Als Ingrey an diesem Nachmittag Ijadas Wald verließ, klammerte er sich nur noch benommen am Sattel fest. Einer von Biasts spät eingetroffenen Wachsoldaten hatte sein Pferd in Schlepp genommen. Einen Großteil der darauf folgenden Woche verbrachte Ingrey im Haus von Ijadas Stiefeltern in Dachsbrücken, wo er sich im Bett erholte. Sobald er aufstehen konnte, ließen er und Ijada sich im Empfangsgemach des Hauses trauen, und er konnte ihre Gesellschaft im Krankenzimmer bei Nacht ebenso genießen wie bei Tage und stellte fest, dass es ein paar Dinge gab, die er bewerkstelligen konnte, ohne dafür das Bett zu verlassen.
Prinz Biast und sein Gefolge waren sogleich zurück nach Ostheim und den prinzlichen Pflichten dort geeilt. Die Nachricht von seiner Wahl zum Geheiligten König traf am Tag nach der Hochzeit ein. Fürst Jokol und Ottovin verweilten gerade lange genug, um die Hochzeitsfeier zu beleben und die Stadt Dachsbrücken in Erstaunen zu versetzen. Dann stiegen sie auf ihre Pferde und ritten über die südliche Straße zurück zu ihrem Schiff.
Hallana mit ihren beiden treuen Begleitern kehrte sofort zu ihren Kindern in Neresblatt zurück, doch der Gelehrte Oswin wartete mit dem Gelehrten Lewko ab, um Ijada, die formal noch immer unter Gewahrsam stand, zurück nach Ostheim zu geleiten. Selbst mit ihrer Unterstützung mahlten die Mühlen der Kirche und des königlichen Gerichts langsam, und es dauerte noch einige Tage, bis man formell einen Akt der Selbstverteidigung konstatierte. Oswin fasste geschickterweise das Gesuch um den Dispens für Ijadas und Prinzessin Faras Geistertiere in einem einzigen Dokument zusammen, mit einer gleich lautenden Begründung. Hinter den Kulissen war wohl noch ein Armdrücken nötig, das den Gelehrten Lewko bitter lächeln ließ, doch der zweifache Dispens wurde kurz nach dem Urteil erteilt.
Fara zog sich bald darauf in ein abgelegenes Wittum zurück, unter dem Schutz ihres Bruders. Wenn ihr Geisterpferd sie zu einem weniger begehrenswerten Objekt für eine weitere politische Heirat machte, schien ihr dies eher düstere Befriedigung zu bereiten als Bedauern. Ihre schweren Kopfschmerzen kehrten nie zurück.
Wie genau Lewko und Oswin zusammen einen Geistlichen für Fürst Jokol herbeibrachten, fand Ingrey nie heraus. Doch er und Ijada kamen hinunter zum Hafen, um sich vom Inselfürsten und seinen Kameraden zu verabschieden. Der junge Geistliche klammerte sich ängstlich an der Reling des Schiffes fest, als rechnete er damit, schon auf der Fahrt flussabwärts seekrank zu werden. Trotzdem wirkte er tapfer und entschlossen.
Auch für Fafa, den Eisbären, fand sich ein Platz: Irgendjemand war so klug, ihn als Krönungsgeschenk an König Biast zu überreichen. Daraufhin nahm das Tier seinen Wohnsitz auf einem nahen Bauernhof, mit einem eigenen Teich, in dem er schwimmen konnte.
So kam es, dass bereits Schnee fiel, als Ingrey und Ijada frei aus Ostheim fortritten, auf der Südoststraße dem Luretal zu und mit der fachkundigen Begleitung des Gelehrten Lewko. Ingrey trieb sie trotz der Kälte an. Dass er zu spät war, um sein Ziel noch zu erreichen, war sehr wahrscheinlich — dass er aber gerade eben zu spät kommen könnte, schien ihm unerträglich. Sie erreichten den Zusammenfluss von Lure und Birkbach zurzeit der Wintersonnenwende, dem Tag des Vaters. Dieses zufällige zeitliche Zusammentreffen ließ wider alle Vernunft und gegen den Rat des gelehrten Heiligen die Hoffnung in Ingreys Herz wachsen.
»Ich fürchte, das ist vergebliche Liebesmüh, Vetter«, befand Islin von Wolfengrund, der Burgvogt von Birkenhain. »In den zehn Jahren, die ich hier gelebt habe, habe ich niemals einen Geist gesehen oder von Geistern in dieser Festung gehört. Aber wenn dir daran gelegen ist, darfst du gerne hier Jagd auf sie machen.« Islin musterte Ingrey und seine beiden Begleiter mit sichtlichem Unbehagen und gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Wenn du es müde bist, in Kälte und Dunkelheit umherzustöbern, dann steht ein warmes Federbett für dich bereit. Meines ruft mich schon. Wenn Ihr mich bitte entschuldigen wollt.«
»Natürlich«, erwiderte Ingrey mit höflichem Nicken. Islin erwiderte diese Geste und verließ den Rittersaal.
Ingrey schaute sich um. Einige gute Bienenwachskerzen in versilberten Leuchtern verbreiteten mildes, honiggelbes Licht in der Kammer. Ein kleines Kaminfeuer kämpfte gegen die Kälte an. Jenseits der Fensterschlitze stand die mitternächtliche Finsternis. Nur schwach war das Glucksen des rasch dahinströmenden Birkbaches zu vernehmen, der noch nicht zugefroren war, obwohl seine Ufer bereits mit Eis gesäumt waren.
Das Gemach sah fast noch genau so aus wie an dem schicksalhaften Tag, da Ingrey und sein Vater hier ihre Wolfsopfer empfangen hatten, und doch … nicht. Hier ist es kleiner und schlichter, als ich es in Erinnerung habe. Wie kann eine steinerne Halle kleiner werden?
Ijada sagte mit besorgter Stimme: »Dein Vetter schien mir beim Abendessen sehr zurückhaltend. Glaubst du, unsere Tiergeister beunruhigen ihn?«
Ingreys Lippen verzogen sich zu einem freudlosen Lächeln. »Ein wenig vielleicht. Aber in erster Linie fragt er sich vermutlich, ob ich wohl meinen neuerlichen Einfluss bei Hofe nutzen möchte, um ihm sein Erbe abzunehmen.« Islin war nur wenig älter als Ingrey und hatte seine Position vor ungefähr drei Jahren von Ingreys Onkel geerbt.
»Würdest du das wollen?«, fragte Ijada neugierig.
»Nein. Zu viele schlechte Erinnerungen hängen an diesem Ort und begraben die Guten. Ich würde sie lieber alle hinter mir lassen. Abgesehen von einer.«
Ijada nickte Lewko zu. »Also, Heiliger. Was enthüllt Euch Euer heiliger Blick? Hat Islin Recht? Gibt es hier keine Geister?«
Lewko, der seit ihrer Ankunft am Nachmittag wie üblich den demütigen, beinahe unsichtbaren gewöhnlichen Geistlichen gespielt hatte, schüttelte den Kopf und lächelte. »In einem Gebäude, das so alt ist und so groß und lange bewohnt, wäre ich mehr als überrascht, wenn es nicht einige Geister geben würde. Was verraten Euch Eure Schamanensinne, Ingrey?«
Ingrey hob den Kopf, schloss die Augen und schnupperte. »Von Zeit zu Zeit scheint es mir, als würde ich eine eigentümliche Klammheit in der Luft riechen. Aber zu dieser Jahreszeit ist das nicht verwunderlich.« Er öffnete die Augen wieder. »Ijada?«
»Ich bin zu unerfahren, um sicher zu sein, fürchte ich. Hochwürden?«
Lewko zuckte die Achseln. »Wenn der Gott mich heute berühren möchte, werden sämtliche Geister im Umkreis von der Aura angelockt. Wohlgemerkt, nicht durch einen Zauber von mir: Es geschieht einfach. Ich werde darum beten, dass mein zweites Gesicht geteilt wird. Die Götter stehen in unserer Schuld, Ingrey, Ijada. Wenn ihr die Gabe nur empfangen könnt, glaube ich, werden Sie auch geben. Kommt zur Ruhe, und wir werden sehen.« Lewko schlug das heilige Zeichen, schloss die Augen und faltete die Hände vor dem Leib. Er schien in sich selbst zu ruhen. Seine Lippen bewegten sich kaum wahrnehmbar in einem stillen Gebet.
Ingrey tat sein Bestes, sich von allen Begehrlichkeiten freizumachen, von Wünschen und Ängsten. Er fragte sich, ob es auch reichte, wenn er einfach sehr, sehr müde war.
Schließlich öffnete Lewko die Augen wieder, trat vor und küsste schweigend zuerst Ijada, dann Ingrey auf die Stirn. Seine Lippen waren kühl, doch Ingrey spürte eine seltsame, angenehme Wärme durch sich hindurchfließen. Er blinzelte.
»Oh!«, sagte Ijada und blickte sich neugierig in der Halle um. »Hochwürden, ist das einer?« Sie wies in eine Richtung. Ingrey sah eine schwache blasse Blase vorübertreiben und in einem Bogen auf Lewko zukommen, kaum greifbarer als ein Atemwölkchen im eisigen Mondlicht.
»In der Tat«, erwiderte Lewko, der ihrem Blick folgte. »Es gibt nichts zu fürchten, denkt daran, wenn auch viel zu bemitleiden. Diese Seele ist lange schon verloren und machtlos.«
Die Andeutung, dass Ijada, die das Grauen und den Triumph vom Blutfeld geteilt hatte, Angst vor einem Geist haben könnte, erschien Ingrey absurd. Seine eigenen Ängste drehten sich um etwas ganz anderes. »Hochwürden, könnte das mein Vater sein?«
»Spürt Ihr seinen Wolf, wie Ihr die Tierseelen in den anderen gespürt habt?«
»Nein«, gab Ingrey zu.
»Dann ist es ein anderer, lange verloren. Sterbend über den Tod hinaus.« Lewko segnete den Geist mit dem Heiligen Zeichen, und er trieb zurück in die Wand.
»Warum sollten die Götter uns diese Sicht verleihen, wenn es hier nichts zu sehen gäbe?«, fragte Ingrey. »Das wäre sinnlos. Es muss noch mehr geben.«
Lewko blickte sich in dem nun leeren Saal um. »Dann lasst uns einen kleinen Rundgang durch die Burg machen und sehen, was alles auftaucht. Aber, Ingrey … macht Euch nicht zu viele Hoffnungen. Die Geister von Blutfeld hatten mächtige Zauber und all das Leben dieses furchtbaren Landstriches, um sie weit über ihre Zeit hinaus zu erhalten. Lord Ingalef, fürchte ich, hatte nichts dergleichen.«
»Er hatte seinen Wolf«, erwiderte Ingrey starrköpfig. »Vielleicht hat der einen Unterschied gemacht.« Bei seinem Tonfall tastete Ijada nach seiner Hand und drückte sie. Arm in Arm verließen sie die Halle und schlugen im Flur die entgegengesetzte Richtung ein wie Lewko, um die Burg besser durchsuchen zu können, solange das zweite Gesicht anhielt.
In der trostlosen, finsteren Winternacht wirkte die Burg auch ohne Geister kalt und feucht. Doch Ingrey stellte fest, dass er des Nachts schärfer sehen konnte als zuvor. Sie durcheilten die Gänge und Gemächer. Ijada tastete sich mit den Händen die Wände entlang. Schließlich traten sie aus dem Bergfried heraus und umrundeten die Gebäude, die den Burghof säumten. In der Dunkelheit der Ställe, warm durch den Atem und die Leiber der Pferde, flüsterte Ijada: »Schau, da ist noch einer!«
Der blasse Dunst umkreiste sie beide wie in großer Aufregung und verwehte dann.
»War das …?«, hauchte Ijada.
»Ich glaube nicht. Es war ein einfacher Geist. Lass uns weitergehen.«
Als sie durch den Schnee über den keinen Innenhof schritten, murmelte Ingrey: »Ich bin zu spät. Ich hätte früher kommen sollen.«
Ijada griff nach seinem Unterarm und zupfte daran. »Fang jetzt nicht damit an. Du wusstest es nicht. Und selbst wenn du es gewusst hättest, konntest du deine Kräfte nicht so nutzen wie heute.«
»Aber es quält mich zu wissen, dass es vielleicht mal eine Zeit für die Rettung gab, und ich habe sie verstreichen lassen. Ich weiß kaum, ob ich mir selbst die Schuld geben soll, oder meinem Onkel, oder der Kirche, oder den Göttern …«
»Dann gib niemandem die Schuld. Meine Mutter und mein Vater sind beide zu früh gestorben. Ja, sie sind bei ihren Göttern eingegangen, was ein Trost für mich war, aber … nicht genug. Der Tod ist keine Darbietung, bei der wir uns beweisen müssen oder für die wir uns schämen sollten.«
Er drückte ihre Hand und beugte sich vor, um im Mondlicht ihr Haar zu küssen.
Sie stiegen die Stufen zu den Wällen empor und folgten dem Wehrgang bis zu den höchsten Zinnen, die sich über den Fluss erhoben. Dort hielten sie inne und blickten über das steile Tal des Birkbaches. Das Flusswasser kräuselte sich wie schwarze Seide zwischen dem metallischen Glanz des Eises an den Ufern. Das Licht des untergehenden Mondes lag als blauer Schimmer auf den verschneiten Böschungen, durchzogen vom kahlen Geäst, das wie die Striche einer Holzkohlezeichnung wirkte. Dazwischen erhoben sich Grüppchen schwarzer Tannen und markierten die Anhöhen, neben Stechpalmendickichten, die die Senken verbargen. Die kahlen Birkenstämme verschmolzen mit dem Hintergrund aus Schnee und Schatten und entzogen sich dem Blick.
Eine ganze Weile standen sie da und blickten über das Land. Ijada zitterte trotz ihrer wollenden Winterkleidung, und Ingrey legte die Arme um sie und spendete ihr Wärme. Sie lächelte ihm dankbar zu. Du gibst mir ebenso viel Wärme wie ich dir, Liebste …
Dieses Mal spürte Ingrey den Geist eher als Ijada, obwohl sie sofort merkte, wie er sich anspannte, und seinem Blick folgte. Wenige Schritte entfernt glitt ein nebelhafter Umriss durch das Mondlicht, dichter als die anderen, länglicher und fast so groß wie ein Mann. Im Innern ballte sich ein Schatten, wie Rauch, der von Nebel umhüllt wird.
Ingreys Arme verkrampften sich um Ijada; dann ließ er sie los. »Hol den Gelehrten Lewko. Schnell!«
Sie nickte und eilte davon.
Ingrey stand still da und wagte kaum zu atmen, damit die Erscheinung nicht verblasste oder entschwand wie die anderen. Sie schien einen Kopf zu haben und Füße, doch er konnte keine Gesichtszüge ausmachen. In seiner Phantasie versuchte er, das Antlitz seines Vaters darin zu sehen, stellte jedoch erschrocken fest, dass er sich nicht mehr genau erinnern konnte, wie Lord Ingalef ausgesehen hatte. Das Äußere seines Vaters hatte nie eine besondere Rolle für ihn gespielt. Es war seine unerschütterliche Präsenz gewesen, die er geschätzt hatte, und die kräftige Stimme, die in der Brust widerhallte, wenn er als Kind das Ohr daran gelegt hatte, und die Sicherheit vermittelt hatte.
Eine Illusion von Sicherheit. Nun werde ich vielleicht selbst Vater, und auch ich kann keine vollkommene Sicherheit geben. Es war immer nur eine Illusion. Werden meine eigenen Kinder mir vergeben, wenn sie das erkennen müssen?
Rasche Schritte knirschten auf dem Schnee, und heftige Atemzüge kündeten davon, dass Ijada mit dem Geistlichen zurückkehrte und die steilen Stufen zum Aussichtspunkt emporstieg. Oben angekommen verharrte Lewko und blickte an Ingrey vorbei auf den rauchgeschwängerten Geist. »Ingrey, ist das …?«
»Ich …«, setzte Ingrey an, ich glaube schon. Dann aber berichtigte er sich: »Ja. Ich bin mir sicher. Hochwürden, was soll ich tun? Ich hatte tausend Fragen, aber er besitzt keinen Mund mehr. Ich glaube nicht, dass er noch sprechen kann. Ich weiß nicht einmal, ob er mich versteht.«
»Damit habt Ihr wohl Recht. Die Zeit für Fragen und Antworten scheint verstrichen. Ihr könnt ihn nur läutern und befreien. Und das ist, wie es scheint, die Aufgabe eines Schamanen.«
»Und wenn er geläutert und befreit ist, wird der Wintervater ihn dann aufnehmen? Oder ist er dann verloren, jenseits aller Hoffnung? Gibt es kein Ritual, mit dem Ihr ihm helfen könnt?«
»Seine Bestattungszeremonie liegt schon sehr lange hinter ihm, Ingrey. Ihr könnt für ihn nur das tun, was in Eurer Macht liegt — ihn läutern. Ich kann beten. Aber wenn bereits zu viel Zeit verstrichen ist, wird nicht mehr genug von ihm übrig sein, um den Gott anzunehmen, und dann kann nicht einmal der Gott noch mehr vollbringen. Vielleicht könnt Ihr ihn nur noch von seinen Banden lösen.«
»Damit er dann spurlos vergehen kann?«
»Ja.«
»Wie Rossfluten.« Ingrey konnte Rossflutens Hass auf die Unumkehrbarkeit der Zeit nun besser verstehen.
»In gewisser Weise.«
»Wozu bin ich nutze, wenn ich viertausend fremde Seelen zu ihren Göttern schicken kann, aber nicht jene, die mir am meisten bedeutet?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ist das alles, was die Weisheit der Kirche dazu sagen kann?«
»Das ist alles, was ich dazu sagen kann, und die einzige Weisheit, die ich besitze.«
Waren die Lehren der Kirche dann nur eine Illusion, so wie die väterliche Geborgenheit? Und war das schon immer so gewesen? Wäre es dir lieber, wenn Lewko dir tröstliche Lügen erzählte? Ingrey konnte nicht in der Zeit zurückgehen und die Welt wieder so wahrnehmen wie ein Kind; er war sich nicht einmal sicher, ob er es tun würde, wenn er es könnte. Ijada legte ihm die Hand auf die Schulter und schenkte ihm Trost durch ihre Gegenwart. Einen Moment lang gab er sich dem Gefühl ihrer Wärme hin; dann berührte er ihre Hand, damit sie ihn losließ, und trat vor.
Aus einem Futteral am Gürtel zog er ein scharf geschliffenes, neues Federmesser hervor, das er für genau diesen Augenblick in Ostheim gekauft hatte. Die dünne Klinge blitzte im Mondlicht. Ijada und Ingrey bissen die Zähne zusammen, als er das Messer in die Linke nahm und die Schneide in den rechten Zeigefinger stieß. Er ballte die Faust und hob die Hand über den nebelhaften Schemen.
Die Tropfen glitten hindurch und zeichneten kleine, schwarze Punkte in den niedergetretenen Schnee.
Ingrey sog die Luft ein und umklammerte das Messer fester. Lewko erwischte ihn gerade noch rechtzeitig am Arm, bevor er sich noch tiefer in die Hand schnitt.
»Nein, Ingrey«, flüsterte der Geistliche. »Wenn ein Tropfen nicht als Segen reicht, wird auch ein ganzer Eimer nicht reichen.«
Ingrey atmete langsam aus, und Lewko ließ ihn los. Er verstaute das Messer wieder am Gürtel. Welche königliche Weihe auch in seinem Blut lebte — anscheinend besaß sie keine Macht über dieses Wesen. Ich musste es versuchen.
Mit einem letzten, langen Blick fragte er sich, was er sagen sollte. Lebe wohl erschien wie ein Hohn. Ruhe in Frieden war wenig besser. Er befeuchtete die Lippen in der eisigen, mondlichtdurchfluteten Luft.
»Was immer du zu tun glaubtest, diese Sache, die du hier begonnen hast, ist nun vollendet. Und sie ist gut getan. Dein Opfer war nicht vergebens.« Er dachte kurz daran, hinzuzufügen: Ich vergebe dir. Aber dann besann er sich eines Besseren. Es wäre albern gewesen — und inzwischen sinnlos. Nach kurzem Überlegen fügte er schlicht hinzu: »Ich liebe dich, Vater.« Und dann, nach einer weiteren kurzen Pause: »Komm.«
Der dunkle Wolfsrauch stieß aus dem blassen Nebel hervor und durch seine Finger und war verschwunden.
Dann, langsamer, löste sich auch der eisige Nebel auf und schwand mit einem letzten, schwachen bläulichen Funkeln.
»Der Gott hat ihn nicht aufgenommen«, flüsterte Ingrey.
»Das hätte Er, wenn es Ihm möglich gewesen wäre«, erwiderte Lewko ebenso leise. »Der Wintervater beweint diesen Verlust ebenfalls.«
Ingrey weinte nicht, noch nicht, auch wenn ein Zittern durch seinen Körper lief. Er fühlte, wie das zweite Gesicht von seinen Augen wich, wie die Gabe sich zurückzog. Ijada trat wieder zu ihm und wickelte einen sauberen Streifen Verband um seinen Finger. Sie legten die Arme umeinander.
»Nun …« Der Gelehrte Lewko schlug die heilige Geste über beiden. »Es ist vorüber.« Seine Stimme wurde sanfter. »Wollt Ihr nicht hineinkommen ins Warme, mein Herr, meine Dame?«
»Gleich«, seufzte Ingrey. »Der Monduntergang über dem Birkbach ist ein wenig Frösteln wert.«
»Wenn Ihr meint.« Lewko lächelte und verabschiedete sich mit einem Nicken. Er zog den Mantel straffer um sich und machte sich an den Abstieg die Treppen hinunter. Diesmal ging er vorsichtig auf den vereisten Stufen.
Ingrey trat hinter Ijada und legte das Kinn auf ihre Schulter. Sie beide blickten übers Tal.
»Ich weiß, das war es nicht, was du für Lord Ingalef erhofft hattest«, sagte Ijada nach einer Weile. »Es tut mir Leid.«
»Nun, es war besser als nichts … und sehr viel besser, als wenn ich niemals mehr über sein Schicksal erfahren hätte. Zumindest ist nun alles hier abgeschlossen. Ich kann weitergehen, ohne zurückzuschauen.«
»Das hier war das Heim deiner Kindheit.«
»Ja. Aber ich bin kein Kind mehr.« Er umarmte sie heftig und drückte ein kurzes Lachen aus ihr heraus. »Meine Heimat hat jetzt einen neuen Namen: Ijada. Dort will ich bleiben.«
Wieder lachte sie, und vor ihren Lippen schimmerte eine Dunstwolke im Mondlicht.
»Außerdem«, meinte er, »gehe ich davon aus, dass der Winter in Dachsbrücken milder ist als in Birkenhain, nicht wahr?«
»In den Tälern ja. Aber auf den Anhöhen gibt es genug Schnee, solltest du ihn jemals vermissen.«
»Ausgezeichnet.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Er wirkte nicht allzu gequält. Nun denn, ich habe mein eigenes Schicksal gesehen. Ich werde es nicht fürchten.«
Nachdenklich erwiderte Ijada: »Und auch mein Schicksal … und Faras, falls du uns nicht überlebst und unsere Seelen ebenfalls läutern kannst, wenn es so weit ist.«
»Ich weiß kaum, welche Reihenfolge ich schmerzlicher fände.« Er drehte sie um, bis sie ihn ansah, und blickte ihr voll Sorge in die Augen, die weit aufgerissen und dunkel waren, mit einem schwachen Bernsteinkranz im bläulichen Zwielicht »Ich muss darum beten, dass ich als Letzter gehe, trauernd und unbetrauert Ich weiß nicht, wie ich das ertragen soll.«
»Ingrey.« Sie legte ihm ihre kühlen Hände auf die Wangen und blickte ihm fest in die Augen. »Hättest du dir vor einem Jahr auch nur vorstellen, geschweige denn vorhersehen können, dass du heute hier stehst und das bist, was du bist?«
»Nein.«
»Ebenso wenig hätte ich es für mich selbst ausmalen können. Also sollten wir uns unserer Zukunft vielleicht nicht so sicher sein. Was wir nicht darüber wissen, ist viel mehr als das, was wir sagen können, und die Zukunft wird uns weiterhin überraschen.«
Seine Gedanken wanderten zurück zu jener Nacht in Ochsauen, wo er sich in einem Anfall tiefster Trostlosigkeit beinahe selbst die Kehle durchgeschnitten hätte. Er war sich immer noch nicht sicher, ob dies auf Rossflutens Einwirken zurückzuführen war oder auf ihn selbst. Ich hätte das alles hier vermisst. »Ich habe viertausend unerwartete Seelen getroffen, die dir da zugestimmt hätten, Bannerträgerin.«
»Dann schließe dich ihrer Stimme an.«
»Ah.« Allmählich fiel angesichts der wohligen Wärme, die sie ihm versprach, die düstere Stimmung von ihm ab.
»Es ist auch voreilig, wenn du dich als den letzten Schamanen siehst«, fügte sie hinzu. »Du kannst selbst noch zu deinen Lebzeiten weitere erhabene Tiere und Totemzauberer erschaffen.«
»Ich würde keinen anderen in diesen Zustand bringen, ehe ich mir nicht sicher bin, dass er daraus entkommen kann.«
»Allerdings. Meinst du, die Kirche muss die alte Waldmagie auf ewig ablehnen? Wenn sie auf andere Weise wiederkäme, an unsere neue Zeit angepasst …?«
»Das würde viel Nachdenken erfordern. Wir haben selbst erlebt, was für Probleme der alte Weg mit sich bringen kann.«
»Und doch verfügt die Kirche über ihre eigenen Zauberer, obwohl auch das nicht ohne Probleme verläuft. Denk nur an den bedauernswerten Cumril. Aber sie kommen gut genug damit zurecht, um es weiterhin zu wagen. Und wir kennen Geistliche, die sehr gut nachdenken können.«
»Hm.« Er runzelte die Stirn bei diesem hoffnungsvollen Gedanken.
»Und du bist überheblich, Wolfsherr.« Sie stieß ihn tadelnd an.
»Ach? Wie das, süßes Kätzchen?«
»Wie kannst du sagen, dass all die vielen, die erst noch geboren werden müssen, nicht um dich trauern werden? Es steht dir nicht zu, über ihre Herzen zu bestimmen.«
»Ist das eine Prophezeiung, verehrte Dame?«, fragte er beiläufig, doch während er sprach, überlief ihn ein Schauder, als hätte er eine Zauberstimme gehört.
Sie zuckte die Achseln. »Warum einigen wir uns nicht einfach darauf, dass wir unser Schicksal erdulden und es herausfinden?«
Ihre Lippen waren warm wie der nahende Sonnenaufgang, der den kalten Mond vertrieb. Sie rieb ihr Gesicht gegen das seine und seufzte wohlig. Dann aber meinte sie: »Du hast eine kalte Nase, Wölflein. Und so viele Haare hast du nicht, dass man es als Zeichen guter Gesundheit werten könnte. Wenn wir jemals Vorfahren werden wollen und nicht nur Abkömmlinge bleiben, sollten wir uns vielleicht in das Federbett zurückziehen, das dein Vetter uns versprochen hat.«
Er kicherte und ließ sie los. »Also gut, dann zu Bett, um der Nachwelt willen!«
»Dann kann ich auch meine Füße an deinem Rücken auftauen«, fügte sie hinzu.
Ingrey jaulte in gespieltem Entsetzen auf und wurde von ihrem bisher schönsten Lachen belohnt. Der Laut ließ ihm das Herz aufgehen wie ein Versprechen der Morgendämmerung in dieser längsten Nacht des Jahres.
Arm in Arm stiegen sie die verschneiten Treppen hinunter.