Kapitel Zwölf

Ingrey musste nicht lautstark gegen die Tür hämmern und das halbe Haus wecken, denn der Pförtner kam schon auf sein erstes, zaghaftes Klopfen herbei. Allerdings trug er bereits ein Nachthemd und hatte sich eine Decke um die Schultern gelegt, und die entschiedene Art, in der er hinter Ingrey wieder absperrte, vermittelte deutlich den Eindruck, dass dies der letzte nächtliche Ausflug bleiben sollte. Er entzündete ein Windlicht in einem Glasgefäß, damit Ingrey den Weg die Treppen hinauf fand.

Ingrey nahm den Leuchter mit einem gemurmeltem Dank entgegen und schlurfte die Stufen empor. Oben, auf seinem Treppenabsatz, brannte Licht, und als Ingrey herankam, erkannte er, dass dieses Licht von einer Lampe ausging, die mit kurzem Docht auf einem Tisch brannte. Eine weitere Kerze stand auf den Treppen zum Stockwerk darüber; daneben kauerte Ijada, in ein dunkles Kleid gehüllt. Als Ingrey aus dem engen Treppenhaus herausstolperte, mit einem leichten Klappern seiner Schwertscheide gegen Holz, blickte sie auf.

»Du bist in Sicherheit!«, stellte sie heiser fest und rieb sich die Augen.

Ingrey blickte sich verwirrt um und blinzelte in die Düsternis. Das letzte Mal, dass eine Frau besorgt auf ihn gewartet hatte … es lag so lange zurück, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Von ihrer Zofe war keine Spur zu sehen, ebenso wenig von seinem Burschen Tesko. »Sollte ich das nicht?«

»Vor drei Stunden, oder länger, hat Gesca vorbeigeschaut und berichtet, dass du niemals bei Lord Hetwar angekommen bist.«

»Oh. Ja. Ich wurde abgelenkt.«

»Ich habe mir die eigenartigsten Dinge ausgemalt, die dir zugestoßen sein könnten.«

»Spielte dabei auch ein sechshundert Pfund schwerer Eisbär und ein dichtender Pirat eine Rolle?«

»Nein …«

»Nun, dann waren diese Dinge nicht eigenartig genug.«

Sie runzelte die Stirn, erhob sich und stieg die Stufen hinunter. Als sein ohne Zweifel hochprozentiger Atem sie erreichte, wich sie wieder ein Stück zurück, wedelte mit der Hand, um den Geruch zu vertreiben, und verzog das Gesicht. »Bist du betrunken?«

»Nach meinen Maßstäben, ja. Auch wenn ich noch laufen und reden kann und mir jetzt schon vor morgen früh graut. Ich fand mich unvermittelt mit fünfundzwanzig verrückten Inselbewohnern und einem Eisbären auf ihrem Schiff wieder und musste dort den Abend verbringen. Sie haben mich auch verköstigt. Hast du Tesko irgendwo gesehen?«

Sie nickte in Richtung seiner geschlossenen Zimmertür. »Er ist mit deinen Sachen hier eingetroffen. Ich glaube, er ist eingeschlafen, als er auf dich gewartet hat.«

»Das überrascht mich nicht.«

»Was ist mit meinem Brief? Ich hatte schon Sorge, dass er verloren gegangen ist.«

Oh. Um den Brief hatte sie sich Sorgen gemacht. Deshalb also hatte sie hier in der Dunkelheit auf ihn gewartet. »Er ist sicher ausgehändigt.« Ingrey dachte noch einmal darüber nach. »Jedenfalls ist er ausgehändigt. Wie sicher ein Mann wie der Gelehrte Lewko ist, will ich gar nicht erst fragen. Er kleidet sich wie ein Schreiber des Tempels, aber das ist er nicht.«

»Du hattest mir mal erklärt, welche Art von Kirchenleuten sich mit meinem Fall befassen würden. Wie schätzt du Lewko ein? Als aufrichtig oder als bestechlich?«

»Ich … kann mir nicht vorstellen, dass er bestechlich ist. Aber das heißt nicht, dass er auf deiner Seite stehen wird.« Ingrey zögerte. »Er ist von den Göttern berührt.«

Sie legte den Kopf schief. »Im Moment wirkst du selbst ein wenig von den Göttern berührt.«

Ingrey zuckte zusammen. »Woher weißt du das?«

Sie streckte ihre im unruhigen Licht bleich aussehenden Finger aus, als wolle sie sein Gesicht ertasten. »Ich habe einmal miterlebt, wie einer der Männer meines Vaters von seinem Pferd mitgeschleift wurde. Er war nur leicht verletzt, doch als er sich erhob, war er zutiefst erschüttert. Dein Gesicht wirkt gefasster, und es ist auch nicht mit Dreck und Blut beschmiert, aber deine Augen sehen genauso aus wie die seinen. Ein wenig verstört.«

Er lehnte sich beinahe gegen ihre Hand, doch Ijada ließ sie rasch wieder sinken. »Ich habe eine sehr seltsame Nacht verbracht. Im Tempel ist etwas geschehen. Lewko möchte dich morgen aufsuchen. Und mich. Ich glaube, ich stecke in Schwierigkeiten.«

»Dann erzähl mir davon!« Sie zog ihn neben sich auf die Stufen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und dunkel von neuerlicher Sorge.

Stockend berichtete Ingrey von dem Vorfall mit dem Bären und seiner Begegnung mit dessen Gott im Hof des Tempels. Der Bericht ließ sie zweimal nach Luft schnappen und einmal kichern. Ihr Kichern brachte ihn ein wenig aus der Fassung. Als er Jokol beschrieb, sein Schiff und seine Dichtkunst, war sie ganz aufmerksam. »Ich dachte«, schloss Ingrey, »was mit dem Bären geschehen war, wäre das Wirken des weißen Gottes gewesen, ein Ausdruck Seines Zorns mit den unaufrichtigen Tierpflegern. Aber gerade eben, als ich mit Gesca nach hier zurückkehrte, geschah dasselbe noch einmal. Die Zauberstimme. Ich weiß nicht, ob es mein Wolf war oder ich selbst. Bei den fünf Göttern, ich bin mir nicht mal mehr ganz sicher, wo der Wolf aufhört und ich anfange! Er hat noch nie auf diese Weise gesprochen. Er hat niemals überhaupt gesprochen!«

Nachdenklich meinte Ijada: »Die Sumpfleute behaupteten stets, dass die Legendenlieder einst magisch waren. Vor langer Zeit.«

»Oder an einem sehr fernen Ort.« Die singende Frau vom Waldrand … »Das hier ist hier und jetzt, und es ist tödlicher Ernst. Ich frage mich, ob Wenzel von diesen Kräften weiß. Warum hat er sie uns gegenüber nicht angewandt? Ich glaube übrigens, er hat deinen Brief gestohlen und gelesen, während wir bei ihm zum Abendessen saßen. Der Gelehrte Lewko meinte, der Brief wäre geöffnet worden.«

Ijada fuhr hoch, und ihr stockte der Atem. »Oh! Was stand in dem Brief?«

»Ich habe ihn selbst nicht gelesen, aber so weit ich es verstanden haben, wird darin in einiger Ausführlichkeit von den Geschehnissen in Rottwall berichtet. Man kann also davon ausgehen, dass Wenzel von dem Bann wusste — zumindest von dem Zeitpunkt an, wo er sich uns bei Tisch wieder anschloss. Und damit wusste er auch, dass ich ihm diesen Teil der Geschichte verschwiegen habe. Ist dir aufgefallen, ob er danach das Gespräch irgendwie anders geführt hat?«

Ijada runzelte die Stirn. »Wenn überhaupt, wirkte er danach eher noch mitteilsamer. Vielleicht wollte er uns zu ähnlicher Freimütigkeit verleiten?«

Ingrey zuckte die Achseln. »Vielleicht.«

»Ingrey …«

»Hm?«

»Was weißt du über Bannerträger?«

»Kaum mehr als über Schamanen. Ich habe einige darthacische Schilderungen von den Schlachten mit den alten Wealdländern gelesen. Die Darthacer hatten für unsere Bannerträger nicht viel übrig. Die Totemkrieger — und alle anderen Krieger der alten Stämme — kämpften mit besonderer Wildheit, wenn es um ihre Standarten ging. Wenn der Bannerträger sich weigerte, vom Schlachtfeld zu ziehen, dann kämpften die Krieger um ihn herum — oder um sie, wenn Wenzel die Wahrheit gesagt hat — bis auf den letzten Mann. Aus diesem Grund versuchten Audars Soldaten auch stets, die Standarten so rasch wie möglich zu Fall zu bringen. Wie es heißt, war es eine der Aufgaben des Bannerträgers, den eigenen Verwundeten die Kehle durchzuschneiden, wenn man sie nicht vom Schlachtfeld forttragen konnte. Das galt als besonders ehrenhafter Tod. Von dem Verletzten wurde erwartet, dass er dem Bannerträger seinen Segen aussprach und der Klinge seine Dankbarkeit bezeugte, wenn er noch reden konnte.«

Ijada erschauderte. »Davon habe ich nichts gewusst.«

Ihr Gesichtsausdruck wirkte für einen Augenblick verschlossen, in Gedanken, die Ingrey sich kaum ausmalen konnte. Dachte sie an ihren Traum im Wehen Wald? Doch Krieger, die bereits gestorben waren, bedurften wohl kaum noch eines so grausigen Dienstes von ihrer Bannerträgerin.

»Versuch herauszufinden«, sagte Ijada schließlich, »was Wenzel weiß, wenn du ihn das nächste Mal über den Ort am Heiligen Baum befragst.«

»Hm, das wäre eine weitere Unterredung, auf die ich mich nicht gerade freue. Ich glaube nicht, dass Wenzel nach diesem Schauspiel heute Abend gut auf mich zu sprechen sein wird. So possenhaft es auch gewirkt haben muss — es hat doch die Aufmerksamkeit der Kirche auf mich gelenkt. Ich habe Angst vor Lewko.«

»Warum? Wenn er ein Freund und Lehrer von Hallana ist, kann er nicht unehrlich sein.«

»Oh, ich bin mir sicher, er würde einen treuen Freund abgeben. Und einen unerbittlichen Gegner. Es ist nur beunruhigend, ihn mir auf der anderen Seite vorzustellen.« Oder war das bloß eine Gewohnheit? Er dachte zurück an die aufrechten Geistlichen von Birkenhain, die ihn so lange gepeinigt hatten, bis sein Geist wieder zur Ruhe gekommen war. Schmerz war seither für Ingrey kein verlässlicher Markstein mehr für die Grenze zwischen Freunden und Feinden.

Ungeduldig fragte Ijada: »Auf welcher Seite siehst du dich selbst?«

Ingreys Gedanken erstarrten abrupt. »Ich weiß es nicht. Jede Umgrenzung scheint sich von mir fort zu krümmen. Ich drehe mich im Kreis.« Er blickte auf und sah ihre Augen dicht vor den seinen. Sie funkelten bernsteinfarben in der Dunkelheit. Die Pupillen waren weit geöffnet. Sie war körperlich anziehend, und darunter lag noch die aufregende Wildheit ihrer Leopardenseele. Aber dahinter … noch mehr. Er hätte am liebsten durch sie hindurchgelangt, um dieses Etwas zu erreichen, etwas außerordentlich Wichtiges …

»Du bist meine Seite. Und du bist nicht allein.«

»Dann«, hauchte sie, »bist du es auch nicht.«

Oh. Weder die Zeit noch sein Herzschlag verharrte, und doch trieb er für die Dauer eines Atemzuges dahin, als wäre er von einer hohen Klippe getreten, ohne hinabzustürzen. Gewichtslos. »Welch angenehme Logik.«

Es dauerte nur eine Sekunde, um die Handbreit zwischen ihrer beider Lippen zu überwinden. Ijadas Augen weiteten sich.

Ihre Lippen waren so weich, wie er es sich immer vorgestellt hatte, und so warm wie das Sonnenlicht. Die erste Berührung war keusch, zaghaft, doch eine heftige Erschütterung schien durch seinen Körper zu branden, durch seinen Leib, und dann brauste sie in seine Gliedmaßen zurück und ließ ihm die Hände zittern. Er beruhigte sie, indem er Ijadas Taille umfasste, die Hände hinter ihren Kopf wandern ließ und die Finger in ihrem dunklen Haar versenkte. Ein warmer Arm legte sich um seine Schulter, presste sich gegen seinen Rücken, zog ihn heran. Finger schlossen sich in zuckendem Griff um seinen Oberarm. Ihre Lippen teilten sich.

Auf die erste Erschütterung folgte eine Woge der Lust, die ein Feuer in seinen Lenden entfachte und ihn daran erinnerte, wie lange es her war, dass er eine Frau so in den Armen gehalten hatte … Nein, noch nie hatte er eine Frau so in den Armen gehalten. Plötzlich wurde der Kuss leidenschaftlich und in keinster Weise mehr keusch. In verzweifelter Eindringlichkeit erkundete er ihren Mund, während ihre blassen Hände ihn fester umklammerten und enger an sie drückten, wobei sie ihren weichen Leib gegen den seinen pressten. Ihr Atem vereinigte sich, ihre Herzen schlugen im Gleichtakt.

Und dann griffen sie durch den anderen hindurch …

Ein magischer Kuss. Es war nicht länger nur eine romantische Redensart. Genau genommen war es gar nicht mehr romantisch. Es war dermaßen erschreckend, dass es ihnen den Atem verschlug. Sie röchelte, er keuchte, und sie trennten sich, auch wenn sie mit den Händen den anderen noch immer umfasst hielten — doch nicht mehr lustvoll, eher wie zwei Ertrinkende.

Ijadas Augen, die zuvor weit aufgerissen gewesen waren, wirkten nun riesig. Die Pupillen waren tiefschwarz; nur ein winziger goldener Reif umrahmte ihren Saum. »Was machst du …«, setzte sie an, während er hervorstieß: »Was hast du getan?«

Sie löste eine ihrer Hände von ihm und drückte sie oberhalb des Herzens auf ihr düsteres Kleid. »Was war das?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe nie … so etwas …«

Sie hörten Dielenbretter knarren, ein Scheppern, ein Kratzen. Ingrey sprang zurück, als die Tür zu seinem Gemach aufschwang. Ijada verschränkte die Arme, als wäre ihr kalt, und sie stieß einen unterdrückten Fluch hervor. Ihm blieb gerade noch Zeit, spöttisch mit den Brauen zu zucken, und sie schnitt ihm eine Grimasse, ehe er sich umwandte. Tesko blickte gähnend durch den Türspalt in den schwach erhellten Korridor.

»Herr?«, fragte er. »Ich habe Stimmen gehört.« Er blinzelte in gelindem Erstaunen, als er die beiden auf der Treppe sitzen sah.

Ijada erhob sich, nahm die Kerze an sich und lief mit einem letzten, stummen Blick auf Ingrey die Treppen empor.

Einen Augenblick lang ließ Ingrey seinen Gedanken die Zügel schießen und malte sich aus, wie er blank zog und seinen Burschen enthauptete. Doch leider waren die Räumlichkeiten zu beengt, um einen solchen Streich vernünftig ausführen zu können. Also verabschiedete er sich mit einem tiefen Seufzer von dieser Vorstellung und stemmte sich auf die Füße.

Tesko spürte offenbar Ingreys Unmut über die Störung und ließ ihn mit einer unterwürfigen Verbeugung und behutsamer Vorsicht ins Gemach treten. Der klumpfüßige junge Mann war nur halb ausgebildet in Ingreys Dienst gestellt worden, als dieser seine Stellung als Kurier für besondere Fälle bei Hetwar angetreten hatte. Ingrey war es gewohnt, für sich selbst zu sorgen, und er war seinem Leibdiener daher mit einer Gleichgültigkeit begegnet, die Teskos ursprüngliche Furcht vor seinem gewalttätigen Ruf rasch und ein wenig zu vollständig hatte verschwinden lassen. An dem Tag allerdings, an dem er Tesko ertappt hatte, wie er von seinen spärlichen Besitztümern stahl, hatte er den Ruf durch eine nachdrückliche praktische Darbietung ersetzt. Danach hatte Hetwars übriges Personal es sich selbst zum Anliegen gemacht, ihren Jüngsten auf Vordermann zu bringen, denn wenn Tesko entlassen wurde, hätte einer von ihnen seine Stelle einnehmen müssen.

Ingrey ließ sich von Tesko die Stiefel ausziehen. Dann erteilte er ihm knappe Anweisungen für die frühe Morgenstunde und ließ sich aufs Bett fallen. Doch er schlief nicht ein.

Er war immer noch zu aufgedreht, um schlafen zu können, und zu betrunken, um klar denken zu können, und zu erschöpft zum Sitzen. Das Blut schien in seinen Adern zu zischen und in seinen Ohren zu fauchen. Er war sich jedes schwachen Lautes von oben eindringlich bewusst. Gingen Ijadas Atemzüge noch immer im selben Rhythmus wie die seinen? Er war aufgerüttelt und schreckte zugleich davor zurück, deswegen etwas zu unternehmen. Denn wenn sie jeden seiner Herzschläge und jede seiner Bewegungen ebenso spürte, wie er die ihren zu spüren schien …

Anscheinend steuerten sie schon seit Tagen auf diesen Augenblick der Begegnung zu. Jetzt fühlte er sich ihr verbunden, als wären sie zwei Jagdhunde, die man für die Ausbildung aneinander geleint hatte. Wer ist der Jäger? Und was ist die Beute? Das laute Einschnappen dieser Verbindung zwischen ihnen hallte ihm noch immer bis in die Knochen: Ketten, dünner als Spinnfäden und härter als Eisen und nicht so leicht zu zerreißen.

Er musste nicht das Knarren hören, wenn sie sich im Bett herumwälzte. Er wusste genau, wo sie war, so gut wie er die Lage seines eigenen Leibes in der Dunkelheit bestimmen konnte. Ingrey streckte die Hand vor sich in der Finsternis aus. Das ist nur ein Hirngespinst. Ich verliere den Verstand vor unerwidertem Begehren. Nur dass es so unerwidert nicht gewirkt hatte … Kurz huschte ein dümmliches Grinsen über seine Lippen.


Irgendwann war er wohl eingeschlafen, denn Tesko musste ihn förmlich unter der Decke hervorzerren und auf den Boden fallen lassen, damit er endlich wach wurde. Teskos ruckartige Bewegungen verrieten eine Furcht, die sich nicht recht entscheiden konnte, wo die größeren Gefahren lagen: im Umgang mit einem halb wachen Ingrey oder im Ungehorsam. Ingrey versuchte, seinen pelzigen Mund freizubekommen, und versicherte seinem Leibdiener, dass Ungehorsam schlimmer gewesen wäre. Sich aufzusetzen erwies sich als schmerzhafte Anstrengung, war aber möglich.

Er ließ sich von Tesko beim Waschen, Rasieren und Ankleiden helfen, natürlich nur, damit seine frisch angelegten Verbände keinen Schaden nahmen. Mit einem Stirnrunzeln stellte Ingrey fest, dass sie schon wieder mit bräunlichem Blut durchtränkt waren, doch ihm blieb keine Zeit, sie noch einmal wechseln zu lassen. Die verdreckte Binde am linken Handgelenk jedoch entfernte er, denn die Verletzung dort war inzwischen mehr als halb verheilt — bis auf schwärzliche Krusten, frische rosa Narben und allmählich ins Grünliche spielende Verfärbungen. Die Ärmel seiner Stadtgarderobe — in Grau und Dunkelgrau — verhüllten das gut genug. Mit Schwert und Messer und sauberen Stiefeln sah er wieder halbwegs vorzeigbar aus, sofern man die blutunterlaufenen Augen und das bleiche Gesicht außer Acht ließ.

Voll Abscheu verzichtete Ingrey auf das Brot, doch er kippte den Tee hinunter und stieg mit leisem Geklapper die Treppe hinab. Er blickte nach oben und durchdrang mit seinen Sinnen zwei undurchsichtige Zwischendecken. Ijada schläft noch. Gut.

Durch die kühle feuchte Luft im Freien sickerte gerade eben genug Licht, dass Ingrey seinen Weg durch die Straßen sehen konnte. Als er am anderen Ende der Königsstadt angelangt war, schmerzte sein Kopf noch immer, war nach dem kleinen Marsch jedoch ein bisschen klarer.

Mit dem Sonnenaufgang kehrten die Farben in die Welt zurück. Die massiven Steine in der ausladenden Fassade von Hetwars Palast nahmen einen buttergelben Ton an. Der Nachtpförtner warf einen Blick durch die Sichtluke im schweren, geschnitzten Eingangsportal und erkannte Ingrey sofort. Er machte einen Türflügel gerade weit genug auf, dass Ingrey in den stillen, düsteren Raum dahinter schlüpfen konnte. Ingrey wies einen Pagen ab, der ihn ankündigen wollte, und stieg die Treppen zur Arbeitsstube des Siegelbewahrers empor. Mehrere Diener bewegten sich lautlos durch das Gebäude, zogen Vorhänge zurück, entfachten Feuer und trugen Wasser herbei.

Ingrey zögerte, als er um eine Ecke bog und den Bannerträger von Fürstmarschall Biast, Lord Symark von Hirschendorn persönlich, vor Hetwars Gemach an der Wand lehnen sah. Symark begrüßte ihn mit einem freundlichen Nicken.

»Ist der Prinz hier?«, fragte Ingrey halblaut.

»Ja.«

»Wann seid Ihr eingetroffen?«

»Wir haben vor etwa zwei Stunden die Tore der Königsstadt erreicht. Der Prinz hat seinen Tross im Morast bei Neuentempel hinter sich gelassen. Wir sind die ganze Nacht durchgeritten.« Symark lockerte sich die Schultern und schüttelte dabei kleine Krumen getrockneten Schlamms vom Mantel.

»Seid Ihr das, Ingrey?«, erklang Hetwars Stimme hinter der Tür. »Kommt herein.«

Symark bedachte ihn mit einem Aufschlag der Augenbrauen; Ingrey schlüpfte durch die Tür. Hetwar saß hinter seinem Tisch und bedeutete ihm, die Tür wieder zu schließen.

Ingrey verneigte sich vor dem Fürstmarschall, der mit ausgestreckten Beinen gegenüber von Hetwar saß, und dann vor dem Siegelbewahrer selbst. Beide Männer erwiderten die Geste mit einem Nicken. Dann stand Ingrey da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und wartete auf das nächste Stichwort.

Biast war genauso schlammbespritzt und müde von der Reise wie sein Bannerträger. Der Prinz war ein wenig kürzer gewachsen als sein jüngerer Bruder Boleso und nicht ganz so breit. Dennoch besaß er die athletische Gestalt und die braunen Haare der Hirschendorn-Familie, wie auch deren vorspringendes Kinn, das in seinem Fall sorgfältig rasiert war. Sein Blick wirkte ein wenig aufmerksamer, und falls er Bolesos Sinnenlust und sein aufbrausendes Wesen teilte, hielt er es besser unter Kontrolle.

Biast war erst vor drei Jahren der voraussichtliche Erbe seines Vaters geworden, nach dem vorzeitigen, krankheitsbedingten Tod des ältesten Hirschendorn-Bruders, Prinz Byza. Bevor die Bürde der Erwartungen so schwer auf seine Schultern gefallen war, hatte man den mittleren der Prinzen auf eine militärische Karriere vorbereitet, deren Disziplin ihm wenig Zeit gelassen hatte, um wie Byza einen Ruf für diplomatisches Geschick zu erwerben oder Bolesos Hang zur Genusssucht nachzueifern.

Hetwar war bereits vollständig angekleidet, allerdings nicht in seiner üblichen schmucklosen Garderobe, sondern in voller Hoftrauer. Die Amtskette ruhte schwer auf seinem pelzgesäumten Überwurf. Vermutlich wollte er gleich aufbrechen und sich Bolesos Trauerzug auf dem letzten Stück nach Ostheim anschließen.

Der Siegelbewahrer war von mittlerer Größe, mittlerem Alter und mittlerem Körperbau. Ausschweifungen aller Art zählten nicht zu Hetwars Lastern, auch wenn sich ihm hier bei Hofe genug Gelegenheiten bieten mochten. Ingrey fiel auf, dass der Gelehrte Lewko in gewisser Weise das täuschend milde Auftreten teilte, das auch Hetwar gewohnheitsmäßig an den Tag legte und hinter dem sich vielseitige Fähigkeiten verbargen. Ein beunruhigender Gedanke.

Doch weder am Siegelmeister noch beim Fürstmarschall nahmen Ingreys neu erwachte innere Sinne auch nur den geringsten Geruch des Übernatürlichen wahr. Diese Erkenntnis beruhigte ihn nicht sonderlich. Magische Kräfte mochten manchmal nützlich sein, doch weltliche Macht konnte man zu jeder Zeit nutzen. Und dieser Raum, diese beiden Männer, waren durchtränkt von Letzterem.

Hetwar fuhr sich mit den Fingern durch das dünner werdende Haar und bedachte Ingrey mit einem finsteren Blick. »Es wird auch Zeit, dass Ihr auftaucht.«

»Herr«, erwiderte Ingrey nichtssagend.

Bei seinem Tonfall runzelte Hetwar die Stirn und fasste ihn schärfer ins Auge. »Wo wart Ihr gestern Abend?«

»Was habt Ihr bisher darüber vernommen, Herr?«

Bei dieser vorsichtigen Erwiderung hoben sich Hetwars Mundwinkel ein wenig. »Eine sehr wirre Geschichte von meinem Leibdiener heute Morgen. Ich nehme an, Ihr habt gestern Abend im Tempel nicht wirklich einen tobenden Eisbär mit einem Zauber belegt? Was ist tatsächlich geschehen? Erzählt.«

»Ich bin auf dem Weg hierher zu einem kurzen Botengang im Tempel gewesen, Herr. Tatsächlich hat dort ein Akolyth die Herrschaft über ein neues heiliges Tier verloren, das ihn verwundet hat. Ich … äh, habe geholfen, das Tier zu besänftigen. Als der Tempel es daraufhin dem Spender zurückgab, ersuchte mich der Gelehrte Lewko, das Tier um der Sicherheit willen beim Weg durch die Stadt zu begleiten. Diesem Ersuchen bin ich nachgekommen.«

Bei Lewkos Namen blitzten Hetwars Augen auf. Also kannte er Lewko, selbst wenn Ingrey nichts von diesem Geistlichen gewusst hatte.

Ingrey fuhr fort: »Der Besitzer des Bären, Jokol, stellte sich als Fürst von den südlichen Inseln vor, und es schien mir diplomatisch unklug zu sein, die Gastfreundschaft auf seinem Schiff zurückzuweisen, die er mir aufnötigte. Die Getränke der Inselbewohner erwiesen sich als … nun, mörderisch, und die Werke ihrer Dichter als sehr langwierig. Als Gesca mich rettete, war es bereits zu spät, um Euch noch aufzusuchen.«

Ein leises Schnauben von Biast, mit Blick auf Ingreys blasses Gesicht, zeugte von der Belustigung des Fürstmarschalls. Gut. Es war besser, er machte sich hier mit einer Säufergeschichte zum Gespött als zum Helden einer Geschichte um außer Kontrolle geratene, verbotene Zauberei, gestörte Wunder und Schlimmerem.

»Der Gelehrte Lewko war Zeuge des Zwischenfalls mit dem Bären«, fügte Ingrey noch hinzu, »und der Einzige, den ich Euch als verlässliche Quelle nahe legen kann.«

»Für diese Dinge ist er in besonderer Weise qualifiziert.«

»So habe ich es gehört, Herr.«

Hetwar hielt kurz die Hände still. Mit keiner anderen Geste verriet er, wie er diese Geschichte aufnahm. Er legte die Stirn in Falten und fuhr fort: »Genug von gestern Abend. Mir wurde berichtet, Eure Reise mit Prinz Bolesos Sarg war ereignisreicher, als Eure Schreiben vermuten lassen …«

Ingrey zog den Kopf ein. »Was hat Gesca in seinen Briefen geschrieben?«

»Briefe von Gesca?«

»Er hat Euch keine Berichte zukommen lassen?«

»Er hat mir gestern Abend berichtet.«

»Vorher nicht?«

»Nein. Warum?«

»Ich hatte den Eindruck, dass er schriftliche Berichte abfasst, von denen ich glaubte, sie wären an Euch gerichtet.«

»Habt Ihr es gesehen?«

»Nein«, gab Ingrey zu.

Hetwar runzelte wieder die Stirn.

Ingrey holte tief Luft. »Auf dieser Reise sind ein paar Dinge geschehen, von denen nicht einmal Gesca weiß.«

»Zum Beispiel?«

»Ist Euch bekannt, Herr, dass Prinz Boleso sich an Seelenmagie versucht hat? An Tieropfern?«

Biast zuckte bei diesen Worten überrascht zusammen. Hetwar verzog das Gesicht und sagte: »Ritter Ulkra berichtete mir von derartigen Versuchen. Womöglich war es ein Fehler, einen jungen Mann von solcher Tatkraft dem Müßiggang zu überlassen. Ich hoffe, Ihr habt sämtliche entsprechenden Hinweise beseitigt, wie ich Euch aufgetragen habe. Es bringt niemandem etwas, das Andenken der Toten zu besudeln.«

»Es waren keine müßigen Versuche. Es waren ernsthafte und erfolgreiche Bemühungen, wenn auch unkontrolliert und unbedacht. Sie führten unmittelbar zu einem Geisteszustand, den ich nur als gewalttätigen Wahnsinn bezeichnen kann. Und das führt mich, wie man sich vorstellen kann, geradenwegs zu der Frage, wie lange diese Umtriebe des Prinzen schon andauerten.

Es ist der Verdacht aufgekommen, dass Boleso zu irgendeinem Zeitpunkt die Hilfe eines abtrünnigen Zauberers besaß. Lady Ijada sagte aus, dass Boleso irgendeine wirre Vorstellung hatte, diese Rituale würden ihm eine übernatürliche Macht über die Sippen des Weald verleihen. In der Nacht, in der er versuchte, sie zu vergewaltigen, erdrosselte er einen Leoparden, und sie erschlug ihn bei dem Versuch, sich zu verteidigen.«

Hetwar warf einen besorgten Blick auf Biast, der sich inzwischen aufgerichtet hatte und mit deutlichem Missfallen zuhörte. »Lady Ijada hat das gesagt?«, wandte Hetwar ein. »Ihr seht, wo das Problem liegt?«

»Ich habe den Leoparden gesehen und auch die Schnur, mit der er erdrosselt wurde, und die Farbspuren auf Bolesos Leib sowie das Gemach selbst. Ulkra und mehrere weitere Personen aus dem Gefolge des Prinzen können die Geschichte bestätigen. Ich war von der Wahrheit ihrer Aussage überzeugt, von Anfang an, und später bestärkte mich ein weiterer Vorfall in dieser Überzeugung.«

Hetwar öffnete die Hand in einer ermunternden Geste. Er sah nicht sonderlich glücklich aus.

»Ich habe festgestellt … Man hat aufgedeckt …« Es war schwerer, als Ingrey erwartet hatte. »Irgendwer, in Ostheim oder woanders, hat die Ermordung meiner Gefangenen geplant. Ich weiß nicht, wer es war oder warum er es getan hat.« Unauffällig behielt er Biast im Auge, während er diese Worte sprach. Der Prinz wirkte erschrocken. »Aber das Wie wurde deutlich genug.«

»Wer war dieser Attentäter?«

»Ich.«

Hetwar zwinkerte. »Ingrey …«, setzte er in warnendem Tonfall an.

»Mir wurde offenbar — durch vier gescheiterte Mordversuche an meiner Gefangenen und mit der Hilfe einer Tempelzauberin namens Hallana, der wir in Rottwall begegnet sind und die ganz nebenbei einst Schülerin des Gelehrten Lewko gewesen ist —, dass mir mit magischen Mitteln ein Zwang oder Bann auferlegt wurde. Hallana meinte, es wäre keine gewöhnliche, dämonische Magie gewesen … nichts, das eine Verbindung zu den Kräften des weißen Gottes aufwies.«

Hetwar blickte seinen Krieger von oben bis unten an. »Versteht mich nicht falsch, Ingrey … Ich will Euch nicht vorwerfen, dass Ihr Unsinn redet. Aber ich sehe wirklich keine Möglichkeit, wie irgendjemand, geschweige denn eine junge Frau, einen Zweikampf mit Euch überleben könnte.«

Ingrey verzog das Gesicht. »Wie sich herausstellte, konnte sie schwimmen. Und andere Dinge. Die Zauberin in Rottwall konnte den Bann lösen, zum Glück für uns alle.« Das kam für den Augenblick der Wahrheit nahe genug. »Dieses Ereignis war äußerst eigenartig.« Mit vollkommen ruhiger, gleichmütiger Stimme setzte er hinzu: »Ich bin über alle Maßen wütend, dass ich derart benutzt wurde.«

Eigentlich hatte er vorgehabt, zurückhaltenden Verdruss in seinem Tonfall zum Ausdruck zu bringen. Doch an der Hitze, die in seinem Leib aufstieg, und am Zittern seiner Hände erkannte er, um wie viel mehr als beabsichtigt diese Worte der Wahrheit entsprachen. Biast schnaubte angesichts der unpassenden Zusammenstellung von Aussage und Tonfall, doch Hetwar, der die Gesten von Ingreys Körper deutete, erstarrte.

»Ich habe mir die Frage gestellt, ob Ihr dafür verantwortlich seid, Herr«, fuhr Ingrey mit derselben tödlichen Ruhe fort.

»Nein, Ingrey!«, sagte Hetwar. Er hatte die Augen ein wenig aufgerissen. Seine Hände lagen flach auf dem Tisch und tasteten nicht nach dem Griff seines Hofschwerts. Ingrey konnte sehen, wie schwer dem Siegelbewahrer diese Zurückhaltung fiel.

Ingrey verfolgte nun schon seit vier Jahren, wie Hetwar Lügen und Wahrheit verwob, ganz wie die Situation es erforderte. Was von beidem war es diesmal? Ingrey spürte ein Pochen im Kopf, sein Blut schien zu sieden. War Hetwar ein Verschwörer? Ein Werkzeug? Oder war er schuldlos?

»Sprecht die Wahrheit.«

»Ich habe nichts damit zu tun!«

Stille folgte diesen Worten mit der Wucht eines Axthiebs. Biast saß plötzlich wie in seinen Stuhl gepresst.

Vielleicht hätte ich mir lieber die Zunge abbeißen sollen.

»Das ist gut zu wissen, Herr«, bemerkte Ingrey mit vorgetäuschter Gelassenheit. Und jetzt raus hier! »Wie geht es dem Geheiligten König?«

Das Schweigen dauerte allzu lange, als Hetwar ihn anstarrte. Ohne den Blick von Ingreys Mund zu lösen, gab er dem bestürzten Biast einen knappen Wink. Der befeuchtete sich nach einem fragenden Blick auf den Siegelbewahrer die Lippen: »Ich habe das Krankenlager meines Vaters besucht, bevor ich hierherkam. Es geht ihm schlechter, als ich mir hätte vorstellen können. Er hat mich erkannt, sprach aber nur noch sehr undeutlich. Seine Haut wirkt gelblich, und er ist geschwächt. Er ist beinahe sofort wieder eingeschlafen.« Der Prinz hielt kurz inne und fuhr noch leiser fort: »Seine Haut ist so dünn geworden wie Papier. Er war nie …« Er hielt inne, ehe ihm die Stimme brach.

»Ihr müsst in allernächster Zukunft die Fährnisse einer Königswahl einplanen«, warf Ingrey vorsichtig ein.

Hetwar nickte. Auch Biast nickte, jedoch mit größerem Widerstreben. Die halb gesenkten Lider des Fürstmarschalls verbargen nur unzulänglich seine Besorgnis, und sein Blick auf Hetwar fragte deutlich, ob Ingreys schaurige Empörung dem normalen Verhalten von Hetwars berüchtigtem Wolfskrieger entsprach oder nicht. Hetwars grimmig verkniffener Gesichtsausdruck gab nichts preis.

»Ich bin ziemlich sicher, dass Bolesos verbotene Bemühungen einen Griff nach der geheiligten Krone vorbereiten sollten«, merkte Ingrey an.

»Aber er ist der Jüngere!«, widersprach Biast und fügte hinzu: »War.«

»Das hätte sich korrigieren lassen. Mit magischen Mitteln hätte sich Eure Ermordung sogar ohne Spuren bewerkstelligen lassen. Wie ich feststellen konnte.«

Hetwar wirkte plötzlich sehr nachdenklich: »Es stimmt«, murmelte er, »dass weit mehr Stimmen verkauft und bezahlt wurden, als es gibt. Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, durch welche Lücke dieser Überschuss abfließen sollte …«

»Wie sicher ist das Erbe des Fürstmarschalls?« Ingrey richtete die Frage an Hetwar, mit einem höflichen Nicken in Biasts Richtung. »Sollte der König zufällig dahinscheiden, während so viele Menschen anlässlich der Bestattung Boleros in Ostheim versammelt sind, könnte die Abstimmung doch rasch zu einem Ende kommen.«

Hetwar zuckte die Achseln. »Wie jeder weiß, haben die Falkenmoors und ihre Parteigänger aus den östlichen Landesteilen schon seit langem auf einen solchen Moment hingearbeitet. Es ist nun vier Generationen her, dass sie die geheiligte Königswürde verloren haben, aber sie sind immer noch begierig, ihre alte Vorherrschaft zurückzugewinnen. Meiner Einschätzung nach haben sie nicht genug sichere Stimmen auf sich vereinen können, aber wenn man die unsicheren Stimmen hinzunimmt … Falls Boleso diese insgeheim für seine Sache gewinnen konnte, sind sie nun wieder frei.«

»Seht Ihr diese frei gewordenen Stimmen zu seinem Bruder zurückkehren?« Ingrey schaute zu Biast, der den Eindruck machte, als müsse er immer noch die Andeutung des Brudermords verkraften.

»Möglicherweise nicht«, murmelte Hetwar. »Die Fuchsholzen-Sippe kann zwar selbst den Thron nicht gewinnen, aber sie wird sich darüber klar sein, dass ihre Stimme bei einem knappen Ergebnis entscheidend sein kann. Wenn es mehrere Wahlgänge ohne eindeutiges Ergebnis gibt, kann es durchaus geschehen, dass die Auseinandersetzung mit Schwertern weitergeführt wird.«

Biast blickte nicht eben glücklicher drein, doch bei diesen letzten Worten wanderte seine Hand entschlossen zum Schwertgriff. Hetwar entging dies nicht, und er hob beruhigend die Hand.

»Wenn Prinz Biast beseitigt würde«, warf Ingrey vorsichtig ein, »genau genommen, ob er nun beseitigt wäre oder nicht: Ich würde vermuten, dass ein Zauber, der einen Mord bewirken kann, ebenso leicht auch insgeheim eine Stimme umlenken könnte.«

»Tatsächlich«, hauchte Hetwar. Er hätte nicht unbewegter dasitzen können. »Und, Ingrey? Könntet Ihr einen solchen Zauber wahrnehmen?«

»Inzwischen kann ich es.«

»Hm.« Sein Blick auf Ingrey wurde abwägend.

Also bin ich erst einmal gerettet, jedenfalls, wenn es nach Hetwar geht. Möglicherweise.

Hetwar stieß einen Laut aus, irgendwo zwischen einem Ächzer und einem Seufzen. Erneut fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar. »Und ich dachte die ganze Zeit, Bestechung, Nötigung, Drohungen und Doppelzüngigkeit wären das Einzige, womit ich mich auseinandersetzen müsste.« Wieder schaute er Ingrey an, und seine Augen verengten sich bei einem neuen Gedanken. »Und wen verdächtigt Ihr dieser unerlaubten Zauberei, wenn nicht mich?«

Ingrey bedachte ihn mit einem höflichen, entschuldigenden Achselzucken. Wenn Euch Euer Leben etwas bedeutet, so wahrt Eure Geheimnisse, und die meinen … »Ich verfüge noch nicht über hinreichende Beweise. Es ist eine ernste Anschuldigung.«

Hetwar verzog das Gesicht. »Wie ich sehe, hat Euer Sinn für Untertreibungen Euch nicht verlassen. Ihr wisst, dass die Kirche sich mit dieser Angelegenheit befassen wird.«

Ingrey nickte unglücklich. Er wollte, dass der Verursacher des bösartigen Bannes — selbst in Gedanken schreckte er vor den allzu präzisen Begriffen Zauberer oder Schamane zurück — zur Strecke gebracht wurde. Er war sich allerdings nicht ganz so sicher, ob er selbst mit ihm zur Strecke gebracht werden wollte. Aber es war zumindest eine große Erleichterung, dass Hetwar als unerschütterliche Wand in seinem Rücken stand. Ingrey betete darum, dass diese Wand nicht beschädigt worden war, als er sie auf die Probe gestellt hatte.

Und wenn Hetwar nicht mit Ijadas Möchtegern-Mördern im Bunde stand, war er vielleicht auch einer Bitte um Gerechtigkeit nicht abgeneigt? Wann sonst böte sich für Ingrey in nächster Zeit noch einmal die Gelegenheit, unmittelbar auch Prinz Biast anzusprechen? Er holte tief Luft.

»Es bleibt noch die Angelegenheit mit Lady Ijada. Wenn Ihr Bolesos jüngsten Wahnsinn und seine blasphemischen Umtriebe verschleiern wollt, dürfte auch ein Prozess nicht in Eurem Interesse liegen. Ihr könntet dafür sorgen, dass die vorangehende Anhörung einen Akt der Selbstverteidigung feststellt, oder besser noch: einen Unfall, und sie gehen lassen.«

»Sie hat meinen Bruder umgebracht«, warf Biast entrüstet ein.

»Dann könntet Ihr dafür ein angemessenes Wergeld festsetzen, gemäß der Tradition des Alten Weald — vielleicht nicht unerreichbar hoch«, fügte Ingrey vorsichtig hinzu. »Damit wären Ehre und Diskretion gleichermaßen Genüge getan.«

»Ein solcher Präzedenzfall wäre für die königliche Familie kaum vorteilhaft«, widersprach Hetwar. »Genauso gut könnte man gleich die Jagdzeit auf alle Hirschendorns einleiten oder womöglich sogar auf alle fürstlichen Herren. Es gibt gute Gründe, dass die Kirche des Vaters so viel Mühe darauf verwendet hat, diese alte Tradition zu unterbinden. Die Reichen könnten damit ohne große Sorge die Leben der weniger Begüterten kaufen.«

»Und jetzt können sie das nicht?«, fragte Ingrey.

Hetwar bedachte ihn mit einem warnenden Brummen. »Es wäre sicher der bessere Weg, die Hinrichtung so rasch und schmerzlos wie möglich hinter sich zu bringen. Vielleicht könnte man ihr das Schwert gewähren, anstelle des Galgens oder Scheiterhaufens, oder ihr eine vergleichbare Gnade zuteil werden lassen.«

Und ich bin Schwertkämpfer. »Da steckt noch mehr hinter dieser ganzen Angelegenheit, als bisher … enthüllt worden ist.« Er hatte diese Karte nicht ausspielen wollen, doch die verschlossenen Gesichter der beiden erschreckten ihn. Er hatte seine Gedanken in ihre Köpfe gepflanzt; vielleicht sollte er dieser Saat die Zeit verschaffen, um aufzugehen. Sollte ihr Leben verwirkt sein, nur weil ich es nicht wage, das Wort zu ergreifen? »Ich glaube, sie wurde von den Göttern berührt. Wenn Ihr sie verfolgt, so tut Ihr das auf Eure eigene Gefahr.«

Biast schnaubte. »Eine Mörderin? Wohl kaum. Und wenn, sollen die Götter ihr einen Streiter schicken.«

Ingrey hielt die Luft an, damit er sie nicht ausstieß, als habe man ihm in den Magen geschlagen.

Das haben Sie, wie es scheint. Nur keinen besonders guten. Man sollte doch meinen, die Götter hätten Besseres aufzubieten …

Er fand andere Worte für seinen zurückgehaltenen Atem: »Seit wann ist die geheiligte Königswürde schon derart sinnentleert? Das war einst eine heilige Angelegenheit. Seit wann wagen wir es, damit wie mit einer Ware zu handeln, die sich nach den besten Geboten kaufen und verkaufen lässt? Wann sind die heiligen Streiter der Götter zu Krämern geworden?«

Diese Worte endlich versetzten Hetwar einen Stich, denn er richtete sich empört auf. »Ich benutze die Gaben, die die Götter mir verliehen haben, einschließlich der Urteilskraft und der Vernunft. Meine Aufgaben, meine Mittel. Ich habe dem Weald schon gedient, ehe Ihr geboren wart, Ingrey. Es gab niemals ein goldenes Zeitalter. Da war immer nur Eisen.«

»Die Götter haben keine Hände in dieser Welt, außer den unseren. Wenn wir Sie im Stich lassen, an wen können Sie sich dann wenden?«

»Ingrey, bitte!«

Biast rieb sich die Stirn. »Genug davon! Wenn ich noch an diesem Leichenzug teilnehmen soll, muss ich mich waschen und umkleiden.« Er stand auf, streckte sich, zuckte zusammen.

Hetwar erhob sich ebenfalls. »Allerdings, Fürstmarschall. Ich muss ebenfalls losreiten.« Er funkelte Ingrey an. »Wir unterhalten uns wieder, wenn Ihr Euer Temperament ein wenig besser im Zaum halten könnt, Lord Ingrey. In der Zwischenzeit bewahrt Stillschweigen über diese Angelegenheiten.«

»Der Gelehrte Lewko wünscht mich zu befragen.«

Hetwar stieß den Atem aus. »Lewko. Ich kenne ihn. Ein alles andere als hilfreicher Mann, meiner Erfahrung nach.«

»Ich kann es nicht wagen, die Kirche herauszufordern.«

»Ach? Das überrascht mich. Ich dachte immer, Ihr fordert jeden heraus, wann immer Ihr’s für richtig haltet.«

Ingrey war sich nicht sicher, wie lange sie einander anstarrten, doch Biast war als Erster an der Tür. Hetwar musste zwangsweise folgen, und er winkte Ingrey hinaus. »Ihr solltet Lewko lieber nicht belügen. Ich werde später mit ihm reden. Und mit Euch.« Er blickte nach unten. »Und blutet mir nicht den Teppich voll.«

Ingrey zuckte zusammen und umfasste seine rechte Hand mit der Linken. Der Verband war durchgeblutet und fing an zu tropfen.

»Was ist mit Eurer … nein, erzählt es mir später. Begleitet mich bei der Bestattungszeremonie. Und zieht Euch anständig an«, befahl Hetwar.

»Herr.« Ingrey verbeugte sich hinter dem bereits davonmarschierenden Hetwar. Symark war inzwischen den Saal entlanggeschlendert und hatte sich in die Wandteppiche vertieft. Jetzt beeilte er sich, den Prinzen wieder einzuholen.

So. Hetwar würde also erst einmal nachdenken, ehe er etwas unternahm. Ingrey wusste nicht, ob er dies als beruhigend betrachten sollte.

Als Ingrey wieder auf die Straße trat, war es endgültig Tag geworden in Ostheim. Er schlängelte sich durch eine lebhafte Menschenmenge auf den Fluss zu. Ijada war inzwischen aufgewacht; er fühlte es im Herzen. Er erkannte, dass bislang eine unterschwellige Panik seine Schritte bestimmt hatte; nun, da diese Empfindung verschwunden war, fanden seine Füße ihren eigenen Rhythmus. Und der war eher langsamer. Funktionierte diese eigenartige neue Wahrnehmung in beide Richtungen? Er würde Ijada fragen müssen.

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