ingrey. »Irgendwie?«

Wenzels Stimme und sein Gesicht verzerrten sich gleichermaßen: »Glaubt Ihr vielleicht, ich hätte es nicht versucht

Ingrey zuckte erschrocken zusammen. »Ich glaube, Ihr braucht ein Wunder.«

»Oh, die Götter jagen mich nun schon seit langer Zeit.« Wenzels Grinsen wurde ruchlos. »Sie setzen mir inzwischen hart zu. Sie wollen mich. Aber ich will sie nicht, Ingrey.«

Ingrey musste sich zwingen, seine Stimme zu hörbarer Lautstärke zu erheben. »Was wollt Ihr dann …?«

Wenzels Gesicht nahm einen entrückten Ausdruck an. »Ja, was will ich? Ich wollte viele Dinge im Laufe der Jahrhunderte. Doch inzwischen sind meine Wünsche schlicht geworden. Ich möchte meine erste Frau zurück, und meine Söhne im Frühling ihres Lebens …«

Wieder erstrahlte die Vision in einem atemberaubendem Licht, erfüllt von Farben. Ein Mann, eine lachende Frau und eine Schar Jünglinge zügelten ihre Pferde an den schilfbestandenen Ufern der Lure und verfolgte voll Ehrfurcht, wie eine Familie von Graureihern in den strahlenden Sonnenaufgang emporstieg.

Und für einen Augenblick riefen Rossflutens Augen: Verflucht sollst du sein, dass du diese Erinnerung in mir heraufbeschworen hast! Die Stunde seines ersten Todes, als er in Blut und Verzweiflung ertrunken war, war weniger schmerzhaft gewesen. Sein zitternder Griff um Ingreys Gesicht spannte sich, und die Finger drückten kräftig genug, um Male zu hinterlassen. »Ich will meine Welt zurück.«

Ah. Dieses Bild hat er nicht mit Absicht freigegeben. Es ist ihm entschlüpft. Ingrey befeuchtete sich die Lippen. »Aber das könnt Ihr nicht haben. Niemand kann das.«

Das kurze Aufflackern verblasste zu kühler Dunkelheit, zu einer vollkommenen Finsternis, und Ingrey erkannte, dass es keine weiteren Visionen mehr geben würde.

»Ich weiß. Nicht alle Götter zusammen, mit keinem Wunder, das sie sich ersinnen können, könnten sie mir verschaffen, was mein Herz begehrt.«

»Fürchtet Ihr, die Götter könnten Euch zerstören?«

Wieder zeigte er dieses beunruhigende Lächeln. »Das wäre keine Furcht. Das wäre mein Gebet.«

»Dann … dann fürchtet Ihr ihre Strafe? Dass sie Eure Seele in endlose Qual stürzen könnten?«

Wenzel beugte sich vor und stellte sich auf die Zehenspitzen. »Das«, hauchte er Ingrey ins Ohr, »müssen sie gar nicht mehr.« Zu Ingreys grenzenloser Erleichterung löste er endlich seinen Griff und trat wieder zurück. Er legte den Kopf schief, als würde er Ingreys Gesicht eindringlich mustern. »Aber Ihr werdet mehr darüber erfahren, wenn Ihr Pech habt.«

Ingrey wäre überzeugt gewesen, einem irre daherredenden Wahnsinnigen gegenüberzustehen, hätte Wenzel ihm nicht diese sengenden Bilder in seinen Verstand gesandt. Welche Wahrheit er Wenzel auch hatte abringen wollen, diese hier war es nicht gewesen! Er war erschüttert, was Wenzel ihm ohne Zweifel ansehen konnte.

Ingrey suchte nach den Lücken in der Geschichte. Es gab viele — manche alt, manche aus jüngerer Zeit —, und Ijadas Armee der Geister im Wehen Wald schien die größte zu sein. Wie konnte Wenzel das Blutfeld beklagen, ohne seine verlassenen und verfluchten Kameraden zu erwähnen? Dass Wenzel den mörderischen Bann gegen Ijada gewirkt hatte, hatte er zugegeben, als es nicht mehr zu vermeiden gewesen war. Aber der Antwort, warum er es getan hatte, wich er immer noch aus. Gab es zwischen diesen beiden Lücken einen Zusammenhang?

Ein Klopfen erklang an der Zimmertür, und beide Männer zuckten zusammen. »Was?«, rief der Graf, und sein scharfer Tonfall ermunterte nicht zum Eintreten.

»Herr.« Es war die pflichtbewusste Stimme irgendeines höher gestellten Domestiken. »Die Herrin ist bereit zum Aufbruch und bittet um Eure Begleitung.«

Verärgert kniff Wenzel die Lippen zusammen, rief aber zurück: »Lass sie wissen, ich komme gleich.« Schritte entfernten sich, und Wenzel seufzte und wandte sich noch einmal Ingrey zu. »Wir werden ihrem Vater aufwarten. Das wird wieder ein unerfreulicher Abend. Wir beide müssen diese Unterhaltung zu einem späteren Zeitpunkt fortführen.«

»Ich würde ebenfalls gern weitermachen«, entgegnete Ingrey.

Wenzel musterte ihn wachsam. »Ihr solltet wissen, der Fluch in unserer Familie verläuft nicht symmetrisch. Während mein Tod Euer Verhängnis wäre, träfe das im umgekehrten Fall nicht zu.«

»Und warum erschlagt Ihr mich dann nicht an Ort und Stelle?« So kämpferisch er sich auch gab, Ingrey zweifelte nicht daran, dass Wenzel dazu in der Lage wäre.

»Das würde Schwierigkeiten aufwerfen, deren Tragweite ich immer noch abzuschätzen versuche. Was den Zauber betrifft, würde dieser einen anderen an Eure Stelle setzen — womöglich eine Person, die mir noch ungelegener käme. Vermutlich Euren Vetter in Birkenhain. Es sei denn, Ihr habt noch einen darthacischen Ableger, von dem ich nichts weiß.«

»Ich … nicht dass ich wüsste. Wollt Ihr etwa sagen, Ihr wisst nicht, wer nach mir Euer nächster Erbe ist?«

»Das ändert sich im Laufe der Zeit, auf eine Weise, die ich nicht gänzlich beeinflussen kann. Ihr hättet in Darthaca sterben können. Fara hätte einen Sohn empfangen können.« Wenzel kräuselte die Lippen. »Andere mögen geboren werden oder sterben. Ich habe schon vor langer Zeit gelernt, mir nicht über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die sich im Laufe der Zeit von selbst erledigen können.« Er lief einmal im Zimmer auf und ab, als müsse er ein wenig von seiner Anspannung loswerden. Ingrey wünschte sich, er würde dasselbe wagen.

Am Ende seiner Runde wandte Wenzel sich noch einmal um: »Wie es scheint, haben wir einander am Hals, ob wir es wollen oder nicht. Zumindest für eine Weile. Wie wäre es, wenn Ihr dann gleich in meine Dienste tretet?«

Ingrey taumelte zurück. Er hatte tausend Fragen, auf die Wenzel — und womöglich Wenzel allein! — die Antwort kannte.

Wenn er in der Nähe des Grafen blieb, musste er zwangsläufig mehr erfahren. Und wenn ich das Angebot ablehne? Wie lange habe ich dann noch zu leben? Er versuchte, Zeit zu gewinnen. »Ich stehe tief in Lord Hetwars Schuld. Ich würde seinen Dienst nicht leichtfertig verlassen, noch würde er mich leichtfertig freigeben.«

Wenzel zuckte die Achseln. »Und wenn ich ihn darum bäte? Er würde auch nicht leichtfertig Faras Ehemann einen solchen Gefallen abschlagen.«

Nein, aber ich könnte Hetwar anflehen, einer Entscheidung auszuweichen oder sie zumindest zu verzögern. »Wenn Hetwar sein Einverständnis gibt, dann ja.«

»Ein schönes Beispiel für die Treue. Das kann ich nicht tadeln, wo ich doch bald Ähnliches von Euch zu erwarten habe.«

»Ich gebe zu, Euer Angebot übt einen absonderlichen Reiz auf mich aus.«

Wenzels Lächeln ließ erkennen, dass er die Mehrdeutigkeit dieser Aussage sehr wohl verstand. »Daran habe ich nicht den leisesten Zweifel.« Mit einem Seufzer trat er auf die Tür zu und gab damit zu verstehen, dass dieses Gespräch zu Ende war. Ingrey folgte ihm gehorsam.

»Eines allerdings müsst Ihr mir heute Abend noch verraten«, meinte Ingrey, als sie hinausgingen.

Der Graf von Rossfluten hob fragend die Brauen.

»Was ist mit Wenzel geschehen? Dem Jungen, den ich kannte?«

Rossfluten berührte sich an der Stirn. »Seine Erinnerungen sind alle noch da, verloren in einem Meer von Erinnerungen.«

»Aber Wenzel ist nicht mehr da? Er ist ausgelöscht?«

Der Graf zuckte die Achseln. »Wo ist der vierzehnjährige Ingrey, wenn nicht dort?« Er wies auf Ingreys Kopf. »Und in ähnlicher Verwirrung? Sie beide sind Opfer eines gemeinsamen Feindes. Wenn es etwas gibt, das ich inzwischen noch mehr hasse als die Götter, dann ist es die Zeit.« Er bedeutete Ingrey voranzugehen. »Lebet wohl. Ihr könnt mich morgen aufsuchen, wenn es Euch beliebt.«

Irgendwo in Wenzels Schlussfolgerung glaubte Ingrey einen entsetzlichen Fehler zu spüren, doch in seiner Benommenheit konnte er nicht den Finger darauf legen. Augenblicke später stand er wieder auf der Straße und blinzelte in die untergehende Sonne. Irgendwie überraschte es ihn, dass Ostheim immer noch stand. Ihm kam es vor, als hätte die Stadt in Trümmer fallen müssen während der kleinen Ewigkeit, die er in Wenzels Haus verbracht hatte.

So wie ich?

Lücken. Auslassungen. Unausgesprochene Einzelheiten. Ein Mann wie Wenzel, so übersättigt von einem Übermaß an Zeit — weshalb war er so beunruhigt? Was hatte ihn aus seiner Abgeschiedenheit gelockt und trieb ihn zu so ungewohnter Tat? Denn Ingrey hatte das Gefühl, dass Wenzel sich bedrängt fühlte und insgeheim wütend darüber war.

Er schüttelte den schmerzenden Kopf und wandte sich in Richtung von Hetwars Palast.

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