Kapitel Acht

Ingrey ging wieder nach oben auf sein Gemach und packte die Satteltaschen. Dann hielt er nach Gesca Ausschau. Die Ausrüstung seines Truppführers lag nicht mehr in der Ecke der Gaststube. Ingrey folgte der matschigen Straße durch Mittelstadt — das seiner Ansicht nach besser Mitteldorf heißen sollte — bis zu dem kleinen hölzernen Tempelgebäude, in der Hoffnung, Gesca dort anzutreffen. Er dachte schon darüber nach, in welchem der halben Dutzend Ställe des Ortes, die sie für ihre Pferde und ihre Ausrüstung requiriert hatten, er Gesca vielleicht antreffen könnte, aber diese Überlegungen erwiesen sich als unnötig. Gesca stand im Schatten des breiten Tempelvordachs und sprach dort mit dem Grafen von Rossfluten.

Gesca blickte zu Ingrey auf, zuckte zusammen und verstummte. Wenzel nickte ihm nur knapp zu.

»Ingrey«, sagte Wenzel. »Wo sind Ritter Ulkra und der Rest von Bolesos Gefolge jetzt? Noch immer auf Burg Keilerkopf? Oder folgen sie Euch? «

»Sie kommen hinterher, zumindest habe ich es ihnen so aufgetragen. Ich weiß allerdings nicht, wie schnell. Ulkra hat in Ostheim nicht viel Gutes zu erwarten.«

»Nun, egal. Bis ich die Muße finde, mich ihrer anzunehmen, werden sie zweifellos auch eingetroffen sein.« Er seufzte. »Meine Pferde bedürfen ein wenig der Ruhe. Bereitet doch bitte unseren Aufbruch für die Mittagsstunde vor. Wir sollten trotzdem in der Lage sein, Ochsauen noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen.«

»Gewiss, Herr«, erwiderte Ingrey förmlich und wandte sich Gesca zu, der unglücklich dreinblickte. Wenzel winkte zum Abschied und verschwand im Tempel.

»Und was hatte Graf Rossfluten mit dir zu bereden?«, wollte Ingrey leise von Gesca wissen, während sie erneut die Straße entlang gingen.

»Er ist nicht sonderlich zufrieden. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie übel es aussähe, wenn er seinen Schwager tatsächlich gemocht hätte. Aber es ist offensichtlich, dass er über dieses Durcheinander sehr ungehalten ist.«

»So viel habe ich bereits mitbekommen.«

»Trotzdem ist er ein beeindruckender junger Mann, auf seine Art. Trotz seines Aussehens. Das habe ich mir schon bei Prinzessin Faras Hochzeit gedacht.«

»Warum?«

»Hm. Es war nicht so, dass er etwas Besonderes getan hätte. Er hat einfach nie …«

»Hat nie was?«

Gesca verzog den Mund. »Ich … es lässt sich nur schwer ausdrücken. Er hat nie einen Fehler gemacht, wirkte nie unsicher, war nie zu spät oder zu früh … und nie betrunken. Es ist nur ein Eindruck, der sich im Laufe der Zeit allmählich aufdrängt. Eindrucksvoll trifft es wohl am besten. In gewisser Weise erinnert er mich an Euch, wenn man auf den Verstand schaut und nicht auf die Muskeln.« Gesca zögerte und verzichtete dann umsichtigerweise darauf, diesem Vergleich tiefer in den Abgrund zu folgen.

»Wir sind verwandt«, bemerkte Ingrey vage.

»Allerdings, Herr.« Gesca bedachte ihn mit einem Seitenblick. »Er war sehr an Hochwürden Hallana interessiert.«

Ingrey verzog das Gesicht. Nun, das war ja nicht anders zu erwarten. Zu diesem Thema würde er von Wenzel noch mehr zu hören kriegen, ehe der Tag vorüber war. Dessen war er sich sicher.


Der Geistliche des Tempels von Mittelstadt war ein junger, einfacher Akolyth. Die Heimsuchung durch den Leichenzug des Prinzen, die mit nur einem halben Tag Vorwarnung auf ihn eingestürzt war, hatte ihn schier in Panik versetzt. Doch was für Zeremoniell auch immer der Graf von Rossfluten vorbereiten sollte, offensichtlich sollte es noch nicht hier beginnen. Die Reiterschar verließ die Stadt pünktlich zur Mittagsstunde, mit einer Aura nüchterner Zweckmäßigkeit, wie Ingrey sie nicht einmal bei größter Verstimmung zu diesem Anlass an den Tag zu legen gewagt hätte. Tief in seinem Innern zollte er dieser Entwicklung Beifall, und er hinterließ dem bleichen Akolythen eine angemessene Spende, um ihn für seine Ängste zu entschädigen.

Mittelstadt war noch nicht außer Sicht, als Wenzel auch schon seinen Fuchs neben Ingreys Pferd lenkte und murmelte: »Reitet ein wenig mit mir voran. Ich muss mit Euch reden.«

»Gewiss.« Ingrey ließ sein Reittier in Trab fallen. Als er an ihr und dem Wagen vorüberritt, schenkte er Ijada ein Lächeln, von dem er hoffte, dass es beruhigend wirkte. Wenzel bedachte sie nur mit einem nichts sagenden Gruß.

Als sie für mögliche Lauscher außer Hörweite waren, wandte Wenzel sich im Sattel um, merkte aber nur an: »Wo habt Ihr nur diese Bierkutsche aufgetrieben?«

»In Riedenswooge.«

»Ah! Dann gibt es ja zumindest etwas an diesem Leichenzug, das zu Bolesos Geschmack passt. Sie schaffen aus Ostheim diesen silberbeschlagenen königlichen Leichenwagen herbei. Er soll in Ochsauen zu uns stoßen. Ich hoffe, er bringt unterwegs nicht irgendwelche Brücken zum Einsturz.«

»Allerdings.« Ingrey versuchte, einen unbewegten Gesichtsausdruck zu wahren.

»Mein Gefolge erwartet mich in Ochsauen, um heute Nacht für mein Wohlergehen zu sorgen. Und für das Eure, wenn Ihr Euch mir anschließen wollt. Ich möchte Euch sehr dazu raten. Wenn erst einmal all die Höflinge für diesen Leichenzug eingetroffen sind, wird sich dort nicht für Geld und gute Worte eine Unterkunft auftun lassen.«

»Ich danke Euch«, erwiderte Ingrey aufrichtig. Er hatte schon erlebt, wie bei gewissen, unbequemen Reisen des königlichen Hofes verzweifelte Gefolgsleute Duelle ausgetragen hatten, um noch einen Platz auf einem Heuboden zu ergattern.

Wenzel hatte für sich gewiss die besten verfügbaren Quartiere gesichert.

»Berichtet mir doch von dieser Gelehrten Hallana, Ingrey«, sagte Wenzel plötzlich.

Wenigstens tadelte er Ingrey nicht dafür, dass er sie nicht vorher erwähnt hatte. Ingrey fragte sich, ob er darüber erleichtert sein sollte. »Ich denke, sie ist genau das, was sie zu sein vorgab: Eine Freundin von Lady Ijada, die sie von Kindheit an kennt. Sie war eine Art Heilkundige in der Festung des Ordens des Sohnes in den westlichen Feuchtmarschen — Ijadas Vater war dort ein Kapitelherr und Befehlshaber der Festung.«

»Ja, ich habe bereits von Lord dy Castos gehört. Ijada hat von ihm erzählt. Aber mir will einfach nicht aus dem Kopf, was für ein eigentümlicher Zufall das doch ist: Ein Zauberer mit einer gewissen Verbindung zu Lady Ijada — und zu ihrer jüngsten Heimsuchung — verschwindet auf Burg Keilerkopf. Tage später taucht ein Zauberer — oder eine Zauberin — mit einer Verbindung zu Ijada in Rottwall bei ihr auf. Macht das nun zwei Zauberer oder einen?«

Ingrey schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Hochwürden Hallana auf Burg Keilerkopf unbemerkt geblieben wäre. Sie ist alles andere als unauffällig. Außerdem ist sie hochschwanger, und so weit ich verstanden habe, schränkt das die Nutzbarkeit ihres Dämons sehr ein. In Neresblatt lebt sie aus Sicherheitsgründen sehr abgeschieden. Ich gebe zu, ich habe keinen unmittelbaren Beweis dafür, bin mir aber sicher, dass Boleso schon tief in seine verhängnisvollen Machenschaften verstrickt war, als er vor sechs Monaten seinen Diener auf so bizarre Weise ermordete. Und dann wäre auch sein Privatzauberer in Ostheim oder in der Nähe zu suchen.«

Zweifelnd runzelte Wenzel die Stirn.

»Es ist ein ebenso großer Fehler, Wahrheit für Lügen anzusehen wie Lügen für die Wahrheit«, hob Ingrey hervor. »Diese zweifache Geistliche war gewiss eine ungewöhnliche Dame, aber sie als Bolesos Marionette anzusehen wäre doch eine Ungewöhnlichkeit zu viel. Es passt einfach nicht. Zunächst einmal wirkte sie dafür nicht dumm genug.«

Wenzel neigte den Kopf und gestand Ingrey diesen Einwand zu. »Und wenn wir annehmen, sie wäre sein Puppenspieler gewesen?«

»Weit weniger unwahrscheinlich«, räumte Ingrey zögernd ein. »Aber … nein.«

Wenzel seufzte. »Dann muss ich diese Vermutung wohl wieder aufgeben, auch wenn sie vieles vereinfacht hätte. Es gibt also zwei unterschiedliche Zauberer. Aber wie unterschiedlich? Könnte Bolesos Helfershelfer womöglich nach diesem Debakel zu dieser Hallana geflohen sein? Machen die beiden gemeinsame Sache?«

Ein beunruhigender Gedanke. Plötzlich kam Ingrey in den Sinn, dass auch der — irreführende? — Vorschlag, dass sein Bann ihm in Ostheim auferlegt worden war, von Hallana stammte. »Wenn man die zeitliche Abfolge betrachtet … wäre es nicht ausgeschlossen.«

Wenzel stieß unzufrieden die Luft aus und starrte einen Augenblick lang zwischen den Ohren seines Pferdes nach vorne. »Wie ich hörte, hat die gelehrte Geistliche einen Brief aufgesetzt. Habt Ihr ihn bereits gelesen?«

Verdammt sollst du sein, Gesca. Und verdammt auch diese schwatzhafte Zofe. Was wusste Wenzel sonst noch? »Er wurde nicht in meine Obhut gegeben. Sie reichte ihn direkt Lady Ijada. Versiegelt.«

Wenzel winkte diesen Einwand abschätzig beiseite. »Gewiss hat man Euch doch darin unterwiesen, wie man mit so etwas zurechtkommt.«

»Was gewöhnliche Briefe betrifft, ja. Doch dieser stammt von einer Tempelzauberin. Ich will gar nicht herausfinden, was mit dem Brief geschehen kann — oder mit mir —, wenn ich mich daran zu schaffen mache. Vielleicht in Flammen aufgehen.« Er überließ es Wenzel, sich zu überlegen, ob damit der Brief gemeint war oder Ingrey selbst. »Ihn an Hetwar weiterzuleiten, würde zusätzliche Schwierigkeiten aufwerfen. Zumindest brauchte er einen weiteren Tempelzauberer, um ihn zu öffnen. Und selbst dem königlichen Siegelbewahrer dürfte es schwer fallen, einen Tempelzauberer dazu zu bringen, einen Brief an das Oberhaupt seines eigenen Ordens auszuspionieren.«

»Also benötigt er einen abtrünnigen Zauberer.« Auf Ingreys empörten Gesichtsausdruck hin verteidigte sich der Graf: »Nun, Ihr müsst Hetwar zugestehen, dass er einen solchen finden kann, wenn überhaupt irgendjemand — und wenn es ihm so beliebt.«

»Wenn sich diese hypothetischen Zauberer weiterhin so vermehren, müssen wir sie bald wie die Schinken an die Dachsparren hängen, um Platz zu schaffen.« Allerdings fiel Ingrey mit Unbehagen ein, dass ja auch noch sein eigenartiger Bann hinzukam.

Wenzel nickte knapp und unzufrieden und schwieg dann eine Weile. »Nun, wo wir gerade von Schinken sprechen«, fuhr er schließlich fort, und seine Stimme hatte einen unverbindlichen Plauderton angenommen. »Ihr müsst nicht annehmen, Vetter, dass Ihr ein besonders guter Lügner seid. Es ist nur so, dass selten jemand wagemutig genug ist, Euch einer Lüge zu bezichtigen. Aus diesem Grunde habt Ihr womöglich eine etwas schmeichelhafte Vorstellung davon entwickelt, wie gut Ihr es versteht, die Wahrheit zu verbergen.« Seine Stimme wurde härter. »Was ist in diesem Gemach im Obergeschoss tatsächlich geschehen?«

»Wenn ich mehr darüber zu berichten hätte, wäre es meine Pflicht, Lord Hetwar als Erstem davon zu erzählen.«

Wenzel hob die Augenbrauen. »Ach, ist das so? Als Erstes, aber … noch nicht jetzt? Zufällig habe ich Eure Briefe an Hetwar zu lesen bekommen. Die Zahl der Dinge, die nicht darin erwähnt waren, ist durchaus bemerkenswert, wie sich allmählich zeigt. Zauberinnen, eigenartiger Lärm. Halbes Ertrinken. Euer romantischer Stellvertreter Gesca ist sogar der Ansicht, Ihr hättet Euch verliebt, was ebenfalls — wenn auch verständlicherweise — in Euren Schreiben nicht erwähnt wird.«

Ingrey errötete. »Briefe können verloren gehen. Oder in falsche Hände geraten.« Er funkelte den Grafen an.

Wenzel öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Dann war er eine Weile mit seinem Pferd beschäftigt, während er und Ingrey sich trennten und einem morastigen Wegstück auswichen. Als sie wieder Seite an Seite ritten, meinte Wenzel: »Ich bitte um Vergebung, wenn ich unziemlich neugierig erscheine. Aber ich habe viel zu verlieren.«

Mit vorgetäuschtem Leichtmut erwiderte Ingrey: »Wohingegen ich bereits alles verloren habe. Kurgraf.«

Wenzel legte eine Hand aufs Herz, um den Treffer zu bestätigen. Aber ruhig fügte er hinzu: »Ich habe auch an eine Frau Gemahlin zu denken.«

Nun war Ingrey an der Reihe, verlegen zu verstummen. Nur weil Wenzels Heirat arrangiert war — und bisher kinderlos —, bedeutete das nicht notwendigerweise, dass sie ohne Zuneigung war. Sowohl von der einen wie von der anderen Seite. Genau genommen verriet Prinzessin Faras Verrat an ihrer Zofe eine glühende, verzweifelte Eifersucht, die nicht eben von gelangweilter Gleichgültigkeit zeugte. Und eine Tochter des Geheiligten Königs musste für einen unansehnlichen jungen Mann wie Wenzel als besonders gute Partie erscheinen, trotz seines eigenen hohen Standes.

»Außerdem«, fügte Wenzel wieder lockerer hinzu, »ist es ein überaus qualvoller Tod, lebendig verbrannt zu werden. Ich kann nur davon abraten. Ich glaube, dieser verschwundene Zauberer könnte uns allein schon in dieser Hinsicht beide in Gefahr bringen. Er weiß eine Menge, was er nicht wissen sollte. Wir sollten ihn zuerst aufspüren. Wenn sich herausstellt, dass er nicht über Informationen verfügt, die mich selbst in Verlegenheit bringen könnten, werde ich ihn anschließend mit dem größten Vergnügen an Hetwar übergeben.«

Und wenn dieser Zauberer tatsächlich eine Gefahr für ihn darstellte, was hatte Wenzel dann vor? Und, bei den fünf Göttern, wie? »Selbst wenn man all meine anderen Verpflichtungen außer Acht lässt — das wäre keine Festnahme, die ich zuwege bringen könnte, auf eigene Faust oder anders.«

»Und wenn Ihr das könntet? Würde es Euch nicht reizen, im Vorhinein selbst zu prüfen, was es auf diesem Wege in Erfahrung zu bringen gibt?«

»Wozu?«

»Zum Überleben.«

»Ich überlebe.«

»Das habt Ihr bisher. Aber Euer kirchlicher Dispens hängt zum Teil von einer sichernden Leine ab, die nun zerrissen ist.«

Argwöhnisch blickte Ingrey ihn an. »Wie das?«

Wenzels Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. »Ich könnte es allein schon daraus erschließen, wie sich Eure Wahrnehmung von mir so plötzlich gewandelt hat. Aber das muss ich gar nicht: Ich kann es sehen! Euer Tiergeist liegt ruhig in Eurem Innern, doch allein aus langjähriger Gewohnheit. Nichts bindet ihn noch, abgesehen von dem Umstand, dass Ihr ihn nicht anruft. Früher oder später werdet Ihr auf einen Geistlichen stoßen, der mit feinen Sinnen gesegnet ist und es bemerken wird. Oder Ihr selbst lasst Euch einen Schnitzer zuschulden kommen und verratet Euch.« Er sprach leise und eindringlich. »Ihr müsst nicht unbedingt Eure Hand abschneiden, wenn Ihr Eure Faust fürchtet, Ingrey. Es gibt andere Möglichkeiten.«

»Woher wisst Ihr das?«

Wenzel zögerte diesmal länger, ehe er weitersprach. »Die Bibliothek auf Burg Rossfluten ist ein bemerkenswerter Ort«, setzte er ausweichend an. »Viele meiner Vorfahren haben altes Wissen gesammelt, und zumindest einer von ihnen war ein Gelehrter von Rang. Dort ruhen Schriften, von denen ich mir sicher bin, dass es sie nirgendwo anders noch zu finden gibt. Einige davon sind viele Jahrhunderte alt. Dinge, die die Kirchenleute des alten Audar ohne Zögern verbrannt hätten. Die erstaunlichsten Augenzeugenberichte — ich werde Euch bei Gelegenheit die eine oder andere Anekdote erzählen. Genug jedenfalls, um selbst einen nicht allzu lesefreudigen Jungen mitunter zu fesseln. Und ihn später … so verzweifelt weiterlesen zu lassen, als hinge sein Leben davon ab.« Er blickte Ingrey in die Augen. »Ihr seid Eurer so genannten Heimsuchung begegnet, indem Ihr nicht einmal vor Euch selbst eingestehen wolltet, was Ihr seid. Ich habe mich meiner gestellt und sie umarmt. Wer von uns beiden, meint Ihr, hat es inzwischen besser unter Kontrolle?«

Ingrey stieß die Luft aus. »Ihr gebt mir vieles, worüber ich nachdenken muss, Wenzel.«

»So denkt darüber nach. Aber wendet Euch nicht wieder von dem Wissen ab, das Euch helfen kann, Euer Schicksal besser zu verstehen. Darum möchte ich Euch bitten.« Sanfter fügte er hinzu: »Wendet Euch nicht von mir ab.«

Gewiss nicht. Ich würde niemals wagen, Euch den Rücken zuzukehren. Er bedachte Wenzel mit einem vieldeutigen Gruß.

Der Leichenzug gelangte an eine steinige Furt. Zum Glück stand das Wasser hier nicht so hoch wie bei dem beinahe katastrophal verlaufenen Übergang am ersten Tag. Ingrey konzentrierte sich ganz darauf, alle sicher hinüberzubringen. Eine Meile weiter blieb die Kutsche beinahe in einem Schlammloch stecken, und dann lahmte das Reittier eines Wachsoldaten, das ein Hufeisen verloren hatte. Schließlich, als sie anhielten, um die Pferde zu tränken, kam es zu einem offenen Streit zwischen zwei von Bolesos Gefolgsleuten. Es war eine persönliche Auseinandersetzung, die offenbar schon länger geschwelt hatte und nun zum Ausbruch kam. Ingreys übliche Drohungen reichten so gerade eben, um sie im Zaum zu halten. Als er sich von den beiden getrennten Kontrahenten abwandte, war er blass vor Sorge bei dem Gedanken daran, was beim nächsten Mal geschehen konnte, falls die Drohung allein nicht mehr ausreichte und er zum Handeln gezwungen war. Doch zum Glück missdeuteten sie seinen Gesichtsausdruck als Zorn.

Er stieg wieder aufs Pferd, und sein Antlitz war kreidebleich. Wenzel, so viel musste er zugeben, wusste in dem ganzen Durcheinander seinen Verstand zu gebrauchen. Die gewundene Gesprächsführung des Grafen vermittelte Ingrey den Eindruck, als würden sie beide einen Fechtkampf in der Finsternis austragen und mit den Klingen nach unsichtbaren Zielen stoßen. Beide verbargen gefährliche Geheimnisse voreinander, oder enthüllten sie einander, fintierten und parierten … zu gleichen Teilen? Ich glaube, Wenzel verbirgt mehr. Um der Gerechtigkeit die Ehre zu erweisen: Wenzel schien auch derjenige zu sein, der mehr preisgab.

Ingrey hatte bisher den eigenartigen Bann, der ihm auferlegt worden war, für seine drängendste Sorge gehalten. Der Gedanke, dass Wenzels altes Wissen ihm in dieser Hinsicht wertvolle Hinweise geben mochte, wirkte zweifach stimulierend: Es bedeutete möglicherweise, dass Ingrey auf einen Verbündeten hoffen konnte. Genauso legte es aber auch nahe, dass Ingrey hier seinem verborgenen Feind gegenüberstand. Was sonst sollte er davon halten, dass ein abtrünniger Zauberer für Wenzel anscheinend nur eine kleinere Unannehmlichkeit darstellte, um die man sich beiläufig kümmern konnte? Er blickte zur Spitze des Zuges, wo Wenzel nun wieder außer Hörweite ritt und einen von Bolesos Männern befragte. Dieser Wachsoldat war ein hünenhafter Kerl, der allerdings so sehr die Schultern hängen ließ, als wolle er sich kleiner machen.

Wenzel hatte eine ganze Anzahl von Ködern vor Ingrey auf dem Weg ausgelegt, und doch waren es nicht die neuen Rätsel, die ihn am meisten beschäftigten und zwischen Neugier und Furcht verharren ließen, sondern die alten Fragen. Was weiß Wenzel über meinen Vater und seine Mutter, was ich nicht weiß?


Ochsauen war größer als Rottwall, trotzdem wurde Bolesos Leichenzug an diesem Nachmittag mit nur mäßigem Aufwand im großen, steinernen Tempel der Stadt in Empfang genommen. Das lag wohl in erster Linie daran, dass die Stadt sich auf noch prunkvollere Festlichkeiten am nächsten Tag vorbereitete und darüber zu einem Tollhaus geworden war.

Ingrey atmete auf, als er die Verantwortung für den Leichnam und seine Begleiter endlich an Wenzel übergeben konnte. Wenzel übertrug sie seinerseits seinem nüchtern wirkenden Seneschall und einem aufgeregten Haufen Geistlicher aus dem Tempel von Ostheim, mit einem beeindruckenden Aufgebot von Gefolgsleuten und Schreibern. Erleichtert stellte Ingrey fest, dass Prinzessin Fara und ihr eigener Haushalt nicht mit angereist waren, sondern in der Hauptstadt auf sie warteten. Die Dämmerung war noch nicht hereingebrochen, als Ingrey und seine Schar wieder aufsaßen und Wenzel mitsamt der Gefangenen durch die verwinkelten Straßen folgten.

Am Rand eines belebten Platzes zügelte Wenzel sein Pferd. Ingrey hielt neben ihm. Ein zusammengewürfelt aussehender Markt war so spät noch geöffnet, vermutlich eigens für die Höflinge und ihr Gefolge, die bereits für die letzte Etappe von Bolesos Leichenzug angereist waren. Im ersten Augenblick wusste Ingrey nicht, was Wenzels Aufmerksamkeit erregt hatte, doch als er dem Blick des Grafen vorbei an den geschäftigen Verkaufsständen folgte, sah er einen Fiedler an einer Ecke stehen, den Hut einladend vor die Füße gestellt. Der Musiker spielte besser als die meisten seiner Art, und von seinem lieblichen Instrument stiegen eigentümlich melancholische Klänge in die goldene Abenddämmerung.

Nach einer Weile stellte Wenzel fest: »Das ist eine sehr alte Melodie. Ich frage mich, ob er selbst weiß, wie alt sie ist. Er spielt es … beinahe richtig.«

Wenzel hielt sein Gesicht abgewandt, bis das Lied zu Ende war. Während er so nach vorne blickte, sah sein Profil eigenartig aus. Angespannt, aber nicht im Zorn oder vor Furcht; mehr wie ein Mann, der weinen wollte über einen unersetzlichen Verlust. Wenzel verzog das Gesicht, und die Spannung wich von ihm. Mit einem Schnalzen setzte er sein Pferd in Bewegung, ohne zurückzublicken. Er schickte auch niemanden aus, eine Münze in den Hut des Fiedlers zu werfen, obwohl der Musikant voll enttäuschter Hoffnung hinter der wohlhabend aussehenden Gesellschaft herblickte.

Schließlich gelangten sie an das geräumige Haus, das Wenzel gemietet oder beschlagnahmt hatte. Es gehörte zu einer ganzen Reihe ähnlicher Gebäude im reichen Kaufmannsviertel der Stadt. Glänzende, rosettenförmige Messingbeschläge schmückten die schweren Bohlen der Eingangstür. Ingrey überließ sein Pferd Gesca, nahm die Satteltaschen auf die Schultern und sah zu, wie Lady Ijada und ihre junge Zofe von einem Dienstmädchen nach oben geführt wurden. Der angespannten Begrüßung entnahm er, dass dieses Dienstmädchen Ijada zuvor schon gekannt hatte. Wie es schien, war Ijadas Fall für das Gesinde der Rossflutens ebenso verwirrend und schwer zu werten wie für ihren Herr.

Bevor Wenzel sich von ihm trennte und sich um das Bündel Briefe kümmerte, das während seiner Abwesenheit eingegangen war, flüsterte er Ingrey zu: »In einer Stunde werden wir speisen, Ihr, Ijada und ich. Es könnte für geraume Zeit unsere letzte Gelegenheit für eine vertrauliche Unterredung sein.«

Ingrey nickte.

Er wurde zu einer kleinen Kammer im Obergeschoss geleitet, wo eine Schüssel und eine Kanne mit heißem Wasser für ihn bereitstanden. Offensichtlich war es die Dienstbotenunterkunft der wohlhabenden Familie gewesen, die der Graf aus diesem Haus vertrieben hatte. Doch die Abgeschiedenheit der Kammer kam Ingrey sehr recht. Rossflutens Diener drängten sich während dieser Krise vermutlich in einem schlechteren Schlafsaal oder gar auf einem Heuboden, und Gesca und seinen Leuten dürfte es auch nicht viel besser ergehen. Ingrey ging allerdings davon aus, dass Rossflutens Koch sie ein wenig dafür entschädigen würde.

Ingrey machte sich frisch. Seine Garderobe war zu eingeschränkt, als dass sie ihn lange hätte aufhalten können. Er hatte Kleidung für beschwerliches Reisen eingesteckt, nicht für höfisches Speisen. Nachdem er gewaschen und umgezogen war, erwog er, sich in das bereitstehende Bett zu legen, fürchtete jedoch, nicht wieder auf die Beine zu kommen, wenn er sich erst einmal hingelegt hatte. Also stieg er die schmale Treppe hinunter; er wollte das Haus und die umliegenden Straßen erkunden und vielleicht auch nach Gesca sehen, wenn der Stall in der Nähe lag. Auf dem nächsten Treppenabsatz allerdings hielt er inne, als er vom Gang her Wenzels Stimme hörte. Er wandte sich in diese Richtung.

Wenzel redete mit Ijadas Zofe, die eingeschüchtert und mit großen Augen zuhörte. Beim Klang von Ingreys Schritten fuhr er herum und verzog das Gesicht. »Ihr könnt Euch entfernen«, ließ er die Zofe wissen, die sich mit einem hastigen Knicks durch eine Tür zurückzog, die vermutlich in Ijadas Gemächer führte. Wenzel begleitete Ingrey die Treppe hinunter und bedeutete ihm, voranzugehen. Im Erdgeschoss allerdings entschuldigte er sich und ging davon, um sich noch mit seinem Schreiber zu besprechen.

Ingrey trat hinaus in die Dämmerung und drehte seine Runde um das Haus. Als er wieder zum Eingang gelangte, vertraute der Pförtner ihn einem anderen Diener an, der ihn zu einem Raum an der Rückseite des ersten Stockwerks geleitete. Das war nicht der herrschaftliche Speisesaal, der beinahe dem Sitz eines Grafen würdig gewesen wäre, sondern nur ein kleiner Salon mit Blick auf den Kräutergarten und die Stallungen. Die schmale Tür davor war wuchtig und würde jeden Laut dämpfen, wie Ingrey befand. Ein kleiner runder Tisch war für drei Personen gedeckt.

Ijada traf in Begleitung eines Dienstmädchens ein, das vor Ingrey knickste und wieder ging. Ijada trug ein Überkleid aus weizengelber Wolle über einem schlichten, hochgeschlossenen Leinenkleid. Es wirkte sittsam und mädchenhaft, obwohl Ingrey annahm, dass der Spitzenkragen in erster Linie die blaugrünen Male an ihrem Hals verdecken sollte. Wenzel folgte ihr fast auf dem Fuße. Er glänzte im hellen Kerzenlicht und hatte ebenfalls Gewänder angelegt, die weitaus prunkvoller waren als zur Reise. Und sauberer. Ingrey wünschte sich kurz, die eigenen Satteltaschen hätten ihm eine bessere Wahl als riecht nicht ganz so streng gelassen.

Auf Wenzels Geste hin besann Ingrey sich auf sein höfisches Benehmen und rückte Lady Ijada den Stuhl zurecht, dann auch Wenzel, ehe er selbst Platz nahm. Alle hielten gleichen Abstand voneinander und wirkten gleichermaßen angespannt. Diener, die anscheinend schon genaue Anweisungen erhalten hatten, eilten geschäftig herbei, stellten Platten voller Speisen ab und zogen sich dezent zurück. Das Essen war deftig und gut: Klöße, Bohnen, Bratäpfel, ein paar gefüllte Waldschnepfen, Soßen und würzende Kräuter sowie Karaffen mit drei Sorten Wein.

»Ah«, murmelte Wenzel und hob einen silbernen Deckel an, unter dem ein Schinken zum Vorschein kam. »Darf ich Euch bitten, den Schinken anzuschneiden, Lord Ingrey?«

Ijada blickte besorgt drein. Ingrey bedachte Wenzel mit einem schmallippigen Lächeln und tranchierte das Fleisch in dünne Scheiben. Dann verbarg er die Hände unter dem Tisch und zog die Ärmel wieder über die Verbände an den Handgelenken. Er wartete ab, in welche Richtung Wenzel das Gespräch nun lenken würde; dies hatte zur Folge, dass geraume Zeit überhaupt niemand sprach. Sie widmeten sich dem Essen. Schließlich meinte Wenzel: »Ich habe nur Berichte aus zweiter Hand gehört über die tragischen Begebenheiten in Birkenhain, die Euren Vater das Leben kosteten und Euch … nun. Diese Gerüchte waren ziemlich wirr und gewiss auch lückenhaft. Wollt Ihr mir die ganze Geschichte erzählen?«

Ingrey hatte mit weiteren Fragen zu Hallana gerechnet und zögerte, breitete dann aber seine Erinnerungen aus. Nachdem er sie jahrelang verborgen gehalten hatte, wiederholte er sie nun schon ein drittes Mal innerhalb einer Woche. Die Geschichte schien mit jedem Erzählen flüssiger zu werden, als würde der Bericht allmählich die tatsächlichen Geschehnisse verdrängen, selbst in seinem eigenen Gedächtnis.

Wenzel hörte stirnrunzelnd zu. »Euer Wolf war anders als der Eures Vaters«, stellte er fest, als Ingrey schließlich zum Ende kam und das Chaos wölfischer Gefühle während seines wochenlangen Deliriums beschrieben hatte, so gut er konnte.

»Nun, zum einen war er nicht krank, zumindest nicht … nicht auf dieselbe Weise. Ich habe mich gefragt, ob Tiere wohl die Fallsucht bekommen können oder eine andere Geisteskrankheit.«

»Wie ist der Jäger Eures Vaters an dieses Tier gekommen?«

»Ich weiß es nicht. Er war schon tot, bevor ich mich so weit erholt hatte, dass ich Fragen stellen konnte.«

»Ach. Ich habe nämlich gehört«, eine leichte Betonung lag auf diesem letzten Wort, gefolgt von einer deutlichen Pause, »dass es nicht der Wolf war, den man eigentlich für Euch bestimmt hatte. Dass der tollwütige Wolf einen Tag vor dem Ritual seinen Rudelgefährten totgebissen hatte. Und dass man den neuen Wolf in jener Nacht vor dem Käfig des kranken Tieres aufgefunden hatte.«

»Dann habt Ihr mehr gehört, als man mir erzählt hat. Aber es wäre möglich, nehme ich an.«

»Hat Eure Mutter Euch etwas über Euren Hengst erzählt?«, warf Ingrey ein. »An dem Morgen, als Ihr verändert aufgewacht seid.«

»Nein. An diesem Morgen ist sie gestorben.«

»Aber doch nicht an Tollwut!«

»Nein. Und doch mache ich mir seither so meine Gedanken. Sie starb bei einem Sturz vom Pferd.«

Ingrey schürzte die Lippen. Ijada blickte überrascht.

»Das Tier fand bei dem Unfall ebenfalls den Tod«, fügte Wenzel hinzu. »Hat sich ein Bein gebrochen. Der Stallknecht schnitt ihm die Kehle durch … so sagt man. Als ich viel später Gelegenheit bekam, darüber nachzudenken, war sie schon lange Zeit begraben. Ich habe lange an ihrem Grab gesessen, aber dort ist nichts zu spüren. Keine Geister, keine Antworten. Ihr Tod war sehr schmerzlich für mich — nur vier Monate nach dem meines Vaters. Die Übereinstimmung zu Eurem Fall ist mir durchaus nicht entgangen, Ingrey. Aber wenn Bruder und Schwester Wolfengrund einen Plan ausgeheckt haben, eine gemeinsame Absicht verfolgten, hat niemand mir sie anvertraut.«

»Vielleicht war es ein Wettstreit«, warf Ijada nachdenklich ein und blickte zwischen den beiden anderen hin und her. »Wie zwei verfeindete Festungen, eine auf jeder Seite der Lure. Die ihre Mauern verstärken.«

Wenzel öffnete die Hand in einer Geste, die bekundete, dass er dies für möglich hielt. Seine gerunzelte Stirn verriet allerdings, dass er sich mit diesem Gedanken nicht so einfach anfreunden konnte.

»In all dieser Zeit müsst Ihr doch Theorien entwickelt haben, Wenzel«, sagte Ingrey.

Wenzel zuckte die Achseln. »Mutmaßungen, Annahmen, Hirngespinste wohl eher. Meine Nächte waren erfüllt davon, bis ich dieser Gedanken über die Maßen müde war.«

Ingrey schob das letzte Stück Kloß auf dem Teller umher; dann meinte er leise: »Weshalb seid Ihr dann nicht früher an mich herangetreten?«

»Ihr wart in Darthaca. In dauerhaftem Exil, so weit ich wusste. Dann verlor Eure Familie Euch gänzlich aus den Augen. Ihr hättet ebenso gut tot sein können — jedenfalls wusste niemand etwas anderes.«

»Aber was war später? Nach meiner Rückkehr?«

»Es schien, als hättet Ihr unter Hetwars Schutz einen sicheren Platz gefunden. Gewiss wart Ihr mit Eurem Dispens besser behütet als ich mit meinen Geheimnissen. Ich habe Euch darum beneidet. Hättet Ihr es mir gedankt, wenn ich wieder Unordnung und Zweifel in Euer Leben gebracht hätte?«

»Wahrscheinlich nicht«, räumte Ingrey widerstrebend ein.

Ein hartes Klopfen erklang von der schweren Zimmertür her. Ijada zuckte zusammen, doch Wenzel rief einfach nur: »Herein!«

Wenzels Schreiber schob den Kopf durch die Tür und murmelte entschuldigend: »Die Botschaft, auf die Ihr gewartet habt, ist eingetroffen, Herr.«

»Ah, gut. Danke.« Wenzel schob sich vom Tisch zurück und erhob sich. »Entschuldigt mich einen Moment. Esst ruhig weiter.« Er wies auf die Schüsseln.

Sobald Wenzel draußen war, eilten zwei Diener herein. Sie räumten benutztes Geschirr ab, trugen neue Gänge auf und füllten Wein und Wasser nach. Dann zogen sie sich mit ebenso stummen Verbeugungen wieder zurück. Ingrey und Ijada blieben allein und sahen einander an. Einige zaghafte Erkundungen der abgedeckten Schüsseln brachten Leckerbissen, Obst und Süßigkeiten zum Vorschein. Ijadas Gesicht hellte sich auf. Sie reichten sich gegenseitig die vielversprechendsten Bissen an.

Ingrey blickte zu der geschlossenen Tür. »Glaubt Ihr, Prinzessin Fara weiß von Wenzels Tier?«, fragte er.

Ijada musterte ein Stück mit Honig gesüßtes Marzipan und aß es, ehe sie antwortete. Ihr nachdenklicher Blick galt nicht dem Essen, wie Ingrey befand. »Es würde einiges erklären, was ich an den beiden nicht verstanden habe. Ihre Beziehung kam mir seltsam vor, obwohl ich nicht unbedingt erwartet hatte, dass so eine hochgeborene Ehe der meiner Mutter gleicht … den beiden Ehen meiner Mutter. Auch wenn er nicht sonderlich hübsch ist, glaube ich, dass Fara wollte, dass Wenzel sich in sie verliebt. Und dass er es ein wenig galanter zeigt, als er es getan hat.«

»War er nicht galant?«

»Oh, er war stets höflich, so weit ich es mitbekommen habe. Kühl und förmlich. Ich habe nie verstanden, weshalb sie in seiner Gegenwart immer ein wenig ängstlich wirkte, denn er hat nie die Hand gegen sie erhoben oder auch nur die Stimme. Aber wenn sie Angst um ihn hatte und nicht vor ihm, zumindest nicht nur vor ihm, ist das vielleicht die Erklärung.«

»Und hat er sich in sie verliebt?«

Sie blickte noch nachdenklicher drein. »Schwer zu sagen. Er war sehr oft in düsterer Stimmung, abwesend und schweigsam, tagelang, wie es schien. Aber wenn Besucher auf Burg Rossfluten weilten, konnte er sich zusammennehmen, und es gab viele geistreiche Gespräche — er ist wirklich sehr gebildet. Trotzdem hat er hier an einem Abend mit dir mehr gesprochen, als ich ihn jemals während irgendeiner Mahlzeit mit seiner Frau reden hörte. Andererseits … faszinierst du ihn auf eine Weise, wie sie es nicht konnte.« Ihre Augen ruhten kurz auf ihm, dann blickte sie wieder beiseite. Er wusste, dass sie ihre innere Wahrnehmung erprobte.

Ich ebenfalls, erkannte Ingrey. »Ihm bleibt nur wenig Zeit, dafür zu sorgen, dass diese neuen Verwicklungen nicht seine eigene Sicherheit gefährden. Das erklärt vielleicht, weshalb er so drängt. Und das tut er — meinst du nicht auch?« Ingrey zumindest fühlte sich bedrängt.

»O ja.« Sie überlegte kurz. »Obwohl es natürlich sein kann, dass da einfach etwas aus ihm hervorbricht, was allzu lange unterdrückt werden musste. Denn mit wem konnte er schon darüber reden, vor uns? Er ist besorgt, ja, aber außerdem … ich weiß es nicht. Aufgeregt? Nein, etwas schwerer Greifbares. Froh ist sicher nicht der richtige Ausdruck.« Sie verzog den Mund.

»Schwer vorstellbar«, stellte Ingrey trocken fest.

Die Tür öffnete sich, und Ingrey fuhr herum. Es war Wenzel. Mit einer entschuldigenden Geste nahm er wieder Platz.

»Nun? Habt Ihr Eure Angelegenheiten geregelt?«, erkundigte Ijada sich höflich.

»Gut genug. Wenn ich es Euch bisher noch nicht gesagt habe, Ingrey, so möchte ich Euch zu Eurer zügigen Reise gratulieren. Es sieht nicht so aus, als ob ich dem nacheifern könnte — sehr zu meinem Bedauern. Am besten schicke ich Euch mit Lady Ijada morgen voraus. Ihre Gegenwart in diesem Leichenzug, der bald zu einer regelrechten Prozession werden wird, ist gewissermaßen … hm, unpassend. Und den ganzen Weg nach Ostheim im Paradeschritt, du meine Güte!«

»Wo in Ostheim wird man mich hinbringen?«, fragte Ijada ein wenig angespannt.

»Diese Frage ist noch nicht ganz geklärt. Morgen früh sollte ich es erfahren. Nicht an irgendeinen abscheulichen Ort, wenn es nach mir geht.« Er blickte sie aus halb geschlossenen Augen an.

Ingrey betrachtete sie beide und wagte es, seine Sinne über das normale Sehen hinausgreifen zu lassen. »Ihr zwei unterscheidet euch voneinander. Euer Tier ist sehr viel dunkler, Wenzel. Ihre Katze lässt mich an lichtdurchwirkten Schatten unter Bäumen denken, aber Euer Tier wirkt … so tief.« Tiefer, als er mit seinen Sinnen blicken konnte.

»Allerdings. Ich nehme an, diese Leopardin hat in der Blüte ihres Lebens gestanden«, sagte Wenzel. Er warf Ijada ein Lächeln zu, als wolle er ihr versichern, dass diese Bemerkung wohlwollend gemeint war. »Sie hat eine unverbrauchte, reine Kraft. Ein Totemkrieger des Alten Weald wäre stolz darauf gewesen, sie aufzunehmen, hätte es eine Sippe wie ›vom Leopardenbaum‹ gegeben.«

»Aber ich bin eine Frau, kein Krieger«, sagte Ijada und erwiderte seinen Blick.

»Auch die Frauen des Alten Weald pflegten heilige Tiere aufzunehmen. Habt Ihr das nicht gewusst?«

»Nein!« Ihre Augen blitzten neugierig. »Ist das wahr?«

»Oh, selten als Krieger, auch wenn es stets einige gab, die dazu berufen waren. Bei manchen Stämmen dienten sie als Bannerträger, und sie waren unter allen Frauen am höchsten geachtet. Aber man … schuf auch noch eine andere Art heiliger Totemtiere, die viel öfter von Frauen aufgenommen wurde … zumindest, wenn man den Anteil von Frauen und Männern vergleicht. Insgesamt waren sie sehr viel seltener.«

»Bannerträger?«, wiederholte Ijada mit eigentümlicher Stimme.

»Man schuf?«, fragte Ingrey.

Wenzels Mundwinkel glitten nach oben, als er die Anspannung in Ingreys Stimme bemerkte. »Ein Totemkrieger wurde geschaffen, indem man die Seele eines geopferten Tieres in einen Menschen bannte. Doch etwas anderes entstand, wenn man die Seele eines Tieres auf ein anderes Tier übertrug.«

Ijadas blickte verwirrt. »Meint Ihr, Boleso hat versucht … nein, das kann nicht sein …«

»Ich habe immer noch nicht ganz durchschaut, was Boleso sich dabei gedacht hat. Aber wenn er damit irgendwelchen Gerüchten über diese alte Magie folgte, die ihm zu Ohren gekommen waren, hat er es vollkommen falsch verstanden. Das Tier wurde am Ende seiner Lebensspanne geopfert und in den Körper eines jungen Tieres gebannt, stets von derselben Art und von demselben Geschlecht. Und alles Wissen, alle Ausbildung, die das alte Tier erhalten hatte, blieben dabei bestehen. Und dann, am Ende seines Lebens, wurde dieses Tier wiederum in ein neues übertragen. Und in ein weiteres. Und noch eines. So sammelte sich eine ungeheure Dichte an Leben an, eine lange, lange Kette. Und irgendwann — nach fünf, sechs, zehn oder mehr Generationen — wurde etwas daraus, das kein Tier mehr war.«

»Ein … Tiergott?«, mutmaßte Ijada.

Wenzel breitete die Hände aus. »In gewisser Hinsicht vielleicht. Sie gleichen dem, was manchen Leuten zufolge auch die Götter sind — alles Leben dieser Welt fließt durch die Pforten des Todes zu ihnen, und sie nehmen es auf. Sie sammeln uns alle. Und doch sind sie um eine ganze Größenordnung unbegreiflicher, denn sie nehmen auf, ohne zu zerstören. Und jedes Mal werden sie umso mehr sie selbst. Die erhabenen heiligen Tiere waren von anderer Art.«

»Wie lange dauert es, eines zu erschaffen?«, fragte Ingrey. Sein Herz schlug schneller, und er wusste, dass auch sein Atem rascher ging. Und er wusste auch, dass Wenzel es bemerkte. Warum erschreckt seine Gute-Nacht-Geschichte mich plötzlich so sehr?

»Dekaden … Lebensspannen … mitunter Jahrhunderte. Sie wurden hoch geschätzt, denn als Tiere waren sie zahm und gelehrig, von außergewöhnlichem Verstand. Sie konnten sogar die menschliche Sprache verstehen. Doch trotz dieser hohen Achtung wurden die langen Lebenslinien dieser heiligen Tiere immer wieder unterbrochen und fanden ein Ende — und nicht nur durch gewöhnliche Unglücke. Denn wenn ein Mann oder eine Frau des Alten Weald eines dieser erhabenen Tiere an seine Seele band, wurde er oder sie zu weit mehr als einem Krieger. Viel mächtiger und gefährlicher. Unter der Last von Audars Invasion wurden die meisten der wirklich alten und machtvollen Tiere geopfert; sie wurden eingefahren wie eine Ernte. Viele weitere wurden vor ihrer Zeit eingebracht, nur um sie vor den Nachstellungen Darthacas zu bewahren. Audars Geistliche waren besonders eifrig bestrebt, sie zu erschlagen, wann immer sie eines aufspürten, aus Furcht vor dem, was aus ihnen werden konnte. Was sie aus uns machen konnten.«

»Zauberer?«, hauchte Ijada atemlos. »Zauberer des Alten Weald? War es das, was Boleso zu werden versuchte?«

Wenzel beugte die Hand und streckte sie wieder. »Lasst uns die Dinge nicht durcheinanderwerfen. Ein richtiger Zauberer — oder auch ein unrichtiger, wenn man an die Abtrünnigen denkt, die nicht durch die Regeln der Kirche gebunden werden — ist von einem Elementargeist des Chaos besessen, einem Geschöpf des Bastards. Die magischen Kräfte, die dieses Geschöpf verleiht, sind auf Zerstörung gerichtet. Solche Dämonen stehen zwischen der materiellen und der spirituellen Welt. Und die alten Stämme verfügten auch über solche Zauberer. Mit ihren eigenen Traditionen und Regeln unter dem Segen des weißen Gottes.

Die erhabenen heiligen Tiere entstammten jedoch gänzlich dieser Welt, und sie waren nie in den Händen der Götter gewesen. Sie waren niemals Teil ihrer Macht. Außerdem waren sie nicht unbedingt auf Zerstörung aus. Sie waren nur dem Weald zu Eigen. Obwohl ihre Magie allein Geist und Seele betraf, konnten sie auch den Körper beeinflussen, den der betreffende Geist und die betreffende Seele beherrschte. Die Tierschamanen hatten eine ganz andere Geschichte als die Stammeszauberer, und sie standen einander nicht immer freundlich gegenüber. Nicht einmal, wenn sie derselben Sippe angehörten. Eine der vielen Spaltungen, die uns vor dem darthacischen Ansturm schwächten.« Wenzels Blick verlor sich in der Ferne, als er dieser längst vergangenen Versäumnisse gedachte.

Ijada blickte zwischen Wenzel und Ingrey hin und her. »Oh«, hauchte sie.

Ingreys Gesicht fühlte sich taub an. Es war, als würden die Wälle einer Festung in seinem Geist unter Wenzels beharrlichem Minieren nachgeben. Nein. Nein. Das ist Unsinn, Märchen für Kinder, irgendein übler Scherz, den Wenzel mit mir treibt, um auszuprobieren, wie viel ich mir aufbinden lasse. Doch statt dies auszusprechen, flüsterte er nur: »Wie?«

»Wie dieser uralte Wolf zu Euch kam, meint Ihr?« Wenzel zuckte die Achseln. »Das würde ich auch gern wissen. Als Audar der Große«, er verlieh diesem Namen eine bösartige Note, als er ihn aussprach, »dem Alten Weald auf dem Blutfeld das Herz herausriss — dieser Ort war vor der furchtbaren Entweihung das bedeutende Heiligtum des Heiligen Baumes —, gelang es nicht einmal ihm, jeden abzuschlachten. Einige Totemkrieger und Schamanen waren bei der Zeremonie nicht zugegen. Sie hatten sich verspätet oder das Ereignis völlig versäumt. Einige wenige entkamen auch dem Hinterhalt.«

Ijada hörte noch aufmerksamer zu. Wenzel nahm es mit einem raschen Blick zur Kenntnis und fuhr fort: »Nicht einmal anderthalb Jahrhunderte der Verfolgung konnten alles Wissen auslöschen, auch wenn es nicht an Versuchen fehlte. Einzelne, abgeschiedene Horte überdauerten, wenn auch wenig Schriftliches, wie beispielsweise in der Bibliothek auf Burg Rossfluten. Die Schriften dort wurden gewiss zu späterer Zeit mühsam von einigen meiner Ahnen zusammengetragen, doch von irgendwo müssen sie stammen. In entlegenen Gebieten jedoch — in Sumpfland, in den Bergen und in armseligen Weilern — überdauerten die Traditionen eine sehr lange Zeit, wenn auch nicht das Wissen um ihre Wurzeln. Sie wurden als Familiengeheimnis oder dörfliche Gebräuche von Generation zu Generation überliefert, jedoch auch immer mehr von Unwissenheit vernebelt. Was selbst Audar nicht schaffte, gelang dem unbarmherzigen Zahn der Zeit. Ich hatte nie damit gerechnet, dass nach all diesen Jahrhunderten noch einige solcher Tiere verblieben sind. Aber anscheinend gibt es zumindest zwei.« Sein schwermütiger Blick ruhte auf Ingrey.

Ingrey hatte das Gefühl, als würden seine Klauen verzweifelt auf dem Boden eines Käfigs scharren. Er brachte nur einen unartikulierten Laut zustande.

»Zu Eurem Trost«, fuhr Wenzel fort, »das erklärt auch Euer langes Delirium. Euer Wolf war eine bedeutsamere Heimsuchung für Eure Seele als die einfachen Geschöpfe, die Euer Vater oder Ijada aufgenommen haben. Ein Alter von 400 Jahren scheint schwer vorstellbar … wie viele Generationen Wölfe sind das?« Sein Blick ruhte mit einem gewissen Unbehagen auf Ingrey. »Die Totemkrieger beherrschten ihre Tiere mit wenig Mühe, denn das gewöhnliche Tier unterwirft sich bereitwillig dem überlegenen menschlichen Geist. Doch wenn man im Alten Weald dazu ausersehen war, ein erhabenes Tier aufzunehmen, wurde man umfangreichen Vorbereitungen und einer gründlichen Ausbildung unterzogen, und man fand Unterstützung bei anderen seiner Art. Man wurde nicht allein gelassen, war nicht auf sich selbst gestellt, musste nicht in Furcht und Zweifel an der Grenze zum Wahnsinn umherwanken. Kein Wunder, dass Ihr Euch selbst verstümmelt habt.«

»Bin ich verstümmelt?«, fragte Ingrey leise. Und was für ein Furcht erregendes Geschöpf wäre ich, wenn ich es nicht getan hätte?

»Allerdings.«

Mit einem eigenartigen Tonfall wollte Ijada von Wenzel wissen: »Und Ihr seid es nicht?«

Er machte eine Geste mit der Handfläche. »Weniger. Ich habe meine eigene Last zu tragen.«

Wie viel weniger, Wenzel? Trotzdem bewegte Ingrey im Moment nicht so sehr die Frage, ob er in Wenzel den Ursprung seines Bannes gefunden hatte, als vielmehr der Gedanke, dass er hier möglicherweise sein Ebenbild vor sich sah.

Wenzel wandte sich wieder Ingrey zu. »In Eurem Fall war die Unwissenheit jedoch womöglich sogar ein Segen. Hätte die Kirche auch nur geahnt, welche Art von Tier Ihr tatsächlich in Euch tragt, hättet Ihr Euren Dispens wohl nicht so leicht erhalten.«

»Es war nicht leicht«, murmelte Ingrey.

Wenzel zögerte, als müsse er zunächst einen neuen Gedanken erwägen. »In der Tat. Ein erhabenes Tier zu binden kann keine leichte Aufgabe gewesen sein.« Ein anerkennendes Lächeln legte sich auf seine Lippen, und er blickte auf die heruntergebrannten Kerzen in der Mitte des Tisches. »Es ist spät, und die Pflichten des morgigen Tages werden mich schon von Sonnenaufgang an in Anspruch nehmen. Wir werden unsere gegenseitige Gesellschaft eine Zeit lang entbehren müssen. Und ich bitte Euch: Unternehmt nichts, was neue Aufmerksamkeit auf Euch lenken würde, ehe wir uns erneut unterhalten können!«

Ingrey wagte kaum zu atmen. »Ich hielt meinen Wolf bisher nur für einen möglichen Herd der Gewalttätigkeit. Zorn, Zerstörung, Mord. Was sonst kann er … könnte ich tun?«

»Das wäre Thema der nächsten Unterweisung. Sucht mich auf, wenn wir beide zurück in Ostheim sind. In der Zwischenzeit wahrt Eure Geheimnisse, wenn Euer Leben Euch etwas bedeutet, so wie ich die meinen.« Wenzel erhob sich müde und schob Ingrey und Ijada zur Tür hinaus — ein Zeichen, dass sowohl die Speisen wie auch die Enthüllungen für heute Abend genügen mussten. Ingrey, dem beinahe übel war, konnte es nur recht sein.

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