Kapitel Einundzwanzig

Das Schlafgemach des Geheiligten Königs war weniger überfüllt, als Ingrey erwartet hatte. Ein grün gewandeter Heilkundiger und sein Akolyth saßen dicht am Kopfende des Himmelbettes. Ihre niedergeschlagene Tatenlosigkeit ließ erkennen, dass alle Bemühungen nun vergebens waren. Ein Geistlicher in den grauen Gewändern der Kirche des Vaters wartete ebenfalls, doch zeigte er genau den entgegengesetzten Ausdruck: eine angespannte Bereitschaft, die noch nicht abgerufen wurde. In einem Raum jenseits eines Vorzimmers, außer Sicht und zum Glück durch die dazwischen liegenden Wände gedämpft, stimmte ein fünfstimmiger Tempelchor ein Lied an. Das Quintett klang heiser und ermüdet. Vielleicht würden sie bald eine Pause machen.

Ingrey musterte den König in seinem Bett. Er war nicht mit so düsteren Heimsuchungen beladen wie Ingrey oder Wenzel, kein Schamane, auch kein Zauberer oder Held. Er war nur ein Mensch, wenn auch ein beeindruckender, selbst in dieser letzten Stunde seines Lebens. Er war nun weit entfernt von dem Hirschendorn-Erben, von dem Hetwar nostalgisch aus seiner Kindheit schwärmte, der aus den königlichen Händen seines Vaters das Banner des Fürstmarschalls empfangen hatte und frühen Erfolg und Ansehen in einem inzwischen halb vergessenen Grenzkonflikt mit Darthaca errungen hatte. Als Ingrey in Hetwars Gefolge ins Weald zurückgekehrt war, war der König trotz seiner grauen Haare und all der leidvollen Erfahrungen seines Lebens noch rüstig und kraftvoll gewesen. Die schleichende Krankheit der letzten Monate hatte ihn rasch altern lassen, als gelte es, verlorene Zeit nachzuholen.

Jetzt lag er in seinem letzten Schlaf. Was immer Fara mit ihrem Vater zum Abschied noch hatte bereden wollen: Ingrey hoffte, sie hatte es bereits vorher getan. Heute Nacht jedenfalls würde es keine Worte mehr geben. Die dünne, fleckige Haut zeigte einen hässlichen, gelblichen Farbton und jenen wächsernen Schimmer, den Rossfluten als Vorboten des Todes bezeichnet hatte. Mehr noch: Der Atem des Königs ging rau und abgehackt und stockte manchmal für mehrere Sekunden, sodass alle voller Entsetzen auf den Sterbenden starrten, bis dessen Brust sich wieder hob.

Faras Gesicht war grau und gefasst. Sie schlug das heilige Zeichen, drückte einen Kuss auf die feuchte Stirn des Königs und trat zurück. Der Geistliche des Vaters wagte es, tröstend eine Hand auf ihre Schulter zu legen. »Er hatte ein gutes Leben, Herrin«, murmelte er. »Seid ohne Furcht.«

Fara warf ihm einen Blick zu, der weder Angst noch Trost zeigte, ja, überhaupt einen Ausdruck. Ingrey war beeindruckt, dass sie den Geistlichen nicht anfuhr. Hätte man in einem solchen Augenblick zu ihm eine solche Plattheit gesagt, hätte er sich versucht gefühlt, sein Schwert zu ziehen und den Geistlichen an Ort und Stelle zu durchbohren. Fara aber flüsterte nur: »Wo ist mein Bruder Biast? Er sollte hier sein. Und der Erzprälat.«

»Er war früher hier, Herrin, eine ganze Weile, und wird bald wieder zurückkehren. Ich rechne damit, dass der Erzprälat und Lord Hetwar ihn begleiten werden.«

Sie nickte und wich vor dem Geistlichen zurück. Dessen Hand hing zögernd in der Luft, als wollte er eine weitere tröstende Berührung anbieten, aber zum Glück besann er sich eines Besseren, trat beiseite und überließ die Prinzessin ihrer Trauer.

Rossfluten stand in breitbeiniger Haltung da und beobachtete das alles, das Bild eines hilfsbereiten Herren und Ehemannes. Sein Gesicht wirkte nicht verbissener, als dem Anlass angemessen. Nur auf Ingrey machte er den Eindruck einer vor dem Mauseloch zusammengekauerten Katze. Was würde in diesem Raum geschehen, abgesehen von dem lang erwarteten Tod eines bejahrten Mannes? Rossfluten harrte nun schon seit Wochen in Ostheim aus. Worauf wartete er, außer auf das Ende dieser Wache am Sterbebett? Und wenn seine Anwesenheit hier so unerlässlich für seine weiteren Pläne war, wie sehr hatte ihn dann die unwillkommene Ablenkung gestört, als er sich um Bolesos Bestattung kümmern musste?

Es gibt zwei Geheiligte Könige in diesem Gemach. Wie kann es zwei geben?

Die Frage, die Ingrey in Hetwars Gemächern gestellt und auf die er keine befriedigende Antwort erhalten hatte, kam ihm nun wieder in den Sinn: Was machte das geheiligte Königtum heilig? Ingrey hatte kaum eine Vorstellung davon. Rossfluten, so vermutete er, wusste es ganz genau.

Plötzlich wurde er sich bewusst, dass Rossflutens Pferdegeist nicht mehr zu einem festen Knoten geschrumpft war, sondern frei durch seinen Leib floss, auf dem Strom seines Blutes ritt. Es war ruhig und beherrscht. Sowohl Rossflutens Anspannung wie auch seine Geduld wirkten in diesem Augenblick schier übermenschlich.

Ingrey fühlte, wie ihm das Blut in den Adern pochte. Er hätte angenommen, dass das Aufsummieren seiner Wolfs-Leben und der Pferde-Leben von Rossflutens Hengst jedes dieser Tiere noch mehr Wolf oder noch mehr Pferd hätte werden lassen. Doch es machte nicht den Anschein. Es sah so aus, als liefen all diese erhabenen Tiere stets auf einen gemeinsamen Punkt zu, je dichter und vielschichtiger sie wurden. Einander gleichen sie sich sehr, hatte Ijada gesagt. Allerdings.

Die Sänger gelangten an das Ende ihres Stückes und verstummten. Ein leises Rascheln ließ vermuten, dass sie eine Pause machten. Der Akolyth der Mutter war in den Flur geschickt worden, um nach Fürstmarschall Biast Ausschau zu halten. Der Geistliche trat an die andere Seite des Raumes und holte sich ein Glas Wasser. Vom Bett her kam ein schwerer Atemzug, auf den kein weiterer folgte.

Faras Gesicht erstarrte, und ihre Augen schimmerten von Tränen. Rossfluten trat nur kurz vor, um ihr ein Spitzentaschentuch zu reichen, das sie krampfhaft umklammerte; dann zog er sich wieder zurück. Der Graf sagte nichts Dummes. Er sagte überhaupt nichts.

Er ging noch ein Stück weiter zurück, erhob sich dann beinahe auf die Zehenspitzen und streckte die Arme wie ein Falkner aus, der seinen Vogel zurückruft.

Ingrey erwachte augenblicklich zu voller Aufmerksamkeit, reckte den Hals und spannte all seine Sinne an. Er konnte keine Seelen sehen, wie man es von den Heiligen sagte. Er nahm die davonziehende Essenz nur deshalb wahr, weil sich etwas davon löste und wie ein berauschendes Parfüm durch die Luft schwebte. Götter hatte er vorher schon erfahren, nur deshalb erkannte er die gewaltige Präsenz, die ihm die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Aber dieser Besuch galt nicht Ingrey, und Er war mit seiner Beute wieder verschwunden, ehe Ingreys Pupillen sich in dem vergeblichen Versuch weiten konnten, Ihn aufzunehmen.

Der geheimnisvolle Duft blieb zurück, kühl und vielschichtig wie ein Wald im Frühling: Wasser, Kiefer, Moschus, feuchte Erde, Sonnenlicht — war Lachen ein Geruch? Es ermunterte und erregte ihn, beunruhigte ihn, und er hob seinen Kopf danach, sperrte vergebens Augen und Nase auf. In größter Verwirrung atmete Ingrey ein. Was sollte er tun? Fara beiseite stoßen? Sich auf Rossfluten stürzen? Er konnte nicht sein Schwert gegen diesen Waldgeruch einsetzen, durch die Luft schneiden wie ein Verrückter. Es schien nichts Böses daran zu sein: Gefahr, ja. Macht, ja. Pracht, ja.

Und dann bekam Ingrey mit, wie Rossfluten den Kopf in den Nacken riss und das Königtum einatmete. Der Graf taumelte ein wenig, als wäre ein großer Adler auf seinen ausgestreckten Falknerarmen gelandet. Er presste die Augenlider zusammen, faltete die Arme um den Leib und stieß zufrieden den Atem aus. Als er die Augen wieder aufriss, loderten sie.

Heiliges Feuer, dachte Ingrey. So schnell! Was ist geschehen? Gewiss hatte Rossfluten doch nicht … nein, er hatte nicht die entweichende Seele des Geheiligten Königs abgefangen und in sich aufgenommen wie einen weiteren Tiergeist auf jenen düsteren, verzerrten Hort, über den er bereits gebot. Ingrey flüsterte Wenzel verblüfft zu: »Habt Ihr einen Segen von den Göttern gestohlen …?«

Rossflutens Heiterkeit ließ ihm beinahe das Herz zerschmelzen. »Das hier«, der Graf wies an seinem Leib hinunter und hauchte die Worte mehr, als dass er sprach, »gehörte niemals den Göttern. Wir haben es selbst geschaffen. Es gehört hierhin. Es wurde mir vor zweieinhalb Jahrhunderten entrissen. Jetzt kehrt es zurück … für kurze Zeit.«

Der Geistliche des Vaters, ahnungslos ob all dieser Dinge, war an das Bett des Geheiligten Königs geeilt, wo der Heilkundige sich über den Leichnam beugte und eine letzte Untersuchung vornahm. Sie flüsterten leise miteinander. Der Geistliche beschrieb die heilige Geste über dem toten König und vor sich selbst und sprach dann ein kurzes Gebet.

So. Wenzel war also einer weiteren Lüge überführt oder einer Halbwahrheit. Ingrey konnte nicht mehr das geringste Erstaunen dafür aufbringen. Es hatte überhaupt nicht zwei Geheiligte Könige in diesem Raum gegeben. Da waren nur zwei unvollständige Könige gewesen, die sich gegenseitig behinderten und von denen jeder etwas zurückhielt, was dem anderen zur Erfüllung fehlte. Jetzt gab es wieder nur einen, wieder ganz. Ingrey erschauderte unter der furchtbaren Last seines majestätischen Lächelns.

»Das Wichtigste zuerst«, hauchte Wenzel, leckte sich über den Daumen und berührte damit Ingreys Stirn. Ingrey zuckte zurück, jedoch zu spät. Er spürte den Ruck, mit dem seine Verbindung zu Ijada riss wie eine greifbare Schnur, und er heulte beinahe auf vor Schmerz und Zorn. Bevor er aber noch eingeatmet hatte, festigte die Verbindung sich wieder, und anstelle von Ijada fand er sich plötzlich an Rossflutens Geist gekettet. Der königliche Wille bestieg Ingreys aufsteigende Panik wie ein geschickter Reiter ein unerfahrenes Fohlen. Diese Empfindung überwältigte ihn beinahe, verdunkelte seine Sicht, ließ ihm die Knie weich werden. Rossfluten musterte mit prüfend zusammengekniffenen Brauen Ingreys Gesicht und nickte dann zufrieden. »Ja …« Das Wort kam mit einem Seufzer aus seinem Mund. »Das wird reichen.«

Fara wandte sich um und blickte ihren Ehemann an: Ihre Augen weiteten sich, und heftig sog sie den Atem ein. Wenn sie mit ihren gewöhnlichen Augen auch nur ein Zehntel der alles überstrahlenden Pracht wahrnahm, die Ingrey mit seinen Schamanensinnen erfasste, so wunderte ihn ihre plötzliche Ehrfurcht nicht. Rossfluten befeuchtete erneut den Daumen und berührte sie an der Stirn. Dann trat er vor und umarmte sie, lehnte seinen Kopf gegen den ihren in einer Geste, die man leicht als tröstend fehldeuten konnte. Als er sich wieder zurückzog, wirkten Faras Augen glasig und leer. Ingrey fragte sich, ob seine eigenen Augen genauso aussahen.

Den Arm um die Taille seiner Frau, als wolle er sie stützen, wandte der Graf sich dem Geistlichen des Vaters zu. »Sagt meinem Schwager, wenn er ankommt, dass ich die Prinzessin nach Hause gebracht habe. Ich fürchte, das alles hat wieder einen ihrer schwächenden Kopfschmerzanfälle verursacht.«

Der Geistliche wirkte plötzlich sehr um den Grafen bemüht und nickte eifrig und verständnisvoll. »Selbstverständlich, Herr. Ich bin sehr betrübt über Euren Verlust, Herrin. Aber die Seele Eures Vaters wurde nun in eine bessere Welt wiedergeboren.«

Rossflutens Lippen kräuselten sich. »Allerdings. Alle Menschen gehen von Geburt an mit ihrem eigenen Tod schwanger. Das erfahrene Auge kann ihn Tag für Tag in ihrem Innern heranreifen sehen.«

Der Geistliche zuckte bei dieser beunruhigenden Metapher zusammen, fuhr aber standhaft fort: »Ich bin mir nicht sicher, ob …«

Rossfluten hob eine Hand, und der Mann verstummte sofort. »Friede. Lasst den Fürstmarschall wissen, dass wir uns morgen früh mit ihm treffen werden. Er mag nach Belieben mit den Vorbereitungen beginnen.«

»Ja, Herr.« Der Geistliche verbeugte sich, und der Heilkundige auf der anderen Seite des Bettes tat es ihm gleich.

»Ingrey …« Rossfluten wandte sich seinem Gefolgsmann zu, und seine Lippen entblößten die Zähne in dem beunruhigendsten Lächeln, das er je gezeigt hatte. Seine Stimme sank so tief herab, dass sie Ingreys Knochen vibrieren ließ. »Bei Fuß.«

Verärgert, fasziniert und verzweifelt verbeugte sich Ingrey und folgte seinem Herrn hinaus.


Rossfluten trieb seine Frau und Ingrey rasch und allein durch die abgedunkelten Flure der Halle des Geheiligten Königs. Ein weiteres gemurmeltes Frieden führte dazu, dass die Torwachen ihn grüßten und hinausließen, ohne ihn aufzuhalten oder weitere Fragen zu stellen. Sie wandten sich den nächtlichen Straßen zu, in denen die abkühlende Luft allmählich dunstig wurde. Als sie um die erste Ecke bogen, blickte Ingrey über die Schulter zurück und sah eine Prozession schwingender Laternen heranziehen. Stimmen drangen durch den Nebel: Biast und eine edle Gesellschaft, die zurück zum Sterbebett seines Vaters eilte. Zu spät. Ingrey hörte Hetwars Stimme heraus, die dem Fürstmarschall antwortete. Er fragte sich, ob Hetwar wohl das Siegel des Geheiligten Königs, das ihm anvertraut war, in seiner Eichentruhe mitführte, zusammen mit dem silbernen Hammer, um es neben dem königlichen Bett zu zerschlagen.

Rossflutens Grüppchen war unbeleuchtet, schwarz gekleidet und leise. Ingrey bezweifelte, dass irgendwer aus des Fürstmarschalls Gefolge sie überhaupt bemerkte. Sie wandten sich hügelab. Einige Straßen weiter bogen sie nicht in Richtung auf Rossflutens Anwesen ab, wie Ingrey erwartet hatte, sondern gingen weiter, bis die Stallungen sich in der Dunkelheit vor ihnen abzeichneten. Die Tore standen weit offen, und von den Dachsparren hingen einige Laternen herab und verbreiteten in dem von Stallgerüchen erfüllten Raum ein sanftes Licht.

Ein Stallknecht erhob sich hastig von einer Bank an der Außenwand und verneigte sich furchtsam, als der Graf herantrat. »Alles ist vorbereitet, Herr. Die Kleidungsstücke liegen in der Sattelkammer bereit.«

»Gut. Bleib noch einen Moment hier.«

Rossfluten schob Fara und Ingrey vor sich her. Ingrey bemerkte in den düsteren Pferdeständen zu seiner Linken, dass Rossflutens großer Brauner und der Graugescheckte namens Wolf gesattelt und aufgezäumt bereitstanden, mit aufgeschnallten Satteltaschen. Eine Fuchsstute gegenüber war ähnlich vorbereitet worden. Als sie an dem Verschlag mit dem Hirsch vorbeikamen, schnaubte dieser und schüttelte das Geweih. Spitze Hufe scharrten furchtsam im dichten Stroh.

Rossfluten wies auf eine Laterne, und Ingrey langte empor und holte sie herab. Dann führte er sie durch die offene Tür in die Sattelkammer. Zaumzeug schimmerte an den Wandhaken, das Leder poliert und die Metallteile funkelnd. Über einigen leeren Sattelböcken lagen drei Haufen mit Kleidung bereit. Ingrey erkannte die eigene Reitkleidung und die Stiefel darunter. Auf einem weiteren Sattelbock lag das Reitkleid einer Dame, aus weinrotem Tuch und mit Goldfaden durchwirkt. Rossfluten wies auf die Stapel: »Zieht euch an«, befahl er Fara und Ingrey, »und macht euch reisefertig.«

Mit versteinertem Gesicht ließ Fara den fülligen Mantel fallen, der raschelnd auf den Holzboden glitt. »Ich brauche Hilfe bei den Knöpfen, Herr«, sagte sie tonlos.

»Oh, ja.« Rossfluten verzog das Gesicht und löste mit geübten Fingern die Reihe kleiner Perlenknöpfe an ihrem Rücken aus den Samtschlaufen. Ingrey legte den höfischen Mantel ab, die Stadtschuhe und das silberbestickte Wams und streifte sich die Gamaschen über. Er hatte sie schon festgemacht, ehe Faras Kleid und die Unterröcke noch in einem Haufen zu ihren Füßen lagen. Er nahm nicht an, dass einer von ihnen angesichts dieser ungewohnten Vertraulichkeit Verlegenheit empfand. Überschwang, Verwirrung und Entsetzen ließen keinen Raum für diese schwächeren Gefühle. Er zog sich die Stiefel an und richtete sich auf; dann befestigte er den Gürtel mit Messer und Schwertscheide. Sein ruchloser Lehnsherr war immer noch mit den Feinheiten der Garderobe seiner Gemahlin beschäftigt.

Als der Graf die Arme hob, um Fara in ihre Jacke zu helfen, sah Ingrey neues Leder von einer Messerscheide an Wenzels Hüfte schimmern. Eine neue Scheide, ein neues Messer? Still stahl er sich aus der Sattelkammer in den Mittelgang des Stalles. Konnte er sich Rossflutens hypnotischem Willen widersetzen? Wenn er an Widerstand denken konnte, konnte er ihn doch sicher auch ausüben? Wenn er nicht zu intensiv daran dachte? Ijada, wie geht es dir jetzt? Er wusste es nicht mehr. Dieser Augenblick war offenbar gut vorbereitet worden. Hatte der Graf, während Ingrey sicher angeleint war, auch einen Anschlag auf das schmale Haus vorbereitet?

Ingrey schob sich immer noch rückwärts. Er tastete nach dem Riegel am Verschlag des Hirsches und löste ihn. Dann zog er die Tür auf. Seine Finger fühlten sich taub an. »Fort«, flüsterte er. Das Tier sprang zweimal auf der Stelle, schnaubte mit einem Klang wie brechendes Eis und schoss dann an ihm vorüber. Die Hufe trommelten und rutschten über den farbigen Steinboden. Es fing sich wieder und war mit einer beinahe unwirklichen Geschwindigkeit in den finsteren Gassen der Stadt verschwunden. Ingrey erstarrte, als Rossfluten den Kopf aus der Sattelkammer schob und ihn finster anblickte. »Rühr dich nicht«, schnauzte der Graf, und Ingrey verharrte notgedrungen.

Er stand immer noch da und kämpfte … nicht so sehr darum, sich zu bewegen, sondern sich überhaupt bewegen zu wollen, als der Graf wieder auftauchte. Dieser hatte die eigenen höfischen Gewänder gegen Lederkleidung und Stiefel getauscht und schob Fara entschlossen mit einer Hand am Oberarm vorwärts. Rossfluten blickte in den leeren Verschlag und lächelte zu Ingreys Enttäuschung nur säuerlich. »Fast macht Ihr mir Angst«, merkte er im Vorübergehen an. »Das war ausgezeichnet. Womöglich sollte ich Euch knebeln.«

Er sagte nichts weiter, sondern schickte Fara in den einfachen Verschlag, wo Ijadas braune Stute unruhig tänzelte.

»Ich fürchte mich vor diesem Pferd, Herr«, sagte Fara mit zitternder Stimme.

»Nicht mehr lange, das verspreche ich dir«, erwiderte er halblaut. Ingrey konnte über die Bretterwand hinweg und durch die rankengeschmückten Gitterstäbe hindurch nicht mehr sehen als die zuckenden Ohren des Pferdes und die obere Hälfte von Rossflutens blondem und Faras dunklem Kopf. Aber er hörte ein ledriges Scharren, als ein Messer gezogen wurde. Ein leises Flüstern des Grafen und Worte, die er halb verstand, ließen ihm das Blut aufwallen und alle Haare auf den Armen zu Berge stehen. Dann folgte ein dumpfer Laut, ein abgeschnittenes Kreischen, ein Rucken an einem Anbinderiemen, das die Wände des Verschlages erzittern ließ — dann ein Aufprall und das Zappeln eines schweren Leibes und dann nichts mehr.

Die beiden Köpfe kehrten in den zentralen Korridor zurück. Fara stützte sich gegen Rossfluten und zitterte heftig. Wenn Blut auf ihr Reitkleid gespritzt war, konnte man es im Dunkeln nicht erkennen.

»Was habt Ihr mir angetan …?«, jammerte sie.

In ihrem Innern sahen Ingreys Schamanensinne einen machtvollen, aber verängstigten Schatten umherspringen und zerren.

»Pssst«, beruhigte sie Rossfluten. Er berührte sie wieder mit dem Daumen an der Stirn und ließ ihre Augen erneut glasig werden. Auch der Pferdeschatten wurde ruhiger, wenn er auch eher benommen als beschwichtigt aussah. »Alles wird gut. Komm mit, sofort.«

Der ängstliche Stallbursche tauchte wieder auf. »Herr? Was war …«

»Bring die Pferde.«

Die drei gesattelten Pferde wurden in den düsteren Hof vor den Stallungen geführt. Der Stallbursche und Rossfluten halfen gemeinsam Fara auf die braune Stute. Rossfluten selbst prüfte ihren Sattelgurt und stellte die Steigbügel richtig ein, strich ihr Kleid glatt, schloss ihre zitternden, behandschuhten Hände fest um die Zügel.

»Aufsitzen«, wies Rossfluten Ingrey an und reichte ihm die Zügel des grauen Wallachs. Ingrey folgte dem Befehl, auch wenn das Pferd unter ihm scheute und hüpfte und versuchte, den Kopf hinunterzukriegen und zu buckeln. Rossfluten blickte über die Schulter zurück und gab in leicht gereiztem Tonfall ein »Ruhig!« von sich. Ingreys Tier beruhigte sich, wirkte aber immer noch angespannt. Der Graf schloss die Stalltore hinter ihnen.

Der Stallbursche half Rossfluten in den Sattel, und der Graf ertastete die Steigbügel mit den Zehen, ohne hinzuschauen. Er ließ sich im Sattel nieder, langte nach unten und legte gütig die Handfläche auf die Stirn des Stallburschen. »Geh heim. Schlafe. Vergiss. «

Die Augen des Knechts wurden ausdruckslos, und er wandte sich gähnend ab.

Rossfluten hob die Hand und rief Ingrey und Fara zu: »Folgt mir.« Er wendete sein Pferd und ritt im Schritt in die nebelverhangene Nacht hinaus. Hufe scharrten über die schrägen Pflastersteine. Der Klang hallte von den Wänden der umliegenden Gebäude wider, während sie sich ihren Weg durch die Straßen der Königsstadt suchten.

Als sie den leeren Marktplatz überquerten, beugte Rossfluten sich seitlich aus dem Sattel, presste die Hand gegen den Bauch und würgte still. Er spuckte etwas Dunkles und Nasses aufs Pflaster. Ingrey, der hinter ihm ritt, roch keine Galle, sondern Blut. Blutet er für seine Zauberstimme ebenso wie ich für die meine? Anscheinend aber unauffälliger. Und wie viel von diesem Schatz hatte er auf Ingreys mordlüsternen Bann vergeudet, dass er es zu viel genannt hatte?

Die Nachtwache an den südöstlichen Stadttoren winkte sie auf einen Befehl von Rossfluten hin durch. Er schien noch nicht einmal seine Zauberstimme zu benötigen, damit sie ihn ehrerbietig passieren ließen. Als sie erst einmal die Stadtmauern und den gepflasterten Hafendamm hinter sich gelassen hatten, ließ Rossfluten sein Pferd in Trab fallen. Im ersten Dorf wandten sie sich an einer Kreuzung nach links dem Storchenfluss zu. An den Rändern der Hügel hinter ihnen überholte ein fetter, beinahe voller Mond seinen verräterischen, bleichen Hof, löste sich aus dem Schatten der Hügel und warf die langen, schemenhaften Schatten der Reiter vor ihnen auf die Straße.

Wohin reiten wir? Wofür braucht er uns? Was wird geschehen, wenn wir dort sind?

Ingrey biss die Zähne vor Zorn zusammen, weil er keine Gelegenheit gehabt hatte, eine Botschaft auszusenden. Oder eine zu hinterlassen … Er versuchte sich vorzustellen, was die Leute morgen früh aus dem Durcheinander in den Ställen machen würden: drei Pferde und ein Hirsch verschwunden, eine Stute tot in ihrem Blut liegend, ein unordentlicher Haufen höfischer Kleidung auf dem Boden der Sattelkammer. Sie hatten Ostheim rasch und unauffällig verlassen, gewiss, aber keinesfalls geheim. Allein um Faras willen würde man sie sicher verfolgen.

Was immer Rossfluten also plant — er erwartet, dass es schnell geht, ehe die Verfolger ihn erreichen können. Soll ich versuchen, ihn aufzuhalten?

Ingreys Aufgabe bestand darin, Rossfluten zu beobachten und Fara zu beschützen. Auf gewisse Weise erledigte er Ersteres bisher ganz anständig, das Zweite aber verpfuschte er offenbar gründlich, auch wenn er immer noch neben ihr ritt und scheinbar zu ihrem Schutz zur Verfügung stand. Er hatte mit dem Hirsch einen Versuch unternommen, der leider ins Leere gelaufen war. Seine lebhafte Sorge, dass Rossfluten seine Frau für irgendein bizarres Blutopfer missbrauchen wollte, hielt einer näheren Betrachtung nicht stand. Seitdem sie von einem Pferdegeist heimgesucht war, konnte man sie schlecht als Botin zu den Göttern an einen Baum hängen, und trotz ihrer Unfruchtbarkeit war sie keine Jungfrau mehr. Außerdem bezweifelte Ingrey, dass Rossfluten mit den Göttern in Verbindung treten wollte, außer um ihnen seine trotzige Verachtung zu bezeugen. Und wo waren sie überhaupt, in dieser Nacht der unerklärlichen Ereignisse?

Hirsche für die Hirschendorns. Rösser für die Rossflutens. Fara war durch ihre Heirat eine Rossfluten geworden, so unbefriedigend diese Verbindung für sie bisher auch geblieben war. Außerdem fanden sich auch in ihrem Hirschendorn-Stammbaum ein oder zwei Rossfluten-Frauen nicht allzu weit über ihr. Zu ihrer Zeit mussten das alles Schwestern/Töchter/Enkelinnen des Grafen gewesen sein, wie Ingrey jetzt erkannte. Die Verzweigungen in diesem familiären Geflecht überkreuzten sich ziemlich oft, wenn man sich den Grafen als einen Mann vorstellte und nicht als ein Dutzend. Sippe. Sippe. Was ist mit der Sippe?

Der Bannerträger des Geheiligten Königs war dem Herkommen nach ein naher Verwandter. Symark war Biasts Vetter zweiten Grades, und er war zuvor der Bannerträger von Biasts älterem Bruders Byza gewesen. Der langjährige Bannerträger des verstorbenen Königs war ein halbes Jahr vor ihm verschieden, eines natürlichen Todes, und der alte Mann hatte gezögert, ihn zu ersetzen. Hatte er es in Voraussicht des eigenen Endes abgelehnt, seinen geschätzten Gefährten durch einen bloßen Nachzügler zu ersetzen? Oder war die neue Ernennung von Rossfluten verhindert worden, aus irgendwelchen geheimnisvollen Gründen? Ein Geheiligter König brauchte einen Bannerträger von seinem eigenen, edlen Blute, um seiner Ehre gerecht zu werden. Oder eine Bannerträgerin? Ingrey blickte zu Fara hinüber, die sich auf ihrem Pferd festklammerte, das blasse Gesicht von der Düsternis verschleiert. Sie war allenfalls eine mittelmäßige Reiterin. Diese Nacht würde ihre Ausdauer auf eine harte Probe stellen.

Hetwar würde ihn für das hier auf kleiner Flamme rösten. Wenn er es überlebte. Wenn er es überlebte, beschloss Ingrey, konnte Hetwar ihn ruhig nach Herzenslust rösten. Besser noch — wenn er und Fara überlebten, würde das ein interessantes Problem für Ijadas Richter aufwerfen. Jeder Präzedenzfall an Bestrafung oder Begnadigung für Ijadas Leopard musste logischerweise auch die Richtschnur für die Prinzessin und ihren neuen Nachtmahr setzen. Ich glaube, daraus kann ich etwas machen. Und wenn nicht ich, dann gewiss Oswin.

Sie näherten sich dem Storchenfluss entlang der großen Flussstraße. Das Mondlicht spiegelte sich auf der Wasserfläche und sickerte in hellen Flecken zwischen den Bäumen entlang des Ufers hindurch. Über das Klappern der Hufe und das Knarren des Leders hinweg, konnte Ingrey das schwache Glucksen der Strömung hören, durchweht vom Flüstern fallender Blätter.

Er trieb Wolf an, um mit dem ausgreifenden Trab von Rossflutens langbeinigem Fuchs Schritt zu halten. »Majestät, wohin reiten wir?«

Rossfluten wandte den Kopf, und angesichts der respektvollen Anrede blitzten seine Zähne kurz in der Dunkelheit auf. »Könnt Ihr das nicht erraten?«

Norden. Möglicherweise flohen sie in die Kantone, aber irgendwie konnte Ingrey sich das nicht vorstellen. Ein zweitägiger Ritt mit der Geschwindigkeit eines Botenreiters würde sie an den Rand der Rabenberge bringen …

»Der Wehe Wald. Das Blutfeld.«

»Am Heiligen Baum hieß dieser Ort. Sehr gut, mein schlaues Wölflein.«

Ingrey wartete, doch Rossfluten sagte nichts weiter. Einen Augenblick später trieb der Graf sein Pferd zu einem leichten Galopp an, und die beiden übrigen Reittiere schnaubten und nahmen das Tempo auf.

Ingreys Verstand arbeitete anscheinend noch. Es waren seine Gefühle, die Rossflutens Königswürde überwältigt hatte. Was war das für ein seltsamer Bann … Nein, es war mehr als ein Zauber! Es glich nicht im Mindesten dieser beschränkten, selbstgenügsamen schmarotzenden Magie, die er in Rottwall bekämpft und besiegt hatte. Das hier war etwas anderes, groß und alt und stark. Älter als Rossfluten selbst? Es fühlte sich auch nicht böse an, nicht an sich, obwohl alle Gaben in Rossflutens Händen, die durch die Jahrhunderte finster geworden waren, zu Verzweiflung wurden.

Das furchtbare Charisma der Könige. Männer krochen heran, verzehrten sich danach, nach etwas, das mehr war als eine bloße materielle Entlohnung. Die Verlockung des Heldentums, die Segnung der Tat, mochte nichts als den Tod versprechen; trotzdem scharten die Männer sich um das Banner des Königs. Das verführerische Versprechen nach persönlicher Vollkommenheit im Dienste an dieser scheinbar glanzvollen Sache?

Rossfluten hatte seine Königswürde nicht aus sich selbst heraus geschaffen, vor all diesen Jahrhunderten. Er hatte sie als Erbe empfangen — seit undenklichen Zeiten war eine nur allzu treffende Formulierung für eine Tradition, die keine Schrift kannte, um die Jahre zu zähmen und festzuhalten. Doch die alten Sippen lebten schon so lange auf diesem Boden, dass sie so alt wirkten wie der große, dunkle Wald selbst. Was immer sie für eine königliche Magie aus sich selbst heraus geschaffen hatten, sie hatten es über eine sehr lange Zeit getan.

Selbst nach den eigenen Maßstäben war das alte Stammesvolk eine Ansammlung arroganter, halsstarriger, boshafter und blutrünstiger Verrückter gewesen. Es bedurfte schon etwas Großartigem wie dieses strahlenden Glanzes, um sie überhaupt führen zu können, wie unzureichend auch immer. Gewiss hatte sie am Ende die Furcht vor Audar angetrieben. Furcht konnte Einigkeit erzwingen, aber ebenso leicht konnte sie auch in panische Verwirrtheit umschlagen. Wie viel Tatkraft hatte Rossfluten besessen, wie viel aufgewandt, um das große Ritual am Heiligen Baum überhaupt in die Wege zu leiten, geschweige denn zu verwirklichen? Wenn dies das letzte, hoffnungslose Aufbäumen seiner Herrschaft war, wie musste er dann in der Blüte seiner Kraft gewirkt haben?

Der aufgehende Mond traf sich mit dem aufsteigenden Nebel und verwandelte die Welt in ein brodelndes Meer aus Licht. Der Geheiligte König hob und senkte den Arm und führte seine Gefolgsleute im scharfen Galopp auf dem ebenen, geraden, schimmernden Streifen Flussstraße entlang. Sie schienen durch die Wolken zu schweben, zu fliegen. Ingreys Augen tränten im eisigen Wind. Das Pferd bewegte sich spielerisch zwischen seinen Beinen, und Ingrey, dem das Herz zerspringen wollte, warf den Kopf in den Nacken und trank die dahinrasende Nacht. Scheitern lag hinter ihm, Verderben womöglich vor ihm. Doch in dieser silbrigen Stunde war er verherrlicht.

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