Kapitel Siebzehn

Auf halbem Weg zu Hetwars Palast holten ihn plötzlich die Nachwirkungen des Gesprächs ein. Ihm wurden die Knie weich. Ein niedriger Vorsprung an einer Hauswand entlang der Straße gab eine hinreichend geeignete Bank ab, und Ingrey ließ sich darauf niedersinken, stützte die Hände auf die Oberschenkel und lehnte den Rücken gegen den sonnengewärmten Stein. Er blinzelte und atmete tief gegen den Schwindel an.

Eine vorüberkommende Matrone hielt kurz inne und starrte ihn an, wie er dasaß, die Arme um sich selbst geschlungen, und hin- und herschaukelte. Doch angesichts seines Geschlechts, seines Alters und seiner Ausrüstung ging sie schließlich weiter, ohne den Mut zu finden, sich nach seinem Wohlergehen zu erkundigen. Irgendwann verebbte das Zittern in seinem Leib, und auch sein Verstand regte sich wieder.

Das ist alles die Wahrheit, Wenzels Geschichte. Bei den fünf Göttern.

Rossflutens Geschichte, berichtigte er sich. Wie viel von Wenzel noch in diesem schwächlichen und verwachsenen Körper steckte, war schwer festzustellen.

Der nächste Gedanke war ein Aufblitzen von Neid. Ewig zu leben! Wie konnte ein Mann nicht glücklich werden, wenn er doch so viele Gelegenheiten erhielt, frühere Fehler zu vermeiden und alles richtig zu machen? Wohlstand und Macht und Wissen anzuhäufen? Doch je länger er darüber nachdachte, umso mehr verblasste dieser Neid. Rossfluten hatte seine vielen Leben mit ebenso vielen Toden bezahlt, wie es schien, und der Zauber schützte ihn nicht vor den Schrecken, die damit einhergingen. Lebendig verbrannt zu werden, ist ein überaus qualvoller Tod. Ich kann nur davon abraten, hatte Wenzel einst bemerkt. Ingrey hatte es für einen Scherz gehalten, doch im Rückblick schien der Tonfall eher auf das Urteil eines Kenners hinzudeuten.

Machte die Gewissheit des eigenen Überlebens einen Mann in der Schlacht tapferer? Es war richtig, dass viele von Wenzels Vorfahren … nein, dass der Graf von Rossfluten viele Male einen nicht-friedlichen Tod gefunden hatte. Oder machte es noch mehr Angst, wenn man die Schmerzen des Todes schon kannte? Zwei der groteskeren Todesarten hatte Ingrey soeben nachgelebt, als er Körper und Geist mit Rossfluten geteilt hatte, und die bloße Erinnerung an diese Ereignisse drehte ihm den Magen um. Geisterhafte Vorstellungen von weiteren vergleichbaren Geschehnissen entfalteten sich vor ihm, wie das Bild eines Mannes, das zwischen zwei Spiegeln gefangen ist. Der Gedanke an diese endlosen Wiederholungen verursachte ihm zusätzliche Übelkeit.

Und dann erkannte er auch, was Rossfluten darüber hinaus für sein Weiterleben bezahlt hatte. Es war kein Bild, das der Graf ihm klar in den Geist gelegt hatte, und doch umspielte es verstohlen all die lebhaften Visionen und sickerte aus den Lücken dazwischen hervor: Ingrey hatte keine Kinder, hatte kaum je auch nur an die Möglichkeit gedacht, und doch weckte der Gedanke an einen Sohn Beschützergefühle in ihm. Vielleicht wurzelten diese im eigenen kindlichen Streben nach väterlicher Aufmerksamkeit und fanden Nahrung in seinen glücklicheren Erinnerungen an Lord Ingalef. Aber zumindest hatte Ingrey eine Vorstellung, was ein Vater sein sollte.

Wie musste es für Rossfluten gewesen sein, als er Sohn um Sohn heranwachsen sah und wusste, was für ein Schicksal jedem von ihnen bevorstand? Allein schon, sie in diesem Wissen zu zeugen? Warnte er sie vor dem, was sie befallen würde, wie er soeben Ingrey gewarnt hatte? Oder fiel er sie aus dem Hinterhalt an? Mal so, mal so? Und in welchem Alter? Was machte es für einen Unterschied — für Rossfluten, für seine Erben —, ob er ein verwirrtes Kind übernahm, einen verängstigten Jüngling oder einen empörten Verstand in voller Reife, mit einem Leben, persönlichen Entscheidungen, vielleicht einer Frau und eigenen Kindern? Was immer es da für Unterschiede gab, Rossfluten hatte genug Zeit gehabt, sie alle kennen zu lernen.

Und nicht nur Körper und Frauen. Was geschah mit den Seelen all dieser vom Zauber ergriffenen Söhne? In das Ganze eingebunden, verdaut, aber nicht vollständig vergangen. Wie es schien, nahm dieser Zauber nicht nur Leben, sondern auch die Ewigkeit. Er trug die geraubten Seelen in Bruchstücken zur nächsten Generation mit, ins nächste Jahrhundert, eine ungeordnet, verschmolzene Ansammlung. Hatte auch Rossfluten selbst ein besonders geliebtes Kind erschlagen, vor seinem vorausgeahnten Tod, um dessen Seele zu retten, bevor sie ins Grauen mit hineingezogen wurde?

Ja, auch das könnte geschehen sein. In vier Jahrhunderten, in denen Leben immer wieder gewaltsam beendet wurden, musste es Raum für jede Variation des Grundthemas gegeben haben.

Gefährlich, mächtig, magisch, unsterblich … und verrückt. Oder zumindest beinahe. Plötzlich sah er Wenzels spröde Wortgewandtheit in einem neuen Licht. Seine unverständlichen Handlungen, stets hin- und hergerissen zwischen plötzlichen Ausbrüchen tatkräftigen Tuns und unvermittelten Rückzugs verwirrten Ingrey noch immer, doch er versuchte nicht mehr, sie aus der Sicht eines gewöhnlichen Menschen zu erklären. Er durchschaute Wenzel noch immer nicht, aber zumindest erkannte er nun, wie sehr er ihn nicht verstanden hatte. Schaut auf die Seelen, Lord Ingrey, hatte Ijada gesagt. Allerdings.

Wie viele Wiederholungen brauchte es noch, bis Wenzel geistig vollkommen zerrüttet war? Während der Zauber seinen Fortgang nahm, mochte er auf einen unwissenden Betrachter immer mehr wie eine Familienkrankheit wirken, die einen Blutsverwandten nach dem anderen in jungen Jahren dem Schwachsinn verfallen ließ.

Nur noch eine Wiederholung, glaube ich. Der nächste Übergang würde anders sein, wenn Ingrey lang genug lebte, um Wenzel aufzunehmen. Dafür würde sein Wolf sorgen. Anders, aber nicht notwendigerweise gut.

Nein. Nicht gut.

Allmählich entwickelte sich dieser Tag zum schrecklichsten, den Ingrey je erlebt hatte, abgesehen vielleicht von dem, da er seinen Wolf empfangen hatte. Der Morgen hatte damit begonnen, dass er einem Gott in die Augen geschaut hatte, und am Abend endete er mit Wenzels Visionen. Ingrey wollte nichts anderes mehr als nach Hause, wollte Ijada umarmen und ihr die Neuigkeiten erzählen.

Und ich muss sie vor meiner drohenden Umformung warnen. Es war über alle Maßen verstörend, jetzt von jenem furchtbaren Erbe zu hören, das all die Jahre lang drohend über seinem Haupt geschwebt hatte. Und er war die ganze Zeit ahnungslos gewesen! Es lag allein in Wenzels Hand, wann er Ingreys Körper übernahm. Der Graf hätte sich jederzeit ein Messer an die Kehle setzen und die übernatürliche Verwandlung nach Belieben herbeiführen können. Obwohl … Ijada war vermutlich die Einzige im Weald, die die Verfälschung seiner Seele sogleich wahrnehmen würde. Wahrnehmen, aber nicht unbedingt verstehen. Und Wenzels Lügen, wenn sie mit Ingreys Stimme aus Ingreys Mund kamen, wären gewiss geübt und überzeugend.

Er kämpfte sich auf die Füße und machte sich erneut auf den Weg, wobei er sich alle Mühe gab, nicht wie ein Betrunkener zu wanken. Die Bewegung half ihm, seinen aufgewühlten Magen ein wenig zu beruhigen. Schließlich fand er sich vor der gelben Steinfassade von Hetwars Palast wieder, der während der letzten vier Jahre eine Art Zuhause für ihn gewesen war, und er erinnerte sich an seinen ersten, panikerfüllten Drang, sogleich zu seinem Schutzherrn zu laufen. Er hatte keine Ahnung, was er Hetwar jetzt über Rossfluten erzählen wollte. Aber der Siegelbewahrer hatte Ingrey zuvor angewiesen, ihn aufzusuchen. Zumindest sollte er feststellen, ob neue Befehle für ihn vorlagen. Er bog an der Tür ab.

Der Pförtner warnte ihn: »Mein Herr ist in Beratung.«

Beinahe hätte Ingrey wieder kehrtgemacht, besann sich jedoch eines Besseren: »Dann lasst ihn wissen, dass ich warte, und fragt ihn, ob er etwas von mir wünscht.«

Der Pförtner schickte einen Pagen aus, der gleich darauf zurückkehrte. »Mein Herr bittet Euch, ihn in seinem Arbeitszimmer aufzusuchen, Lord Ingrey.«

Ingrey nickte. Er stieg die breiten Treppen hinauf und bog in den vertrauten Flur ein. Dort wich er einem Diener aus, der soeben in der anbrechenden Dämmerung die Wandleuchter entzündete. Auf ein Klopfen an der Zimmertür antwortete Hetwars Stimme: »Herein.«

Er drückte die Klinke herunter, schlüpfte in den Raum — und musste sich zurückhalten, um nicht gegen die geschlossene Tür zurückzuweichen: Um Hetwars Schreibpult herum standen Fürstmarschall Biast, der Gelehrte Lewko und der Erzprälat und geistliche Kurfürst von Ostheim selbst, Fritine von Keilerstritt. Gesca stand an der Wand, in der angespannten Haltung eines Mannes, der seinen Vorgesetzten heikle Berichte zu überbringen hat. Aller Augen richteten sich auf Ingrey.

»Gut«, stellte Hetwar fest. »Gerade haben wir über Euch gesprochen, Ingrey. Habt Ihr Euch von Eurer Unpässlichkeit am Morgen erholt?« Sein Tonfall war ironisch.

Nachdem er in Gedanken rasch alle möglichen Antworten durchgegangen war, kam Ingrey zu dem Schluss, dass diese Frage nicht zu beantworten war. Er nickte nur knapp und musterte die unwillkommene Zuhörerschaft.

Der Erzprälat Fritine war ein Onkel der amtierenden gräflichen Zwillinge, ein Spross der letzten Generation der Keilerstritts, der in den Dienst der Kirche getreten war, nachdem zu viele ältere Brüder es unwahrscheinlich hatten werden lassen, dass er auf dem Besitz seiner Familie noch eine bedeutsame Stellung erreichen konnte. Hinter ihm lag der lange und typische Werdegang eines Priesters von edler Abstammung, was nicht hieß, dass er von unehrenhaften Wendungen überschattet gewesen wäre. Wenn er seine eigene Sippe bevorzugte, so achtete er doch darauf, dass diese im gleichen Maße der Kirche Vergünstigungen zukommen ließ. Seine Ernennung in Ostheim, verbunden mit der Stimme bei der Königswahl, lag bereits sieben Jahre zurück und war die Krönung seiner Laufbahn. Und das Ergebnis dieser Vergünstigungen.

Nach Ingreys Empfinden kamen Fritine und Hetwar hinreichend gut miteinander aus. Beide waren praktisch denkende Männer, und unter ihrer Führung arbeiteten die Tempelstadt und die Königsstadt öfter mit- als gegeneinander — öfter, aber nicht immer. Im Augenblick gab es zwischen den beiden eine gewisse Spannung angesichts der bevorstehenden Wahlen, da Hetwar Fritines Stimme zu den unsicheren zählte. Über die Linie seiner Mutter war der Erzprälat sowohl den Falkenmoors verbunden wie auch den Fuchsholzens. Und Fritine hatte bisher die vermittelnde Rolle der Kirche gern als Vorwand genommen, um sich in seiner Stimme nicht festlegen zu lassen.

Ingrey war sich nie so sicher gewesen, in welchem Umfang der Erzprälat seinen Wolf tolerierte. Es war sein Amtsvorgänger gewesen, der den Dispens erteilt hatte, eine Urkunde, die Ingrey während des letzten Jahrzehnts gut verwahrt hatte, selbst nachdem alles andere Eigentum verloren gegangen war. Zurzeit lag dieser Dispens sicher verschlossen in seinem Gemach in eben diesem Palast. Ingrey wusste nicht, ob Fritines Abneigung gegen das Übernatürliche persönliche oder rein theologische Ursachen hatte, jedenfalls schien er dem Reiz des Mystischen ebenso gleichgültig gegenüberzustehen wie Hetwar. Was hält er dann von Lewko, frage ich mich?

Der kaute im Augenblick auf den Knöcheln und starrte Ingrey wie gebannt an — mit einem Ausdruck, den Ingrey als höchst beunruhigend empfand. Ingrey bedachte ihn mit einem höflichen Nicken und wartete darauf, dass jemand anders das Wort ergriff. Hauptsache nicht ich. Fünf Götter, mein Verstand ist im Augenblick einer solchen Gesellschaft nicht gewachsen!

Der Erzprälat stürzte sich sogleich aufs Thema: »Der Gelehrte Lewko berichtete uns von Eurer Behauptung, dass Ihr heute Morgen im Tempelhof ein Wunder miterlebt habt.«

Ingrey fragte sich, wie Fritine wohl reagieren würde, wenn er nun erwiderte: Nein, ich habe ein Wunder gewährt. Ich wollte es gar nicht, aber der Gott hat so freundlich darum gebeten. Stattdessen sagte er nur: »Es ist nichts, das vor Gericht Bestand hätte, Eminenz. So ließ man mich zumindest wissen.«

Lewko bewegte sich unruhig unter seinem gleichmütigen Blick.

»Ich war dabei«, stellte der Erzprälat kühl fest.

»Das wart Ihr.«

»Ich habe überhaupt nichts gesehen.« Man musste Fritine zugute halten, dass sein Blick zwar Sorge und Zweifel ausdrückte, die Sorge allerdings die Oberhand zu haben schien.

Ingrey neigte das Haupt in einer angemessen aufreizenden Geste äußerster Neutralität. Fein, sollten sie zuerst ihre Gedanken offenlegen.

Hoffnungsvoll warf Fürstmarschall Biast ein: »Man könnte anführen, dass die Annahme von Bolesos Seele durch den Herbstsohn ein guter Beleg gegen die Anschuldigung ist, er habe sich mit Tiergeistern eingelassen.«

»Man kann anführen, was einem beliebt«, pflichtete Ingrey freundlich bei. »Und solange der Augenzeuge Cumril morgen früh mit dem Gesicht nach unten im Storchenfluss treibt, wird niemand widersprechen. Ganz bestimmt nicht ich.«

Der Erzprälat zuckte zusammen und wirkte erzürnt über diese Worte, die man durchaus als verhüllte Anschuldigung verstehen konnte. Oder auch als Vorschlag. Oder als Drohung. Oder Gegendrohung. Ingrey vertraute darauf, dass niemand dies mit Gewissheit sagen konnte. Wieder blitzten Lewkos Augen vor Neugier.

»Das wird nicht geschehen«, sagte der Erzprälat. »Cumril ist in sicherem Gewahrsam. Der Gerechtigkeit wird Genüge getan.«

»Gut. Wie auch immer Bolesos Seele gerettet wurde, sein Charakter wird bekommen, was er verdient.«

Biast zuckte zusammen.

Hetwar ergriff entschlossen das Wort: »Nun erzählt mir doch, Lord Ingrey: Zu welchem Zeitpunkt habt Ihr herausgefunden, dass Lady Ijada ebenfalls von einem Tiergeist befallen wurde?« Aha, sie hatten Ingreys Geschichten also untereinander verglichen. Daran war nun nichts mehr zu ändern. »Am ersten Tag nach unserer Abreise von Burg Keilerkopf.«

Mit seiner üblichen, täuschenden Ruhe fragte Hetwar: »Und Ihr habt diesen Umstand mir gegenüber nicht für erwähnenswert gehalten?«

Gesca, der an der gegenüberliegenden Wand stand und sich die größte Mühe gab, nicht wahrgenommen zu werden, duckte sich noch tiefer zusammen. Und an wen habt Ihr Eure Berichte aufgesetzt, Gesca, wenn nicht an Hetwar? Vermutlich an Rossfluten, wenn man bedachte, wie passend der Graf plötzlich unterwegs aufgetaucht war. Und wenn dem so war — bestand diese Verbindung weiterhin?

»Ich habe den Vorfall bei erster Gelegenheit einer Vertreterin der Kirche gemeldet, und zwar der Gelehrten Hallana«, antwortete Ingrey. »Die wiederum schickte mich zu dem Gelehrten Lewko.« Sozusagen. »Ich habe des Weiteren dessen Anleitung abgewartet, da es sich offensichtlich um eine geistliche Angelegenheit handelt. Leider verzögerte sich der Vorgang weiterhin durch die von dem Eisbären ausgelöste Krise. Als wir heute Nachmittag wieder Gelegenheit zur Aussprache erhielten, geriet das Thema infolge anderer Sachverhalte in den Hintergrund.« Andere Sachverhalte? Oder derselbe Sachverhalt aus einer anderen Perspektive? Wer außer den Göttern konnte um alle Ecken gleichzeitig sehen. Das war ein beunruhigender neuer Gedanke. Nun, warum nicht die ganze Schuld auf den Heiligen schieben — der Ingreys Ausweichmanöver mit einer gewissen sarkastischen Anerkennung verfolgte —, und dann abwarten, wer in dem Raum es wagte, dem einen Vorwurf zu machen.

Hetwar jedenfalls nicht, denn er blickte finster drein und wechselte das Thema. »So sieht es aus. Wir werden uns mit dem Mädchen zu gegebener Zeit befassen. Doch im Augenblick ist uns eine dringlichere Anschuldigung zu Ohren gekommen: Was sagt Ihr zu Cumrils Behauptung, dass auch Wenzel von Rossfluten einen Tiergeist in sich trägt?«

Ingrey holte tief Luft. »Dass eine solche schwerwiegende Anklage gewiss eine gründliche Untersuchung der Kirche erfordert.«

»Und was würde bei dieser Untersuchung herauskommen?«

Wie weit reichten Wenzels Kräfte der Verschleierung? Weiter jedenfalls als die von Ingrey, so viel war sicher. »Das würde vermutlich von den Fähigkeiten der Personen abhängen, die diese Untersuchung vornehmen.«

»Ingrey.« Hetwars warnender Tonfall ließ diesmal sowohl Gesca wie auch Biast zusammenzucken. Doch Ingrey blieb reglos. »Der Mann ist Kurgraf, und wir stehen unmittelbar vor einer Wahl. Ich dachte, er wäre ein treuer Befürworter des rechtmäßigen Erben.«

Er nickte in Biasts Richtung, der diese Geste dankbar erwiderte. Fritine blinzelte und schwieg.

Hetwar fuhr fort: »Wenn das nicht der Fall sein sollte, muss ich es wissen! Ich kann es mir nicht leisten, durch eine unzeitige Festnahme seine Unterstützung zu verlieren.«

»Nun«, stellte Ingrey höflich fest. »Da gibt es doch eine einfache Lösung: Ihr wartet einfach, bis Ihr seine Stimme bekommen habt, und wendet Euch dann erst gegen ihn.«

Biast machte ein Gesicht, als hätte er soeben einen Wurm verschluckt. Hetwar sah einen Moment lang so aus, als würde er diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung ziehen. Fritine stellte eine ausdruckslose Miene zur Schau, und Ingrey fragte sich ein weiteres Mal, wem der Erzprälat wohl seine Stimme versprochen hatte.

War soeben Cumrils Aussicht auf ein Bad im Storchenfluss wieder gestiegen? Kümmert mich das? Ingrey seufzte. Möglicherweise schon. Missmutig stellte er fest, dass es in diesem Raum nicht eine Person gab, der er genug vertraute, um seine neuesten Entdeckungen über Rossfluten mit ihr zu teilen. Ich brauche Ijada.

Ingrey verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Ich bin am Zug. »Eure Eminenz. Ihr seid sowohl Theologe wie auch Kurfürst. Wenn es überhaupt jemand wissen kann, dann Ihr. Könnt Ihr mir den genauen theologischen Unterschied zwischen der geheiligten Königswürde des Alten Weald und ihrer erneuerten Form nach der quintarischen Orthodoxie erläutern?«

Hetwar starrte ihn an. Wie, bei den fünf Göttern, kommst du jetzt auf diese Frage!, sagte sein Blick. Doch er lehnte sich im Stuhl zurück und bedeutete dem Erzprälaten, Ingrey zu antworten. Er war offenbar ebenfalls neugierig, wohin diese Antwort sie führen würde.

Fritine klopfte mit den Fingern auf die Armlehne. »Der frühere Geheiligte König wurde von den Oberhäuptern der dreizehn mächtigsten alten Sippen gewählt, der neue Geheiligte König von acht großen Häusern und fünf geistlichen Kurfürsten. Dem Erbrecht und der Primogenitur wird eine größere Bedeutung eingeräumt als früher«, er warf Biast einen Blick zu, »den darthacischen Gepflogenheiten entsprechend. Da die Wahl eines Geheiligten Königs in der Vergangenheit mehr als einmal nur das Vorspiel zu einem Stammeskrieg war, scheint allein schon der heute eher friedliche Machtübergang ein Zeichen des göttlichen Segens zu sein.« Ein weiteres Nicken in Biasts Richtung schien anzudeuten: Und dabei sollten wir es auch belassen.

»Ich hatte nicht nach einer politischen Antwort gefragt«, wandte Ingrey ein. »War der frühere Geheiligte König stets ein Totemkrieger oder … oder ein Schamane?« Und wie gefährlich war es, letzteren Ausdruck in dieser Gesellschaft zu verwenden?

Mit wachsendem Interesse setzte Lewko sich auf. »Ich habe schon etwas darüber gehört. Der frühere Geheiligte König stand im Mittelpunkt verschiedener stammesübergreifender Rituale. Womöglich war er eher magisch als heilig, wenn man es genau betrachtet.«

Ingrey versuchte, sich irgendeinen der Geheiligten Könige der jüngeren Vergangenheit als magisch vorzustellen, und schaffte es nicht. Und als heilig genauso wenig, wenn man es genau betrachtet. »Ist also diese … übernatürliche Macht der Königswürde gänzlich verloren gegangen?«

»Ja?«, sagte Lewko.

Ingrey war sich nicht so sicher, ob die Betonung Einverständnis oder Ermutigung ausdrücken sollte. »Was ist also noch übrig? Was macht den Geheiligten König heute noch heilig?«

Der Erzbischof blickte indigniert. »Der Segen der fünf Götter.«

»Mit Verlaub, Eminenz, aber ich empfange den Segen der fünf Götter bei jedem Gottesdienst. Aber das macht mich nicht zum Heiligen.«

»Allerdings«, murmelte Hetwar fast unhörbar.

Ingrey beachtete ihn nicht und drängte weiter: »Beinhaltet dieser königliche Segen mehr als fromme Wünsche?«

Würdevoll erklärte der Erzprälat: »Es gibt Gebete. Die fünf geistlichen Kurfürsten beten darum, dass ihre Stimmabgabe von göttlicher Inspiration getragen wird; alle bitten ihre Götter um ein Zeichen.«

Ingrey befand, dass er selbst schon eine ganze Hand voll dieser Zeichen übermittelt hatte. Und doch fühlte er sich nicht wie ein Bote der Götter. »Was sonst? Was ändert sich noch? Da muss noch etwas sein.« Die leichte Anspannung in seiner Stimme verriet zu große Dringlichkeit, und er schluckte, um sie wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Fünf alte Sippen fehlten nun, so viel war klar. Drei von ihnen waren ausgelöscht, zwei weitere in die Bedeutungslosigkeit abgesunken. Die fünf Vertreter der Kirche ersetzten sie nahtlos, und wer mochte behaupten, dass sie weniger rechtmäßige Vertreter ihres Volkes waren? Und doch hatte die Wahl aus Rossfluten einst einen Zauberkönig gemacht, ihn zu etwas Außergewöhnlichem werden lassen. War etwa die gegenwärtige Königswürde deshalb zum Teil entleert, weil Rossfluten in seinem endlos verlängerten Leben etwas davon zurückhielt?

Biast war die ganze Zeit unruhig auf seinem Stuhl umhergerutscht. Nun warf er ein: »Wenn die Beschuldigungen gegen Wenzel der Wahrheit entsprechen, fürchte ich um die Sicherheit meiner Schwester!«

Ingrey hegte wenig Zuneigung zu Fara, nach allem, was sie Ijada angetan hatte. Doch wenn er daran dachte, was für Mutmaßungen er in Bezug auf das Schicksal von Rossflutens letzter Ehefrau-Mutter hegte, musste er sich diesen Befürchtungen anschließen. »Ich halte Eure Sorgen für gerechtfertigt, Herr.«

Bei dieser Bestätigung setzte Hetwar sich auf.

»Was mich noch an etwas erinnert, Lord Hetwar«, fügte Ingrey hinzu. »Der Graf von Rossfluten hat kürzlich angedeutet, dass er mich gerne in seinen Diensten sehen würde. Ich bitte Euch, Herr: Wenn er deswegen anfragt, so sagt ihm, dass Ihr mich nicht freigeben wollt. Ich habe Angst, ihm seinen Wunsch rundweg abzuschlagen, denn ich will mir nicht seine Feindschaft zuziehen.«

Hetwar kniff nachdenklich die Brauen zusammen. Der Erzprälat riss die Augen auf und sagte: »Zwei von Tiergeistern heimgesuchte Männer in ein und demselben Haus? Was bezweckt Wenzel damit?«

»Bisher stützt Ihr Euch nur auf eine Annahme, Eminenz«, hob Ingrey hervor. »Der Graf wurde beschuldigt, aber er ist nicht überführt.«

Fritine drehte sich auf seinem Stuhl herum. »Lewko …?«

Lewko breitete die Hände aus. »Ich müsste ihn mir näher ansehen. Und selbst dann bräuchte ich die Hilfe meines Gottes, die ich nicht erzwingen kann.«

Missmutig wandte Fritine sich wieder an Ingrey. »Es wäre mir lieber, wenn Ihr ein wenig offener sprechen würdet, Lord Ingrey.«

Ingrey zuckte die Achseln. »Überlegt Euch, was Ihr verlangt, Eminenz. Wenn Ihr meine Aussage über das Unsichtbare und das Übernatürliche anhören wollt, so könnt Ihr Euch nicht das Genehme aussuchen und den Rest vergessen. Ihr müsst alles akzeptieren, oder gar nichts. Und ich bezweifle, dass Ihr bereit seid, mich als eine Art Boten der Götter zu akzeptieren, der Euch ihre Befehle übermittelt.«

Während Fritine noch darüber nachgrübelte, was für Schlussfolgerungen sich aus dieser Bemerkung ziehen ließen, fuhr Ingrey schon fort: »Was Wenzel betrifft — er gibt vor, sich wieder an unsere Verwandtschaft erinnert zu haben. Spät genug.« Nun, in gewisser Hinsicht entsprach das durchaus der Wahrheit.

Biast sagte entrüstet: »Ihr würdet meine Schwester schutzlos in einem Haus zurücklassen, wohin Ihr selbst nicht zu gehen wagt?« Er runzelte die Stirn und fügte ruhiger hinzu: »Ihr seid Lord Hetwar treu ergeben, nicht wahr?«

Er hat mich nie hintergangen. Bisher. Ingrey antwortete mit einer knappen, vieldeutigen Verbeugung.

Biast fuhr fort: »Aber wenn die Anschuldigungen der Wahrheit entsprechen, wer könnte die Prinzessin besser vor einem … einem unnatürlichen Übergriff ihres Ehemannes beschützen oder sie von dort wegbringen, wenn es jemals nötig sein sollte? Und Ihr könnt auch die Augen offen halten, aufklären, Bericht erstatten …«

»Spionieren?«, fragte Fritine interessiert, »Könnte er das? Was meint Ihr, Hetwar?«

Ingrey warf einen empörten Blick in die Runde. »Soll ich etwa einen falschen Treueid ablegen?«

»Ingrey, hört auf!«, rief Hetwar zornig. »Hier ist weder der Ort noch der Anlass für Euren Friedhofshumor.«

»Das war Humor?«, murmelte Biast.

»Jedenfalls das, was er dafür hält.«

»Mich überrascht, wie Ihr das aushaltet.«

»Wie sich herausgestellt hat, hat sein provozierendes Auftreten auch Vorteile. Von Zeit zu Zeit jedenfalls. Er folgt seinen eigenen, verqueren Pfaden und bringt Beute zurück, die kein vernünftiger Mann dort auch nur vermutet hätte. Ich war mir nie ganz sicher, ob das eine Gabe ist oder ein Fluch.« Hetwar lehnte sich wieder zurück und musterte Ingrey scharf. »Könnt Ihr das?«

Ingrey zögerte. Es würde nur das, was er ohnehin die ganze Zeit halb unbewusst getan hatte, zu einem offiziellen Auftrag machen: Beide Seiten gegeneinander ausspielen und verzweifelt jedes Bruchstück aufsammeln, in der Hoffnung, dass sich irgendwann ein Muster daraus ergab. Und dabei die eigene Meinung für sich behalten.

Er konnte es ablehnen. Er konnte es.

»Ich muss gestehen«, räumte er stattdessen widerstrebend ein, »dass ich selbst gern mehr über Wenzel herausfinden würde.« An Biast gewandt fügte er hinzu: »Und warum glaubt Ihr so plötzlich, dass Eure Schwester jetzt in Gefahr ist, und nicht während der vier Jahre davor?«

Biast wirkte betreten. »Während der letzten vier Jahre habe ich nicht allzu sehr auf sie geachtet. Wir haben uns nach ihrer Hochzeit nur einmal getroffen und uns selten geschrieben. Ich bin davon ausgegangen, dass mein Vater sie gut verheiratet hätte und sie dabei zufrieden wäre. Ich hatte meine eigenen Pflichten. Erst als sie gestern mit mir gesprochen hat — nun, als ich ihr Vorhaltungen gemacht habe —, hat sie mir gestanden, wie unglücklich sie in Wahrheit ist.«

»Was hat sie Euch gesagt?«, fragte Hetwar.

»Sie hatte nie gewollt, dass aus den … äh, Geschehnissen auf Burg Keilerkopf ein solches Unglück entsteht. Sie hatte Boleso für ein wenig zu wild gehalten, aber darauf gehofft, dass er und … äh, Lady Ijada sich im Laufe der Zeit aneinander gewöhnen können. Dass das Mädchen ihn beruhigen würde. Fara leidet sehr darunter, dass sie keine Kinder bekommen hat, auch wenn ich sagen muss, dass ich das nicht unbedingt für ihre Schuld halte. Sie hatte befürchtet, dass ihr Gemahl ein Auge auf die neue Zofe geworfen hätte. Immerhin war er es, der sie in Faras Haushalt gebracht hat.«

Das ist etwas Neues, stellte Ingrey fest. Ijada war davon ausgegangen, dass dieses Angebot auf das Engagement ihrer Dachswall-Tante zurückzuführen war. Aber wer hatte diese Tante überhaupt darauf gebracht? Hatte Wenzel vielleicht tatsächlich an einen neuen Erben gedacht, den er zwischen sich und Ingrey setzen konnte? Oder waren seine Gründe, Ijada an seinen Haushalt zu binden, von ganz anderer Natur? Ganz anderer Natur, möchte ich wetten. Er würde nicht grundlos so etwas in die Wege leiten, doch seine Motive sind nicht die gewöhnlicher Menschen.

»Lady Ijada behauptet, der Graf wäre ihr nie zu nahe getreten«, merkte Ingrey an. »Allerdings kann ich Euch versichern, dass sie naiv genug ist, es gar nicht zu bemerken, wenn ein solcher Annäherungsversuch nicht sehr direkt daherkäme. Und Wenzel ist kein sehr direkter Mensch. Ich schreibe Fara einen großen Teil der Verantwortung zu für alles, was geschehen ist.

Allerdings muss ich zugeben, dass Boleso auch allein schon weit vom rechten Pfad abgekommen ist, und je früher er aufgehalten wurde, umso besser war es vermutlich.« Hetwars funkelnder Blick erinnerte ihn an die gebotene Höflichkeit, und er fügte für Bolesos hinterbliebenen Bruder hinzu: »Bitte verzeiht meine Offenheit.«

Der Fürstmarschall stieß ein unglückliches Hm aus, doch es klang nicht wie ein Widerspruch.

Der Erzprälat räusperte sich. »Ich möchte anmerken, Lord Ingrey, dass nach Eurer Aussage dem Gelehrten Lewko gegenüber — und wegen verschiedener anderer Hinweise — der Eindruck entsteht, dass Euer Wolfsgeist nicht länger gebunden ist. Damit verstoßt Ihr gegen Euren Dispens.«

Ingrey kam zu dem Schluss, dass sein höflicher Tonfall nicht so sehr eine Drohung zum Ausdruck brachte, oder persönliche Furcht, als vielmehr Druck ausüben sollte. Nun. Damit verstand er umzugehen.

»Es war nicht mein Wille, dass das geschah, Eminenz.« Diese Behauptung konnte er sicher wagen, da sie sich nicht nachprüfen ließ. »Es war ein Unfall, der sich ereignete, als die Gelehrte Hallana den Bann von mir nahm. Also ist in gewisser Hinsicht die Kirche dafür verantwortlich.« Ja, warum nicht den Abwesenden die Schuld zuschieben … »Und auch wenn ich nicht sagen kann, dass es der Wille der Götter war, so waren doch gleich zwei Götter nur allzu schnell zur Stelle, um von diesem Umstand Gebrauch zu machen.« War Fritine zusammengezuckt? Ingrey holte Luft. »Und jetzt wollt Ihr ebenfalls davon Gebrauch machen und mich zum Schutz von Prinzessin Fara einsetzen. Das scheint mir doch eine sehr bedeutsame Aufgabe zu sein für einen Mann, dem Ihr nicht vertraut. Oder wollt Ihr etwa erst von meinen Fähigkeiten Gebrauch machen und Euch dann später gegen mich wenden? Dann muss ich Euch warnen: Ich kann schwimmen.«

Fritine dachte eine ganze Weile über diesen Köder nach und wich ihm schließlich gewandt aus: »Dann geziemt es sich wohl für Euch, dass Ihr Euch weiterhin nützlich macht, nicht wahr?«

»Ich verstehe.« Ingrey bedachte ihn mit einer etwas zu schwungvollen Verbeugung. »Wie es scheint, stehe ich Euch zu Diensten, Eminenz.«

Bei diesem unverhohlenen Schlagabtausch rutschte Hetwar ein wenig unruhig auf seinem Sitz umher. Es war nicht so, dass er selbst Drohungen gegenüber abgeneigt war, aber er hatte bisher stets elegantere Wege gefunden, um sich Ingrey gefügig zu machen. Eine Höflichkeit, die Ingrey zumindest um ihres Stils willen zu schätzen wusste.

»Nachdem Ihr es so zwingend dargelegt habt«, fuhr Ingrey fort und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Hetwar das Gesicht verzog, »werde ich mich wohl bereit finden, Euch als Spion zu dienen. Und der Prinzessin als Leibwächter.« Er bedachte Biast mit einem höflichen Nicken, und der Prinz zumindest war geistesgegenwärtig genug, es zu erwidern.

»Und das wirft die Frage nach dem Verbleib der Gefangenen auf«, sagte Hetwar. »Wenn Wenzel unter Verdacht steht, so auch seine Großzügigkeit bei der Unterbringung von Lady Ijada. Es mag an der Zeit sein, sie an einen sichereren Ort zu verlegen.«

Ingrey erstarrte. Würde man Ijada nun seiner Aufsicht entreißen? Behutsam fragte er: »Würde das unser Misstrauen gegen Wenzel nicht vorzeitig aufdecken?«

»Keinesfalls«, widersprach der Erzprälat. »Eine solche Veränderung war nach der Bestattung absehbar.«

»Mir scheint, als wäre ihre gegenwärtige Unterbringung angemessen«, wandte Ingrey ein. »Sie macht keine Anstalten zu fliehen und vertraut auf die Gerechtigkeit der Kirche. Ich erwähnte bereits, dass sie naiv ist«, fügte er noch als kleinen Stich gegen Fritine hinzu.

»Ja, aber Ihr könnt nicht an zwei Orten gleichzeitig aufpassen«, führte Biast folgerichtig an.

Angesichts der wachsenden Anspannung in Ingreys Haltung, griff Hetwar schließlich ein und hob in einer beschwichtigenden Geste die Hand. »Darüber können wir später noch reden. Ich danke Euch, dass Ihr Euch bereit gefunden habt, uns in dieser schwierigen Angelegenheit zu helfen, Lord Ingrey. Was glaubt Ihr, wann Ihr in Rossflutens Haushalt überwechseln könnt?«

»Heute Abend?«, sagte Biast.

Nein! Ich muss erst noch Ijada treffen! »Ich fürchte, es würde sehr seltsam wirken, wenn ich dort schon erscheinen würde, bevor er bei Euch um meine Dienste nachgesucht hat, Lord Hetwar. Und Ihr solltet Euch auch nicht zu bereitwillig überreden lassen. Außerdem muss ich dringend etwas essen und schlafen.« Zumindest Letzteres entsprach der Wahrheit.

»Ich würde meine Schwester lieber jetzt schon beschützt sehen«, stellte Biast fest.

»Dann könnt Ihr vielleicht selbst noch einen Besuch bei ihr einrichten.«

»Ich habe keine übernatürlichen Kräfte, die ich gegen Wenzel zu Felde führen könnte!«

Also glaubt Ihr allmählich, dass Ihr mich doch noch unverbrannt benötigt? Gut. »Gibt es denn keinen Tempelzauberer, denn man zwischenzeitlich zu ihrem Schutz abstellen könnte?«

»Alle, die ich für geeignet halten würde, sind derzeit in anderen Aufgaben unterwegs«, erklärte Lewko. »Ich werde baldmöglichst den dringenden Befehl für ihre Rückkehr aussenden.« Fritine nickte zu diesen Worten.

»Beruhigt Euch, Hoheit«, sagte Hetwar zu Biast, der schon wieder den Mund öffnete. »Ich glaube, heute Abend können wir nichts Sinnvolles mehr tun.« Mit einem müden Ächzen stemmte er sich an seinem Schreibpult hoch. »Ingrey, kommt mit mir nach draußen.«

Ingrey entschuldigte sich bei den noch dasitzenden Großen und verabschiedete sich mit einer kleinen Verbeugung von Gesca, nur um ihn ein wenig einzuschüchtern. Wenn Gesca tatsächlich Rossflutens Spion war, wie würde Wenzel dann auf diesen Bericht reagieren? Obwohl der Graf Cumrils Beschuldigung gewiss erwartet hatte. Zumindest konnte Gesca bestätigen, dass nicht Ingrey diesen Verdacht aufgebracht hatte. Ja. Diesmal sollte ich Gesca noch laufen lassen, seiner Duftmarke folgen und nachsehen, ob sie wirklich dorthin führt, wo ich vermute.

Ingrey folgte Hetwar durch den dämmrigen, mit Teppich ausgelegten Korridor bis außer Hörweite der geschlossenen Tür zum Arbeitszimmer. »Herr?«

Hetwar wandte sich ihm zu, unmittelbar unter einem Wandleuchter. Der Kerzenschein umriss seine besorgten Gesichtszüge. »Bis heute war ich überzeugt, dass Wenzels offensichtliches Interesse an der bevorstehenden Wahl dem Wohl seines Schwagers dienen sollte. Er genoss mein höchstes Vertrauen. Jetzt aber frage ich mich, ob er nicht wie Boleso von sehr viel näher liegenden Wünschen angetrieben wurde.«

»Hat er in letzter Zeit noch weitere eigenartige Schritte unternommen, von seinem seltsamen Interesse an Ijada abgesehen?«

»Sagen wir lieber, eigenartige Schritte in früherer Zeit, die jetzt in einem neuen Licht erscheinen.« Hetwar rieb sich die Stirn und schloss kurz die Augen. »Während Ihr auf Fara aufpasst, dann achtet bitte auch auf jeden Hinweis auf ein ungesundes persönliches Interesse Wenzels an der nächsten Königswürde.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Wenzel nicht an bloßer politischer Macht interessiert ist«, sagte Ingrey.

»Diese Äußerung beruhigt mich nicht allzu sehr, Ingrey. Vor allem dann nicht, wenn ein gewisser Wolfsherr die Worte Königswürde und Magie im selben Atemzug ausspricht. Ich weiß sehr gut, dass Ihr längst nicht alles gesagt habt.«

»Wilde Mutmaßungen bergen auch ihre Gefahren.«

»Allerdings. Ich will Tatsachen. Ich möchte keinen wertvollen Verbündeten nur wegen falscher Anschuldigungen verlieren. Ich will es aber umgekehrt auch nicht an Wachsamkeit gegenüber einem möglicherweise gefährlichen Gegner fehlen lassen.«

»Ich bin in dieser Sache zumindest ebenso neugierig wie Ihr, Herr.«

»Gut.« Hetwar klopfte ihm auf die Schulter. »Dann geht und sorgt dafür, dass Ihr das Essen und den Schlaf bekommt, von dem Ihr geredet habt. Ihr seht wie eine lebende Leiche aus.

Seid Ihr sicher, dass Ihr heute Morgen nicht wirklich unpässlich wart?«

»Das wäre mir lieber gewesen. Hat Lewko berichtet, was ich ihm erzählt habe?«

»Von Eurer so genannten Vision? O ja, in der Tat. Und es war wirklich eine sehr lebhafte Erzählung.« Er zögerte. »Auch wenn Biast sie anscheinend als recht tröstlich empfand.«

»Habt Ihr sie geglaubt?«

Hetwar neigte den Kopf. »Habt Ihr es?«

»O ja«, hauchte Ingrey.

Hetwar stand ganz still da, schaute Ingrey in die Augen und senkte dann voller Unbehagen den Blick. »Ich bedauere sehr, dass mir diese Darbietung entgangen ist. Was habt Ihr und der Gott denn nun wirklich miteinander besprochen?«

»Wir … haben uns gestritten.«

Hetwars Lippen kräuselten sich in einem trockenen Lächeln. »Warum überrascht mich das nicht? Ich wünsche den Göttern alles Gute mit Euch. Mögen sie mehr Glück haben als ich bei dem Versuch, Euch jemals eine klare Antwort zu entlocken.« Er wandte sich zum Gehen.

»Herr«, rief Ingrey.

Hetwar wandte sich ihm wieder zu. »Ja?«

»Wenn … äh …« Ingrey musste schlucken, denn sein Hals war rau. »Wenn … aus welchem Grund auch immer … mein Vetter Wenzel in den nächsten Tagen ums Leben kommen sollte, würdet Ihr dann bitte dafür sorgen, dass ich unverzüglich vor ein Tribunal des Tempels komme? Und dass bei der Untersuchung die besten Zauberer zugegen sind, die Lewko auftreiben kann?«

Hetwar runzelte die Stirn und schaute ihn an. Er setzte zum Sprechen an, schloss den Mund dann aber wieder. »Ich nehme an«, brachte er schließlich hervor. »Ihr meint, dass Ihr mir so etwas einfach vorsetzen und dann unverrichteter Dinge davonspazieren könnt?«

»Darauf könnt Ihr schwören.«

»Ihr verwechselt wohl schwören und fluchen

»Schwört es.«

»Ja, meinetwegen.«

»Gut.«

Ingrey trat mit einer Verbeugung von ihm fort. Hetwar rief ihn nicht zurück, obwohl Ingrey ihn tatsächlich leise fluchen hörte, als er zur Treppe ging.

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