Kapitel Vierundzwanzig

Rossfluten trat einen Schritt zurück. Die Hälfte seiner Gesichter war wutverzerrt, andere zeigten spöttischen Verzicht, Abscheu und Ekel vor sich selbst, und auf einer einzelnen, traurigen Miene war eine zeitlose und würdevolle Standhaftigkeit zu lesen. Er ließ die Arme an den Seiten herabhängen, und der Strom zwischen ihm und Ingrey verebbte wie Funken, die im Dunkeln erloschen. Unaussprechliche Qual stand in seinen Augen, die auf Ingrey gerichtet waren, und das meiste davon schmolz zu bitterem Mitleid.

Ingrey musste sich an Ijadas Bannerschaft klammern, um nicht zu Boden zu gehen. Die ungeheure, brausende Last von Rossflutens Königtum war genau genommen nicht verschwunden, doch sie schien sich zu zerstreuen, als stürze sie von allen Seiten zugleich auf ihn ein und nicht nur aus einer Richtung. Und dann kam ein Augenblick der Stille, ein leichtes Zögern, und der auf ihn einbrandende Strom des Königtums schien sich umzukehren und nach außen zu drängen. Und damit einher ging eine unklare Furcht wie keine andere, die er in diesen langen Stunden voll grimmen Schreckens erlebt hatte.

»Du wirst merken«, hauchte Rossfluten, »dass die geheiligte Königswürde von innen anders aussieht. Und so wird sich meine Rache verdoppeln. Und das Vergessen … ist immer noch mein.« Seine Stimme verklang mit einem Seufzer.

Obgleich Rossfluten sich nicht von seinem Grabhügel entfernte, schien er dem Blick zu entgleiten, wie ein stiller Leichnam, den man unter Wasser sieht. Der Last seiner beiden Mächte ledig — des erhabenen Pferdes und des geheiligten Königtums —, schrumpfte er zu einem Geist unter vielen, erkennbar nur noch an seiner grässlichen Vielheit, einer besonderen Dichte, die ihn noch immer umhüllte. Ja, dachte Ingrey, auch er ist ein Geist des Blutfeldes, der auf diesem heilig-verfluchten Boden starb. Er ist nicht mehr, doch er kann auch nicht weniger werden als das.

Aber was ist aus mir geworden?

Er konnte spüren, wie das mystische Königtum sich in ihm festsetzte, auf ihm und durch ihn. Es fühlte sich nicht an, als wäre er mit Stolz und Macht getränkt, bis zum Platzen voll und im Überfluss. Er fühlte sich, als würde ihm alles Blut aus den Adern gesaugt.

Ijada und Fara starrten ihn beide mit offenem Mund und einem körperlichen Verlangen an, wie schon Rossfluten es hervorgerufen hatte. Solche Blicke konnten einem Mann schon Flausen in den Kopf setzen. Doch Ingrey fühlte sich, als wollten sie ihn lebendig verspeisen.

Aber nicht Ijada und Fara — nun ja, sie auch — beunruhigten ihn, sondern die Geister. Wie unter einem Bann gehalten, rotteten sie sich um ihn zusammen, griffen nach ihm, strichen mit kühlen, feucht wirkenden Berührungen über seinen Leib und schienen ihm jegliche Wärme aus der Haut zu ziehen. Sie wurden zunehmend ungebärdig in ihrer Not, drängten einander aus dem Weg und kletterten sogar aufeinander, näher und näher an ihn heran. Verhungernde Bettler.

In der Welt der Materie kann nichts Spirituelles existieren, ohne dass es von lebender Materie genährt wird. Der alte Lehrsatz schoss ihm durch den Kopf. Viertausend noch immer verfluchte Seelen wimmelten über den Boden des Blutfeldes, wurden aber nicht mehr davon genährt. Stattdessen waren sie alle nun verbunden mit …

Ihm.

»Ijada …« Ingreys Stimme war nur noch ein Wimmern. »Ich kann sie nicht alle bewahren. Ich kann dem nicht standhalten.«

Ihm wurde kälter und kälter, während die Geister ihn betasteten. Wie ein Ertrinkender griff er nach Ijadas ausgestreckter Hand, und für einen Augenblick durchströmte ihn Lebenswärme — ihre Wärme! Doch sie schnappte nach Luft, als sie ebenfalls den unersättlichen Hunger der Geister an sich zerren fühlte. Sie werden uns beide in Stücke reißen und leer saugen. Und wenn keine Wärme zum Verteilen mehr blieb, würden seine und Ijadas gefrorene Leichen auf dem Boden zurückbleiben, und Dunst würde von ihnen aufsteigen. Und all jene, die hier gefangen waren, blieben dem Vergessen überlassen, in einem letzten, verhungernden Schrei voller Verlassenheit, Treuebruch und Verzweiflung.

»Ijada …! Lass los!« Er versuchte, ihr seine Hand zu entziehen.

»Nein!« Sie packte fester zu.

»Du musst loslassen. Nimm Fara und lauf, fort von hier, zurück durch die Sümpfe, schnell! Die Geister werden uns beide verzehren, wenn du es nicht tust!«

»Nein, Ingrey! So soll es nicht sein! Du musst sie läutern, so wie du Boleso geläutert hast, damit sie zu den Göttern gelangen können! Du kannst das, denn dafür wurdest du geschaffen, das schwöre ich dir!«

»Ich kann nicht! Es sind zu viele, ich kann dem nicht standhalten, und hier sind auch keine Götter

»Sie warten vor dem Tor!«

»Was?«

»Sie warten vor dem Durchgang in den Dornen, bis der Herr des Reiches ihnen Einlass gewährt. Audar hat diese Erde verflucht und versiegelt, und Rossfluten hat den Boden in seiner Wut und finsteren Verzweiflung gegen die Götter gehalten. Aber die alten Könige sind fort, und der neue König hat seine Huldigung empfangen.«

»Ich bin bloß ein König der Geister und Schatten, ein König der Toten.« Der sich schon bald zu seinen Untertanen gesellen wird.

»Öffne dein Reich den Fünfen. Fünf Sterbliche werden Sie hineintragen, aber du musst ihnen Einlass gewähren — lade Sie ein!« Sie zitterte nun ebenso stark wie er und betrachtete die heranbrandenden Geisterscharen. Ihre Stimme schraubte sich zitternd in die Höhe: »Ingreyyy, mach schnell!«

Halb wahnsinnig vor Furcht griff er mit seinen Sinnen aus. Ja, er fühlte die Grenzen seines verdorrten Reiches rings um sich in der Dunkelheit, ein unregelmäßiger Kreis, der einen Großteil des Talbodens umschloss und durchdrungen war von dem uralten Leid dieses Ortes. Es reichte bis hinter die Sümpfe, bis ganz zu dem Wall aus Brombeerhecken. Erst jetzt wurde Ingrey klar, dass seine erste Tat als letzter noch lebender Schamane des Alten Weald ohne sein Wissen vonstatten gegangen war, als er mit dem Schwert seinen Weg — unser aller Weg — durch die Mauer aus Dornenzweigen gebahnt hatte und damit die Grenzlinien des Blutfeldes durchbrach.

Jenseits der Schneise, die er geschlagen hatte, wartete eine vielfältige Präsenz, so ungeduldig wie die Teilnehmer eines königlichen Banketts. Wie sollte man Sie einlassen? Es verlangte nach Hymnen und Hosiannas, nach Chorgesang und Anrufungen voll Aufwand und Schönheit, nach Dichtern und Musikern, nach Gelehrten und Soldaten und Geistlichen. Stattdessen müssen sie sich mit mir zufrieden geben. So sei es.

»Tretet ein«, flüsterte Ingrey mit brechender Stimme, und dann: »Tretet ein!«

Der Widerhall schien die Nacht zu zerreißen, und ein erwartungsvoller Schauder durchlief die Viertausend wie eine gewaltige Welle, die gegen eine brüchige Küste kracht. Ingrey wappnete sich auszuharren, denn er fühlte seine Kraft wie in einem Wasserfall von sich strömen. Doch das geisterhafte Gedränge legte sich. Die Seelen hungerten nicht weniger, doch eine überraschte, neue Hoffnung legte sich über die Verzweiflung wie eine wärmende Decke.


Eine Ewigkeit schien zu verstreichen, bis ein menschlicher Laut die dunklen Wälder durchdrang und ein schwaches, orangenes Licht sich näherte. Ein Knistern und Krachen von Gesträuch; ein dumpfer Aufprall und ein gemurmelter Fluch; ein erregtes Streitgespräch, abgeschnitten vom forschen Ruf der Gelehrten Hallana: »Da hinten! Nach links, Oswin!«

Auf die Lichtung stolperte eine Schar, wie Ingrey sie sich in seinen wildesten Träumen nicht ausgemalt hätte. Der Gelehrte Oswin saß auf einem strauchelnden Pferd, hinter sich im Sattel seine Frau, die sich mit einem Arm an ihm festklammerte und mit dem anderen die Richtung wies. Prinz Biast, erschüttert beim Anblick der wogenden Geistermenge, ritt hinter ihnen auf einem weiteren, sichtlich mitgenommenem Pferd. Der Gelehrte Lewko kam zu Fuß am Ende der Gruppe, gemeinsam mit Fürst Jokol, der eine Fackel hochreckte. Lewkos einstmals weiße Robe war an einer Seite bis zum Oberschenkel schlammbesudelt, und alle waren sie schweißdurchtränkt, zerzaust und mit Straßenschmutz besudelt.

»Hallana!« Als wäre alles nun in Ordnung, winkte Ijada dankbar. »Kommt hierher, rasch!«

»Du hast sie erwartet?«, wollte Ingrey von ihr wissen.

»Wir sind die letzten zwei Tage Hals über Kopf zusammen gereist. Bei den Fünfen, was für eine Reise! Der Fürstmarschall hat uns alle angeführt. Ich bin schließlich vorausgaloppiert — mein Herz hat mir Eile geboten, und ich war rasend vor Angst.«

Der Gelehrte Lewko hinkte zu Ingrey hinüber und grüßte ihn mit einem raschen fünffachen Segen. Jokol kam hinterdrein, mit atemlosem, irrem Grinsen, wie er es vermutlich auch im wildesten Sturm auf hoher See zeigte, wenn sein Schiff über gewaltige Wellenberge klomm und alle geistig gesunden Männer sich an verfügbare Seile klammerten und schrien.

»Ho! Ingorry!«, rief er glücklich und salutierte geisterhaften Kriegern rechts und links, als wären sie lange verschollene Vettern. »Diese Nacht ist ein Lied wert!«

»Seid ihr nun die menschlichen Gefäße für die Götter?«, fragte Ingrey Lewko. »Seid ihr nun alle Heilige?«

»Ich war einmal ein Heiliger«, schnaufte Lewko, »und es fühlt sich anders an. Wenn ich raten müsste …« Sein funkelnder Blick über die dicht mit Spukgestalten bestandene Lichtung wurde schmaler und kam schließlich auf Ingrey zu ruhen.

Oswin und Hallana ließen ihr ausgepumptes Reittier zurück und näherten sich, aufeinander gestützt, über den unebenen Boden. Sie starrten die geisterhaften Krieger voller Verwunderung und Bestürzung an, und — so hätte Ingrey schwören mögen! — mit einer flammend gelehrigen Neugier, die auf ihre Weise nicht so weit von Jokols beängstigender Begeisterung entfernt war.

»Wenn ich raten müsste, Oswin«, fuhr Lewko zu seinem Kollegen gewandt fort, und Ingrey fühlte, dass es der Schlusspunkt einer hitzigen Debatte war, »würde ich sagen, dass wir alle zu heiligen Begräbnistieren geweiht wurden.«

Zuerst blickte Oswin ein wenig gekränkt, dann nachdenklich. Hallana kicherte seltsam fröhlich.

»Ingrey muss meine Geister läutern«, sagte Ijada mit fester Stimme. »Ich habe euch gesagt, dass es so sein würde.«

Eine zwei Tage währende Diskussion, vermutete Ingrey, aber in einer Gesellschaft, die — so seltsam sie auch zusammengesetzt sein mochte — beängstigend gut darauf vorbereitet war. Die Götter haben keine Hände in dieser Welt außer den unseren. Hand zu Hand zu Hand …

Biast erspähte seine Schwester, die zusammengesunken auf dem langen Grabhügel saß, nicht weit entfernt von Wenzels Leiche. Er eilte zu ihr, sank auf die Knie und umarmte sie. Sie steckten die Köpfe zusammen und sprachen miteinander, schnell und leise. Er drückte sie an sich, als sie zu zittern begann, doch sie weinte noch nicht.

»Ijada«, murmelte Ingrey, »wir dürfen nicht noch länger warten, wenn das klappen soll.« Er blickte zu den Geistergestalten, die sich nun ruhig verhielten und ihn in sehnsuchtsvoller Stille anstarrten. Als wäre ich ihre letzte Hoffnung auf den Himmel. »Wie soll ich … Was soll ich …« Was soll ich tun?

Ijada packte die Wolfsstandarte fest mit beiden Händen und richtete sich auf. »Du bist der Schamanen-König. Tu, was dir richtig erscheint, und es wird gut sein.« Neben ihr machte der goldgegürtete Marschall eine zustimmende Geste.

Viertausend, das sind so viele! Es kommt weniger darauf an, wo ich anfange, als dass ich anfange.

Langsam drehte Ingrey sich herum und erblickte den Krieger mit dem Wolfsumhang, den er bereits zuvor gesehen hatte.

Er winkte den Geist heran und schaute ihm in das fahle Antlitz. Die Geistergestalt lächelte und nickte freundlich, wie um ihn zu beruhigen, kniete dann vor Ingrey nieder, ergriff seine linke Hand und neigte das Haupt. Gebannt streckte Ingrey den rechten Zeigefinger hinab. Ein dünnes Rinnsal Blut strömte vom durchtränkten Verband, der seine wieder aufgerissene Wunde bedeckte, und hinterließ einen Tropfen Blut auf der Stirn des Kriegers. Es verwirrte Ingrey, dass der Geist sich nun fest anfühlte und nicht mehr flüssig wie zuvor, und er fragte sich, was das über seinen eigenen, veränderten Zustand aussagte.

»Komm«, flüsterte Ingrey, und der Seelenwolf, so alt und zermürbt, dass er kaum mehr war als ein dunkler Schleier, glitt durch seine Finger davon. Der Krieger stand auf und hob das Gesicht zu den Geistlichen, die alles beobachteten. Dann streckte er die Hand in Richtung des Gelehrten Oswin aus — in einer Geste, die zur Hälfte Gruß, zur Hälfte Bitte war. Oswin tauschte einen bangen Blick mit Hallana, die ihm energisch zunickte. Darauf hielt er dem Geist die Hand entgegen. Der Wolfskrieger schlug ein, lächelte beseligt und schmolz dahin.

»Oh«, sagte Oswin, dessen Stimme schwankte, während Tränen in seinen Augen glitzerten. »Oh, Hallana, ich wusste nicht …«

»Pssst«, meinte sie. »Jetzt wird alles gut, glaube ich.« Sie leckte sich die Lippen und betrachtete Ingrey, als wäre er eine Kreuzung zwischen einem berühmten Kirchenkunstwerk, zu dem sie Tage angereist war, und ihrem Lieblingskind.

Ingrey blickte sich wieder um und winkte einen anderen Krieger zu sich. Der Mann kniete nieder und hielt ungeschickt, aber voller Hoffnung seinen Kopf zwischen den Händen empor. Ingrey wiederholte die hellrote Salbung der Stirn, was immer dieses letzte Trankopfer aus der Welt der Materie auch wert sein mochte. Dann befreite er einen dunklen Falkengeist, der in die Nacht schwebte und verging. Auch dieser Krieger wandte sich zu Oswin, und kurz bevor der Mann sich auflöste, bemerkte Ingrey diesmal, dass der Körper wieder ganz wurde. Der Vater schenke dir eine schnelle Reise.

Ein jung aussehender Frauengeist trat vor, ein Banner in der Hand, das sich zum altertümlichen Symbol der fauchenden Katze entfaltete, dem Zeichen der Luchsensees. Diese Sippe war dahingeschwunden und schon vor zweihundert Jahren in der männlichen Linie ausgestorben. Ingrey ergriff ihre Hand und erkannte bestürzt, dass sich zwei weitere Seelen durch ihr Banner an sie klammerten. Ihr Luchs war traurig und heruntergekommen, und die beiden anderen Geschöpfe waren so sehr dahingeschwunden, dass man sie gar nicht mehr erkennen konnte.

Er zog drei rote Linien nebeneinander auf ihre Stirn, was auszureichen schien, denn sie stand auf und schritt zu Jokol. Dessen Gesicht hellte sich auf, und er stand plötzlich sehr gerade, nahm ihre Hand und küsste sie. Dann wisperte er der Geisterfrau etwas ins Ohr, ehe sie verschwand. Ingrey hätte schwören können, ein schwaches, leises Lachen zu hören, das plötzlich glücklich klang und für einen Augenblick noch hinter ihr in der Luft schwebte. Jokol für die Tochter, ja. Die Herrin des Frühlings ist bekannt dafür, ihre Segnungen im Übermaß zu gewähren.

Der Nächste war ein dünner alter Mann, der zu Lewko ging. Der Priester sah sehr nachdenklich aus, als der Geist ihn durchdrang. Selbstverständlich, Lewko für den Bastard.

»Prinz Biast«, rief Ingrey halblaut. »Es tut mir Leid, ich brauche Euch an meiner Seite.«

Biast steht für den Sohn. Natürlich.

»Ich fürchte, ich werde diese Nacht am wenigsten benötigt«, murmelte Hallana. Aufmerksam spähte sie zum Grabhügel hinüber. »Ich werde mich dort bei der armen Fara niederlassen, bis Ihr mich braucht. Ich nehme an, sie hat einiges erlebt.«

»Ja. Vielen Dank, Hochwürden«, meinte Ingrey. »Sie hat vom Anfang bis zum Ende am meisten mitgemacht. Schließlich aber hat sie sich daran erinnert, dass sie eine Prinzessin ist.«

Biast trat an Ingreys Seite und musterte ihn wachsam. Die Verzückung auf seinem Gesicht, wenn er Ingrey anschaute, war mit einem Hauch von Trotz durchmischt. In einem missglückten Versuch von Ironie brummte er: »Soll ich Euch hier Majestät nennen?«

»Ihr könnt mich nennen wie Ihr wollt, solange Ihr Euch nur der Aufgabe widmet. Ist Fara so weit in Ordnung?« Ingrey nickte quer über die Lichtung, wo Fara zusammengekauert saß und verbissen zusah, während Hallana sich neben ihr niederließ.

»Ich habe ihr angeboten, sie dorthin zu bringen, wo Symark und die Diener der Gelehrten warten, aber sie hat abgelehnt. Sie sagt, sie möchte Zeugin sein.«

»Das hat sie sich auch verdient.« Und es würde sie neben Ingrey zu dem einzigen Menschen machen, der alle Taten von Rossfluten miterlebt hatte, angefangen vom Tod ihres Vaters bis zu … was auch immer diese Nacht noch bringen mochte. Wenn er überlebte, würde das wichtig werden. Und falls ich nicht überlebe, könnte es sogar noch wichtiger sein.

»Die meisten hier gehören Euch, vermute ich«, sagte Ingrey zu Biast. »Die alten Könige hatten zwei Aufgaben: ihre Leute in die Schlacht zu führen und sie wieder nach Hause zu geleiten. Letzteres hat Rossfluten in Wahnsinn und finsterster Verzweiflung wohl aus den Augen verloren. Was diese Krieger des Alten Weald angeht: Ihre Pflicht dem König gegenüber ist erfüllt, also bleibt nur noch die Pflicht des Königs ihnen gegenüber. Es wird«, Ingrey seufzte, »eine lange Nacht.«

Biast schluckte, und mit einem knappen Nicken sagte er: »Macht weiter.«

Ingrey blickte sich im Kreis der besorgten Geister um, die sich wieder dichter herandrängten, und hob die Stimme, dass sie über das Blutfeld hallte: »Fürchte keinen Mangel, mein Volk! Ich werde meine Wache nicht eher beenden, als bis eure lange Wacht auch zu Ende ist.«

Ein Jüngling mit blondem Bart kniete nieder, der Erste einer langen Reihe ähnlicher junger Männer, viele davon auf schreckliche Weise verstümmelt. Ingrey befreite Geschöpf über Geschöpf: Keiler und Bär, Pferd und Wolf, Hirsch und Luchs, Falke und Dachs. Biast musterte einen jeden Mann, dessen Geist er entgegennahm, als würde er in einen beunruhigenden Spiegel schauen.

Audars Truppen waren zwei Tage lang damit beschäftigt gewesen, all diese Krieger abzuschlachten; Ingrey sah keine Möglichkeit, sie alle in einer Nacht zu erlösen. Aber etwas Seltsames geschah mit der Zeit in diesen Wäldern. Er wusste nicht, ob es nur eine weitere Form jener Wahrnehmung war, wie sie ihn immer dann überkam, wenn ihn die Kampfeswut befiel, oder ob die Götter ihm ein Körnchen Ihrer Götterzeit geliehen hatten, mit der Sie selbst überall gleichzeitig und gleichwertig allen Seelen der Welt zur Seite stehen konnten. Ingrey wusste nur, dass jedem Krieger wenigstens ein Augenblick vollster Aufmerksamkeit seines Geheiligten Königs zuteil wurde; und selbst wenn es nicht seine Schuld war, die er zurückzahlte, so war sie ihm doch zugefallen. So bin ich in der Tat Wenzels Erbe geworden.

Dann fragte er sich, wer als Erstes zu einem Ende gelangen würde, seine Krieger oder er selbst. Vielleicht würden sie gemeinsam fertig, in perfekter Ausgewogenheit.

Gegen Mitte der Nacht kamen die darthacischen Bogenschützen. Ingrey zerbrach sich den Kopf ihretwegen, denn sie trugen keine Tierseelen, von denen er sie läutern konnte. Durch welche Nachwirkung des Übernatürlichen ihre Seelen auch immer eingefangen worden waren, durch welches Zusammenspiel von unterbrochener Magie, Göttergabe, einer nächtlichen Schlacht und blutigen Opfern — er konnte es sich nicht vorstellen. Doch er zeichnete sie auf gleiche Weise mit seinem Blut, sie warfen ihm die gleichen dankbaren Blicke zu, und er reichte sie weiter zu ihren wartenden Göttern wie alle anderen.

Die Wolfengrund-Frau mit den goldenen Wolfskopf-Armreifen küsste ihn als Dank für seinen Blutsegen auf die Stirn, dann drückte sie in einem selbstsüchtig-schwelgerischen Augenblick einen Kuss auf seine Lippen, ehe sie sich Hallana zuwandte. Ingreys Lippen wurden starr von der Kälte ihres Mundes, doch die ihren erröteten zart, wie in einer glückseligen Erinnerung, und so erschien es ihm wie ein ausgeglichener Tausch.

In der Finsternis vor Tagesanbruch, als das Licht der Sterne und der abnehmende Halbmond sich hinter dichten Wolken verbargen, gelangte er zum bitteren Ende seiner Aufgabe. Vielleicht zwei Dutzend Geister blieben zurück und drehten ihre bleichen Gesichter fort von den Göttern.

Ingrey wandte sich an Oswin. »Gelehrter, was soll ich mit diesen machen?« Er wies zu den Geistern, die ihm nicht entkommen konnten, die aber ebenso unwillig waren, zu ihm zu stoßen.

Oswin nahm einen tiefen Atemzug und meinte dann widerwillig, als würde er einen alten Lehrsatz zitieren: »Auch wenn der Himmel weint, so ist ihm der freie Wille heilig. Die Bedeutung eines Ja wird gebildet durch die Möglichkeit, Nein zu sagen. So wie eine erzwungene Heirat keine Heirat ist, sondern im Gegenteil Verbrechen und Vergewaltigung. Die Götter wollen oder können unsere Seelen nicht missbrauchen, aus welchem Grund auch immer. Sie tun es nicht.«

Auch jene starben auf dem Blutfeld, und meine Pflicht ihnen gegenüber bleibt bestehen. Wie bei den anderen.

Ingrey rief die dunklen, hoffnungslosen Geister mit seiner Zauberstimme einzeln heran, gewährte ihnen ihr kleines Geschenk von Blut, befreite ihre Tierseelen und ließ sie dann ziehen. Die meisten faserten auseinander, verblichen ins Nichts, noch ehe sie die Bäume erreicht hatten.

Zwei verblieben: der Marschall-Krieger, der die ganze Nacht mit dem königlichen Wolfengrund-Banner bei Ijada gestanden hatte, und das Geschöpf, neben dem und für das er auf dem Blutfeld gestorben war. Es kostete Ingrey einen Großteil seiner verbliebenen Kraft, Rossfluten herbeizubefehlen, sich ihm von Angesicht zu Angesicht zu stellen. Schließlich endeten sie beide auf den Knien.

Der hier ist nicht wie die anderen. Rossflutens Seelenhengst war verschwunden, sein Königtum aufgehoben, doch die Kette von Seelen blieb übrig, Generationen von Rossflutens, die sich immer noch in seiner gequälten Gestalt hin und her wälzten. Versuchsweise griff Ingrey nach den Überresten des jungen Wenzel inmitten der wirbelnden Masse und flüsterte: »Komm.« Und lauter: »Komm!«

Das Wesen vor ihm erschauderte, doch keine einzelne Seele schälte sich heraus. Ingrey überlegte, ob er einen taktischen Fehler begangen hatte. Hätte er sich Rossfluten besser zuerst vornehmen sollen, noch ehe er erschöpft war von dieser Nacht? Hätte er dann zerschlagen können, was Rossflutens langer Fluch zusammengeschmiedet hatte? Oder lag das schlichtweg außerhalb seiner irdischen Macht? Er war beinahe sicher, dass dem so war. Beinahe.

Einige von Rossflutens Gesichtern, die an die Oberfläche dieses scheußlichen Schädels stiegen, blickten sehnsüchtig hinüber zu den Toren der Götter, den fünf Leuten, die sich erschöpft aneinander lehnten. Andere Gesichter schauten fort, von Rossflutens Bitterkeit erfüllt, mit seiner Wut und endlosen Qual in den verwüsteten Augen.

»Was ist nun noch Euer Herzenswunsch?«, fragte Ingrey. »Verlorene Jahrhunderte kann ich nicht wiederbringen. Ich habe es Euch verwehrt, an den Göttern Rache zu nehmen, indem Ihr diese Seelen von ihnen fern haltet. Eine solche Tat wäre nicht das Recht Eurer geheiligten Königswürde gewesen, sondern ein Verrat daran. Was bleibt also noch? Ich würde Euch Gnade gewähren, wenn Ihr sie annehmen wollt.« Die Götter würden Euch Ströme davon gewähren.

»Gnade«, flüsterten einige von Rossflutens Stimmen und schauten zu den Toren hinüber; »Gnade«, flüsterten die anderen und wandten den Blick davon ab. Ein Wort, das zugleich entgegengesetzte wie auch einander ausschließende Wünsche ausdrückte. Konnte Ingrey, durch welche körperliche oder magische Kraft auch immer, dieses gespaltene Geschöpf vor irgendeinen Schrein zwingen? Sollte er es versuchen?

In dieser Nacht hatte die Zeit für Ingrey den Atem angehalten, jetzt aber lief sie ihm davon. Wenn der Sonnenaufgang kam und noch keine Entscheidung gefallen war, was würde dann geschehen? Und wenn er auf die Dämmerung wartete, damit sie ihm die Entscheidung abnahm, war das nicht schon selbst eine Entscheidung? Wenn Ingrey eine Entscheidung aus bloßer Müdigkeit traf — nun gut, er wäre nicht der erste Mann oder König, dem es so ging. Er hatte geglaubt, es wäre die schrecklichste Aufgabe eines Herrschers, Männer in eine aussichtslose Schlacht zu führen, doch diese neue Aussichtslosigkeit belehrte ihn eines Besseren. Er blickte Rossfluten an und dachte bei sich: Er muss einst eine große Seele gewesen sein, wenn die Götter ihn — auf das Äußerste zugrunde gerichtet, wie er jetzt ist — immer noch haben wollen.

Er schaute sich nach den Zeugen um: drei Geistliche, zwei Fürsten, eine Prinzessin und zwei königliche Bannerträger, die Lebende und der Tote. Biasts früheres Aufblitzen prinzlicher Eifersucht war jetzt vollkommen aus seiner Miene verschwunden. Nicht einmal er wollte in diesem Augenblick die geheiligte Königswürde. Das Gesicht des Marschall-Kriegers war ausdruckslos.

Ingrey presste seine schmerzende rechte Hand, bis das Blut von den Fingern tropfte. Dann ließ er eine dicke Linie um den Kopf des gequälten Geistes herumtropfen. Tief atmete er die neblige Nachtluft ein, hauchte: »Gnade«, und ließ Rossfluten gehen.

Langsam, wie fetter Qualm von einem Scheiterhaufen, löste Rossfluten sich auf, bis der Seelendunst nicht mehr vom allgegenwärtigen Nebel zu unterscheiden war. Der Geist seines Marschalls schloss für einen Moment die toten Augen, als würde ihm die fehlende Sicht auch das Wissen ersparen. Von allen hier war er der Einzige, bei dem Ingrey sicher war, dass er die Entscheidung verstand. Alle Entscheidungen. Es war sehr still geworden auf der Lichtung.

Ingrey versuchte aufzustehen, schaffte es nicht, und versuchte es wieder. Einen Moment stand er mit den Händen auf die Knie gestützt da, schwach und benommen. Schließlich drückte er den Rücken durch und schaute auf den letzten Geist, und auf Ijada, die immer noch die Wolfskopfstandarte aufrecht hielt. Hoch auf der stählernen Spitze schlug weiterhin das schattenhafte Herz.

Er verbeugte sich vor dem Marschall. »Um eine Gabe möchte ich Euch noch bitten, mein Bannerträger. Um einen weiteren Augenblick Eurer Zeit.«

Der Geist öffnete die Hand in neugierigem Einverständnis. All meine verbliebene Zeit ist nun Euer, Majestät, schienen seine Augen auszudrücken.

Ingrey trat vor und schloss die Hand um Ijadas Schulter. Sie lächelte ihm erschöpft zu, und ihr Gesicht war blass und dreckverschmiert und strahlend. Ingrey blickte auf die fünf der heiligen Schar. Ja. »Gelehrter Oswin, Gelehrte Hallana, wollt Ihr bitte kurz herkommen?«

Sie sahen einander an und kamen der Aufforderung nach. »Ja, Ingrey?«, sagte Hallana.

»Würdet Ihr vielleicht jeder ein Ende davon nehmen und es waagerecht halten? Nicht zu hoch.«

Ein wenig zögernd ergriffen sie den Schaft, als wären sie sich zunächst nicht sicher, ob es genug Substanz für sie haben würde. Dann traten sie auseinander. Das Banner der Wolfengrunds entfaltete sich und hing herab, als hätte der große Wolf seinen Kopf zu Boden geneigt.

Ingrey wandte sich Ijada zu. »Nimm meine Hand.«

Sie berührte zögernd seine Rechte und achtete sorgsam auf den blutigen Fleck. Er aber drückte ihre Finger, und daraufhin griff auch sie fester zu. Er drehte sie beide so, dass sie die waagerechte Standarte anblickten.

»Spring mit mir darüber«, sagte er, »wenn wir in Nächten wie diesen Verbündete sein sollen — und Liebhaber in allen Nächten darauf.«

»Ingrey …« Sie musterte ihn zweifelnd durch Strähnen herabhängenden Haares hindurch. »Hältst du um meine Hand an?«

»Ja. Du sollst einen König heiraten. Das ist deine große Gelegenheit.« Er sah sich um. Oswins nüchternes Gesicht erhellte sich in plötzlichem Verstehen, und Hallana zeigte ein breites Grinsen. »Es könnten kaum bessere Zeugen zugegen sein: drei Geistliche von untadeligem Charakter sowie zwei Fürsten, von denen einer ein Dichter ist, der diesen Augenblick zweifellos unsterblich machen wird, ehe wir auch nur halb in Ostheim zurück sind …«

Jokol, der näher herangetreten war, um alles zu sehen und zu hören, nickte begeistert. »Ah, Ingorry, gute Sache! Ja, spring, spring, Ijada! Meiner lieblichen Breiga wird das gefallen!«

»Eine Prinzessin …« Ingrey deutete eine unsichere Verbeugung in Faras Richtung an, die düster am Rande des Hügels saß. Sie antwortete mit einer nachdenklichen Geste. »Und noch ein anderer.« Ingrey nickte in Richtung des Marschalls. Er hatte nicht gewusst, dass man Geister verwirren konnte, aber das erstaunte Lächeln dieses Geistes segnete ihn schon im Voraus für diese unerwartete letzte Verwendung der lange verteidigten Standarte. »Du kannst später noch weitere Feierlichkeiten bekommen, wenn du willst«, sagte Ingrey.

Ijada schwankte ein wenig, als ihr beinahe die Knie nachgaben. Sie blickte Ingrey nachdenklich an. Dann schaute sie erst auf Oswin, schließlich auf Hallana, streckte die Hand aus und drückte die Stange nach unten. Die beiden Geistlichen beugten sich gehorsam weiter nach vorne, um das Hindernis auf eine Höhe herabzusenken, die ihr ein wenig kraftloser Geheiligter König meistern konnte.

Ingrey und Ijada schauten einander an, fassten sich bei den Händen und sprangen.

Beim Aufkommen stolperte Ingrey ein wenig, als ihm plötzlich schwindelig wurde, doch Ijada hielt ihn fest, und sie küssten einander. Ja, dachte Ingrey. Das ist das einzig lebende Jetzt.

Als sie sich voneinander lösten, tauschten sie ein Lächeln. Ingrey nahm die Standarte zurück. Das pochende Herz war von der Spitze verschwunden. Aber wer von uns hat welche Hälfte bekommen? Er war sich über die Antwort nicht sicher. Der Marschall fiel auf ein Knie und löste seine ergrauenden Haare vom goldenen Gürtel. Dann streckte er den Kopf vorsichtig in die Höhe. Ingrey kniete sich ebenfalls hin und schüttelte einen letzten, reichlichen Spritzer Blut auf die gerunzelte Stirn. Das alte Geisterpferd, das er damit freisetzte, war dünn geworden, doch Ingrey befand, dass es zu seiner Zeit ein großartiges Tier gewesen sein musste, denn in dieser Nacht jagte es dahin.

Der Marschall erhob sich. Er bewegte die Schultern, wie in großer Erleichterung, und nickte Ingrey feierlich zu. Dann drehte er sich um und griff nach der Hand des Gelehrten Oswin. Ohne einen Blick zurück war er verschwunden.

Finsternis senkte sich über Ingreys Augen, zum ersten Mal in dieser Nacht. Erst jetzt wurde er sich bewusst, dass er in den letzten, nur von Geisterlicht erhellten Stunden mit unnatürlicher Schärfe gesehen hatte. Jokol ächzte und beeilte sich, ein kleines Feuer zu entfachen, das er unbemerkt von Ingrey aufgeschichtet hatte, um Fara zu wärmen, während er die Nacht über auf die Anhänger seiner Herrin gewartet hatte. Der orangene Schimmer vergoldete die müden Gesichter derjenigen, die sich um die Flammen drängten.

Biast nickte vorsichtig in Richtung der königlichen Wolfengrund-Standarte, die Ingrey immer noch umklammert hielt und als Stütze gebrauchte. »Was werdet Ihr damit tun?«

Nun, was? Er richtete sich auf und starrte sie verlegen an. Sie fühlte sich unter seinem Griff so wirklich an wie die Rossfluten-Standarte, die Fara zerbrochen hatte. Aber sie stammte nicht aus der materiellen Welt, und Ingrey bezweifelte, dass er sie dorthin bringen konnte, über die Grenzen des Wehen Waldes hinaus. Ebenso zweifelte er daran, dass sie den Sonnenaufgang überdauern würde, der schon von einem schwachen grauen Schimmer auf den Nebeln angekündigt wurde, die zwischen den knorrigen Bäumen trieben. Ingreys geheiligte Königswürde war zeitlich und räumlich enger begrenzt, als Biast womöglich erkannte, ansonsten hätte der Fürstmarschall ihn nicht so besorgt angeschaut.

Ingrey war nicht gewillt, seine Standarte ehrerbietig an Biast zu überreichen, so politisch klug dies auch scheinen mochte. Es war eine Wolfengrund-Standarte, keine Hirschendorn; sie gehörte zur Nacht und nicht zum Tage, und außerdem, außerdem … soll er sich seine eigene verdienen.

»Im Alten Weald«, erklärte Ingrey, »hütete der königliche Bannerträger die Standarte vom Tod des alten Königs bis zur Einsetzung des neuen.« Und jetzt weiß ich auch, weshalb. »Dann wurde sie zerbrochen und die Stücke auf dem Scheiterhaufen des toten Königs verbrannt, wenn der Lauf der Dinge eine solch feierliche Abfolge möglich machte.« Und wenn nicht, vermutete er, hatte jemand dies so gut wie möglich nachgeholt, je nach Einfallsreichtum, Dringlichkeit und Möglichkeiten. Ein wenig zerstreut blickte er sich um. »Ijada, wir müssen den Boden hier ebenfalls reinigen, bevor wir diesen Ort verlassen können. Mit Feuer, nehme ich an.«

Sie folgte seinem Blick. »Der Förster meines Stiefvaters meinte, dass diese Bäume krank wären. Er wollte den Wald damals in Brand setzen, aber ich ließ ihn nicht.«

»Wirst du es mir erlauben?«

»Es ist dein Königreich.«

»Nur bis zum Sonnenaufgang. Morgen gehört es wieder dir.« Er warf Biast einen Seitenblick zu, um festzustellen, ob dieser die Andeutung verstand.

»Vielleicht spielt es keine Rolle«, seufzte Ijada. »Vielleicht ist es notwendig. Vielleicht ist es an der Zeit. Was … äh«, sie befeuchtete sich die Lippen, »was ist mit Wenzels Leichnam?«

Der Gelehrte Lewko stellte unbehaglich fest: »Ich glaube nicht, dass wir ihn jetzt mitnehmen können. Unsere Tiere wurden gestern sehr beansprucht, und sie werden genug damit zu tun haben, uns zur Straße zurückzubringen. Wir werden jemanden zurückschicken müssen, um ihn holen zu lassen. Sollen wir einen kleinen Steinhügel über ihm aufschichten, um ihn bis dahin vor den wilden Tieren und Vögeln zu schützen?«

»Der letzte Rossfluten-König hat niemals den Scheiterhaufen eines Kriegers erhalten«, sagte Ingrey. »Das hat niemand hier, außer vielleicht einigen wenigen, die während dieser Nacht in irgendwelchen brennenden Hütten eingeschlossen waren. Ich weiß nicht, ob es einen theologischen Grund gab, sie alle in Gruben zu verscharren, ob es ein Teil von Audars Magie und seinem Fluch war oder nur militärische Effizienz. Je mehr ich über das Blutfeld erfahre, umso mehr glaube ich, dass es selbst damals niemand wirklich wusste. Es ist schon spät, die letzte Stunde der Nacht. Wir werden den Wald in Brand setzen.« Für Wenzel. Für sie alle.

Ijada befeuchtete einen Finger und hielt ihn in die Luft. »Im Augenblick weht ein leichter Ostwind. Es sollte gehen, selbst wenn kein Regen aufzieht.«

Ingrey nickte. »Biast, meine Herren, könnt Ihr Fara hier heraushelfen? Kann jemand die Pferde wieder einfangen?«

»Ich kann das!«, sagte Hallana fröhlich, und sie erstaunte jeden von ihnen, außer Oswin, indem sie auf den Hügel stieg, sich in alle vier Himmelsrichtungen wandte und laut durch die aneinander gelegten Hände rief: »Pferde! Pferde!«

Oswin schaute ein wenig gequält drein, wirkte aber nicht im mindesten überrascht, als einige Minuten später ein Krachen im Unterholz von der Ankunft der zurückgelassenen Reittiere kündete, die die Zügel hinter sich herzogen und schnaubten. Jokol und Lewko hatten auf Ingreys Nicken hin weiteres trockenes Holz vom Rand der Lichtung gesammelt und um Wenzels Leib herum aufgeschichtet. Lewko nahm Wenzels Geldbörse, Ringe und andere Gegenstände in seine Obhut, die für die künftigen, rechtmäßigen Erben von Interesse sein konnten. Ijada steckte die zerbrochenen Teile des Rossfluten-Banners oben in den Stapel. Hallana half der verwitweten Prinzessin, auf ein Pferd zu steigen. Dann zog die Gesellschaft auf die Marschen zu und in die neblige Düsternis. Fara schaute nicht einmal zurück.

Biast allerdings schon. Er drehte sein Pferd und beobachtete, wie Ingrey mit einem Ast das Feuer schürte. »Kommt ihr beiden zurecht?«

»Ja«, erwiderte Ingrey. »Haltet auf die Schneise in den Dornen zu. Wir holen Euch ein.«

Feierlich ergriff Ijada die Standarte, trat einige Schritte zurück und hielt das schwarz-rote Banner ins Feuer, bis es in hellen Flammen stand. Dann reichte sie den Schaft an Ingrey zurück. Der umfasste ihn fest mit beiden Händen, schloss die Augen und stieß ihn himmelwärts. Er öffnete die Augen wieder, packte Ijadas Hand und bereitete sich darauf vor, allem auszuweichen, was wieder herunterfallen mochte.

Stattdessen wirbelte die Standarte empor und zerplatzte in Hunderte brennender Splitter, die ringsum zu Boden regneten.

»Oh«, stieß Ijada überrascht hervor. »Ich dachte, wir müssten eine ganze Weile mit Fackeln durch den Wald laufen und nach trockenem Unterholz suchen …«

»Das glaube ich nicht«, sagte Ingrey und zerrte sie auf Biast zu, der mit weit aufgerissenen Augen in die flackernde Helligkeit blickte. »Aber es ist Zeit zum Aufbruch.« Irgendwo im Wald hinter ihnen ging etwas Trockenes brausend in Flammen auf und schickte eine Fontäne heller Funken zum Himmel. »Rasch!«

Biasts Pferd tänzelte furchtsam trotz seiner Erschöpfung, doch der Fürstmarschall blieb bei ihnen, während sie sich ihren Weg zwischen den deformierten Bäumen hindurch zurück zum Sumpf suchten. Er musterte Ingrey und Ijada, als versuche er zu entscheiden, wen von beiden er hinter sich aufs Pferd ziehen sollte, um loszugaloppieren, sobald der Wind sich drehte.

Glücklicherweise — zumindest nach Ingreys Ansicht, der in dieser Nacht nicht mehr die Kraft für einen weiteren Streit hatte — änderte sich nichts an der leichten Brise, und der Feuerkranz kroch mit bloßer Schrittgeschwindigkeit vom Zentrum nach außen. Sie erreichten den Waldrand zwar nicht deutlich vor den Flammen, jedoch mit hinreichendem Vorsprung.

Ijada stützte Ingrey, bis sie zur Schneise in den Dornen gelangten. Dann sah Biast ihn stolpern, stieg vom Pferd und schob stattdessen Ingrey hinauf. Er selbst führte das Tier am Zügel. Sie brauchten kein weiteres Licht als den Schimmer des fernen Brandes, um den gewundenen Pfad aus dem Tal hinaufzusteigen. Schließlich erreichten sie das Vorgebirge und stellten fest, dass die anderen bereits in einem Lager versammelt waren, das Symark, Ottovin, Bernan und Hergi vorbereitet hatten.

Lewko half Ingrey von Biasts Pferd. Ingrey zitterte nun heftig in der morgendlichen Kälte. Als Hallana sah, wie Lewko Ingreys Arm über die Schultern legte, um ihn zum Lagerfeuer zu schleppen, ließ sie Fara zurück, die bereits von Hergi versorgt wurde, und eilte zu ihnen. Ingrey fand ihr leises Verflixt! noch beunruhigender als seine eigene Schwäche.

Sie betrachtete ihn stirnrunzelnd. »Bringt ihm etwas Heißes zu trinken und zu essen, rasch«, befahl sie Bernan und Oswin. »Und sämtliche Decken und Mäntel, die wir haben.«

Ingrey sank auf ein Sattelkissen, weil er sich plötzlich nicht mehr auf den Beinen halten konnte.

»Hat er zu viel Blut verloren?«, fragte Ijada besorgt.

Ausweichend antwortete Hallana: »Er wird sich erholen, wenn er sich aufgewärmt und etwas gegessen hat.«

Hergi kam mit ihrer Ledertasche herbei, und Ingrey ließ ein weiteres Säubern und Neuverbinden seiner verkrusteten rechten Hand über sich ergehen, obwohl die Wunde sich wieder einmal geschlossen hatte und die Blutergüsse schon verblassten. Andere liefen in scheinbar nutzloser Geschäftigkeit umher, sammelten Essen und Decken und entfachten das Feuer. Ingrey war müde und benommen, und er zitterte so sehr, dass er den seltsam schmeckenden Kräutertee zu verschütten drohten, ehe er die Tasse auch nur an die tauben Lippen heben konnte. Doch Ijada schenkte ihm immer wieder nach und versorgte ihn stets mit Nahrung, so weit sie im Lager aufzutreiben war. Sie kroch sogar zu ihm unter die Decken, um ihm von der Wärme ihres Leibes abzugeben. Schließlich hörte er zu zittern auf und war nur noch sehr, sehr müde.

»Wie seid Ihr hierher gekommen?«, wollte Ingrey vom Gelehrten Lewko wissen, der sich setzte, um ihm Gesellschaft zu leisten und getrocknete Früchte mit ihm zu teilen, die jemand in einer Satteltasche gefunden hatte. »Ich konnte keine Botschaft schicken, nachdem wir das Sterbebett des Königs verlassen hatten, obwohl ich es gerne getan hätte. Rossfluten hielt mich und Fara in seinem Bann.«

»An diesem Abend hatte ich Hallana begleitet, um Ijada zu befragen. Wir sprachen gerade miteinander, als Ijada plötzlich sehr aufgeregt wurde und erklärte, Euch müsse etwas Furchtbares geschehen sein.«

»Ich habe dich nicht mehr gespürt«, warf Ijada ein. »Ich hatte Angst, du wärst getötet worden.« Sie drückte ihn fester.

»Rossfluten hat sich unsere Verbindung angeeignet.«

»Ah!«, hauchte sie.

Lewko hob bei diesen Worten fragend die Brauen, bevor er mit seinem Bericht fortfuhr: »Lady Ijada bestand darauf, dass wir nachsehen. Hallana stimmte ihr zu. Ich … entschloss mich, keine Einwände zu erheben. Euer Ritter Gesca beschloss dasselbe, zumindest nicht gegenüber Hallana, obwohl er uns begleitete, um seiner Pflicht als Aufpasser Genüge zu tun. Wir vier gingen zu Rossflutens Palast, wo man uns wissen ließ, dass Ihr Euch zum Krankenlager des Geheiligten Königs begeben hättet. Dann gingen wir zur Halle des Geheiligten Königs, wo wir Biast am Totenbett seines Vaters vorfanden. Er sagte uns, ihr alle wärt wieder zum Grafen zurückgekehrt. Wir waren uns sicher, dass wir euch im Dunkeln nicht verfehlt hatten. Hallana hat daraufhin … nun, wieder einmal eine ihrer Eingebungen gezeigt und uns zu den Ställen des Grafen geführt.«

»Das muss ein ziemlicher Anblick gewesen sein«, sagte Ingrey.

»Um es vorsichtig auszudrücken. Biast hatte bis dahin nicht ernsthaft geglaubt, dass mehr dahinter steckte als die üblichen Probleme seiner Schwester. Doch von diesem Zeitpunkt an war niemand begieriger darauf als er, die Verfolgung aufzunehmen. Hallana lief los und holte Oswin und Bernan mit ihrem Wagen. Bei Oswin traf sie Fürst Jokol an — er möchte immer noch einen Geistlichen zu seiner Insel mitnehmen —, und brachte auch ihn mit. Ich war mir nicht sicher, ob wir mit diesem ungebärdigen Haufen aufbrechen sollen, aber … nun, ich kann bis fünf zählen.« Lewko seufzte. »Wenigstens brachte Jokol seinen Eisbären nicht mit.«

»Wollte er das denn?«, fragte Ingrey verwirrt.

»Ja«, sagte Ijada. »Aber ich habe es ihm ausgeredet. Er ist so ein goldiger Bursche.«

Ingrey beschloss, dies unkommentiert durchgehen zu lassen.

Lewko fuhr fort: »Das war der Zeitpunkt, da ich zu dem Schluss kam, dass die Götter auf unserer Seite sein müssen … wie kann man sagen, die fünf Götter mögen Ihnen helfen, wenn die Götter selbst es sind, die Hilfe brauchen? Stellt euch nur diesen ganzen Ausflug mit dem Eisbären vor!« Er erschauderte. »Fafa hätte im Wagen mitfahren müssen, nehme ich an. Obwohl er groß genug ist, um selbst als Reittier durchzugehen.« Er blinzelte kurz und schaute nachdenklich drein. »Ich frage mich … glaubt Ihr, diese Suche nach einem Geistlichen war nur ein Trick der lieblichen Breiga, um den Bären loszuwerden, bevor er am Ende noch zu Füßen ihres Ehebettes schläft?«

Ijadas Augen funkelten, und sie kicherte. »Oder schlimmer noch, darin! Kann schon sein. Sie scheint eine sehr entschlossene Dame zu sein. Aber lasst das um Himmels willen nicht Jokol hören.«

»Das würde mir im Traum nicht einfallen.« Lewko wischte sich das Grinsen aus dem Mundwinkel und fuhr fort: »Biast lud alle Angelegenheiten in Ostheim auf Hetwars Schultern, die vermutlich kräftig genug sind, um damit fertig zu werden. Kaum vier Stunden, nachdem ihr drei Ostheim verlassen hattet, eilten wir auf der Flussstraße nach Norden. Danach ging es nur noch darum, Botenpferde von kirchlichen und königlichen Kurierstationen zu beschlagnahmen und abwechselnd im Wagen zu schlafen, auf dem ganzen Weg nach Dachsbrücken.«

»Ihr seid geradenwegs auf der Hauptstraße dorthin gereist?«, sagte Ingrey. »Damit dürftet Ihr ein wenig Zeit gespart haben. Wir sind auf Nebenstraßen ausgewichen, als wir uns nach Westen wandten, um der Geheimhaltung willen, nehme ich an.«

»Ja. Über das Ziel der Reise schien nie ein Zweifel zu bestehen. Eine solche Flut von Träumen! Ich habe nicht verstanden, warum, bis … nun. Jetzt habe ich es begriffen. Wir tauschten den Wagen gegen frische Reittiere und hängten auf dem Weg hinter Dachsbrücken die Eskorte des Fürstmarschalls ab. Sie könnten jeden Augenblick zu uns stoßen, wenn sie sich nicht in Ijadas Wäldern verirrt haben.«

Ijada nickte nachdenklich, als sie diese Möglichkeit erwog. »Sie haben den Förster dabei. Irgendwann werden sie ihren Weg finden, womöglich über einen anderen Pass.« Sie blickte über das Tal. »Wenn schon sonst nichts, wird spätestens der Rauch sie hierher führen.«

Hallana winkte Ijada von der anderen Seite des Lagers her zu, und diese erhob sich, um nachzusehen, was die Geistliche wollte. Ingrey streckte sich und fühlte sich trotz eines heftigen Kopfschmerzes endlich hinreichend aufgewärmt. Er stand auf und schlenderte zum Rand des Abhangs, von wo er über die schüsselförmige Senke von Am Heiligen Baum/Blutfeld/Der Wehe Wald hinwegblicken konnte. Mein Königreich von Dem-was-war.

Er nahm die Decke von den Schultern und setzte sich darauf, die Arme um die Knie geschlungen, und schaute hinunter in den grau werdenden Abgrund aus Dunst und Rauch. Das heiße helle Gelb, das durch die Finsternis gelodert hatte, war inzwischen zu einem trüben roten Ring geworden, der in der Mitte schwarz wirkte. Das blutrote Licht spiegelte sich an der Unterseite der kohlschwarzen Wolken wider. Von weit her hörte Ingrey leises Donnergrollen zwischen den Hügeln widerhallen, und der schwere Geruch des heranziehenden Regens vermischte sich mit dem Gestank des Rauchs. Er fragte sich, ob der Morgen nach dem ursprünglichen Massaker wohl genauso gerochen hatte, und ob Audar selbst ebenfalls an diesem Ort verweilt und darüber nachgedacht hatte, was aus dem Streit von Königen geworden war.

Biast schlenderte heran und blieb mit verschränkten Armen neben ihm stehen. Er blickte ebenfalls über das Tal, wie in trauter Geselligkeit, doch war der Fürstmarschall zu angespannt, um diesen Eindruck glaubwürdig zu vermitteln. Ingrey streckte einladend die Hand aus, und Biast ließ sich neben ihm nieder und seufzte müde.

»Was wollt Ihr nun anfangen?«, fragte Biast.

»Schlafen, bevor wir wieder aufbrechen müssen.«

»Ich habe das eher allgemein gemeint.«

Ich weiß. Ingrey seufzte; dann spielte ein leichtes Lächeln um seinen Mund. »Nach all diesen Ereignissen werde ich mich dem höchsten Bestreben eines Höflings hingeben …«

Er machte eine winzige Pause, gerade lang genug, um Biast Zeit zu geben, sein Unbehagen zu zeigen.

»… und eine reiche Erbin heiraten, um ein bequemes Leben auf deren Landgütern zu führen.« Er streckte den Arm aus, und seine Geste umfasste die umliegenden Hügel.

»Ein bequemes Leben? In dieser Wüste?«

»Nun ja, vielleicht findet sie die eine oder andere Aufgabe, um mich zu beschäftigen.«

»Vielleicht«, erwiderte Biast und lachte auf.

»Wenn sie nicht hingerichtet wird.«

Biast verzog das Gesicht und wischte diese Sorge beiseite. »Das wird nicht geschehen. Nicht nach dem hier. Wenn Ihr mir und Hetwar nicht vertraut — nun, ich glaube, Oswin und Lewko haben auch noch das ein oder andere dazu zu sagen. Bei so viel Unterstützung wird ein umsichtiges Urteil ohnehin unumgänglich sein.« Er stockte kurz, bevor er hinzufügte: »Und Gnade.«

»Gut«, seufzte Ingrey.

»Ich will Euch dafür danken, dass Ihr Fara das Leben gerettet habt. Mehr als einmal, wenn sie mir die Wahrheit gesagt hat. Euch zu ihrem Wachwolf zu machen war eine meiner glücklicheren Entscheidungen, wenn es Glück war.«

Ingrey zuckte die Achseln. »Ich habe Euch gegenüber nicht mehr als meine Pflicht getan — und nicht weniger, als das Gewissen einem jeden geboten hätte.«

»Aber nicht jeder hätte tun können, was ich Euch gestern Nacht habe tun sehen.« Biast wich Ingreys Blick aus. »Wenn Ihr Euch entschließt, mehr werden zu wollen — nach dem Thron meines Vaters zu greifen —, wüsste ich nicht, wer sich Euch entgegenstellen könnte. Wolfskönig.« Ich jedenfalls nicht, schienen seine herabgesunkenen Schultern hinzuzufügen.

Jetzt kommt er zur Sache. Ingrey zeigte nach draußen. »Mein Königreich durchmaß zwei mal vier Meilen, seine Bevölkerung umfasste nicht eine einzige atmende Seele, und meine Herrschaftszeit währte von einem Sonnenuntergang bis zum nächsten Sonnenaufgang. Die Toten haben mir das Königtum nur verliehen, und am Ende habe ich es ihnen zurückerstattet, wie jeder König es tun muss. Auch Euer Vater.« Wenn auch nicht Rossfluten: Das war gewiss eine Ursache der ganzen Probleme gewesen. »Ihr ebenfalls, Prinz, wenn Eure Zeit gekommen ist.«

Bei näherer Betrachtung, entschied Ingrey, fehlte seiner Geographie eine Dimension. Acht Quadratmeilen mal vier Jahrhunderte — oder noch länger, denn die gesamte Geschichte des Alten Weald hatte sich gewiss in jener schicksalhaften Nacht auf dieses Stück Land konzentriert, um danach so gründlich aus den Fugen geraten zu können. Wie der Abgrund unter der täuschenden Oberfläche eines Sees, dem dieser Talgrund ähnelte, reichte die Zeit unvorstellbar tief unter diese Oberfläche … so tief. Mein Herrschaftsgebiet ist größer, als es aussieht. Er beschloss, Biast nicht mit diesem Gedanken zu beunruhigen, sondern sagte nur: »Wenn mir noch eine Spur der Königswürde verblieben ist, so wird dieses kleine Reich dafür genügen.«

Biasts Schultern entspannten sich bei dieser indirekten Zusicherung, dass der Wolfsherr mit seinen beunruhigenden Kräften keinen größeren Anteil an Ostheims Politik begehrte. Er hielt am Horizont vermutlich nach Zeichen für seine zerstreute Eskorte Ausschau, fand dort aber niemanden. Er hob einige Kiesel auf und warf sie nachdenklich über die Kante.

»Sagt mir die Wahrheit, Lord Ingrey«, meinte Biast plötzlich. Er wandte sich um und blickte Ingrey zum ersten Mal direkt ins Gesicht. »Was macht die geheiligte Königswürde heilig?«

Ingrey zögerte so lange mit der Antwort, dass Biast sich schon wieder enttäuscht abwenden wollte. Dann aber sagte Ingrey unvermittelt: »Glaube.« Und auf Biasts verwirrten Blick ergänzte er: »Ihn sich zu bewahren.«

Biasts Lippen formten ein stummes Oh, als hätte etwas Scharfes ihm das Herz durchbohrt. Wortlos ließ er sich zurücksinken und schwieg für lange Zeit. In einer diesmal wohltuenden Stille saßen sie beieinander, während die schimmernden Feuer über den Boden unter ihnen krochen, als verspäteter Scheiterhaufen für das Blutfeld und als letzter Akt der Läuterung für den Ort Am Heiligen Baum.

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