Kapitel Zweiundzwanzig

Als der Mond im Zenit stand, erlahmten die schäumenden Pferde. Sie waren schon viele Meilen weiter geritten, als es ein Botenreiter ohne Wechsel des Tieres getan hätte. Ingrey fragte sich bereits, ob Rossfluten die Pferde zu Tode reiten wollte, als der Graf endlich seinen großen Fuchs in einen ermatteten Schritt fallen ließ. Ein paar Minuten später zeigte er eine Richtung an und führte sie zu einem Bauernhof, der einsam zwischen den Bäumen am Fluss stand. Eine Laterne hing von den Sparren des Vordachs und glomm schwach und rötlich durch den bläulichen Schimmer des Mondes.

Drei Pferde standen dort schon für sie bereit, am Geländer angebunden. Während sie abstiegen, kämpfte sich ein Pferdeknecht der Rossflutens aus seinen Decken und wechselte Sattel und Zaumzeug auf die neuen Tiere. Rossfluten ließ Ingrey und Fara gerade genug Zeit, um ein wenig Brot und Käse zu essen, ein paar Schluck Bier zu trinken und die Toilette hinter dem Haus aufzusuchen. Dann hieß er sie auch schon wieder aufsteigen und führte sie zurück zur Straße. Fara sah blass und mitgenommen aus, aber der Wille des Geheiligten Königs brachte sie dazu, sich weiterhin an ihr frisches Pferd zu klammern und zu galoppieren.

Selbst Ingrey schwankte bereits im Sattel, als sie abermals Halt machten, an einem weiteren, strohgedeckten Bauernhaus, das durch einen Hügel von der Hauptstraße getrennt war. Sie waren so tief in der Nacht auf keine weiteren Reiter gestoßen, und den ummauerten Ortschaften, die hier am schmaler werdenden Storchenfluss immer weiter auseinander lagen, waren sie in aller Stille aus dem Weg gegangen. Fara kippte förmlich aus dem Sattel in die Arme ihre Ehemannes.

»Sie kann heute Nacht gewiss nicht weiterreiten«, stellte Ingrey halblaut fest.

»Einerlei. Nicht einmal wir beide wären imstande, die ganze Strecke ohne Pause durchzuhalten. Legen wir unsere Rast also hier ein.«

Diese Rast war offenbar vorbereitet worden, denn ein eingeschüchtert wirkendes Bauernmädchen erschien, nahm Fara unter ihre Obhut und führte sie ins Haus. Der Graf folgte einem weiteren Rossfluten-Knecht, der anscheinend zu diesem Zweck hier einquartiert worden war und jetzt die Pferde um das weitläufige Haus herum zu einem wackligen Schuppen führte. Wenzel musterte die bereitstehenden Ersatzpferde und grunzte zufrieden. Das waren keine Ackergäule, sondern Tiere, die aus den eigenen Ställen des Grafen vorweggesandt worden waren.

Die Flucht war gut geplant, wie es schien. Verfolger konnten an Gasthäusern und Mietställen entlang der Straße nachfragen, wo Reisende in Eile Ersatztiere mieten konnten, aber dabei würden sie keine Spur von ihnen finden, keine Zeugen, keine zurückgelassenen Pferde. Wenn die Verfolger an jedem Bauernhof entlang des Storchenflusses Halt machen und nachfragen mussten, auf dem ganzen Weg zwischen Ostheim und der Nordgrenze, so würden sie dabei wertvolle Zeit verlieren — selbst wenn ihnen so viele Mittel zur Verfügung standen wie dem Fürstmarschall und Hetwar. Und sie mussten auch noch ein halbes Dutzend weiterer Straßen absuchen, die in alle Richtungen von Ostheim wegführten.

Wie weit kann ich mich diesem königlichen Bann entziehen?, fragte sich Ingrey verzweifelt und niedergeschlagen. Falls er überhaupt den Willen und den Einfallsreichtum aufzubringen vermochte. Würde die falsche Ruhe, in der er dahinzutreiben schien, vergehen, wenn er sich aus der Reichweite von Wenzels Stimme entfernen konnte? Würde die Benommenheit von ihm abfallen, wenn Wenzels Aufmerksamkeit abgelenkt war? Ingrey sehnte sich nach der königlichen Aufmerksamkeit wie ein Hund nach einem Knochen aus der Hand seines Herrn oder wie ein Junge nach dem Lächeln seines Vaters. Beim Gedanken an hündische Ergebenheit biss Ingrey nur die Zähne zusammen; doch dass Rossfluten so beiläufig eine kindliche Treue an sich reißen sollte, die Lord Ingalef nicht mehr hatte erleben dürfen, trieb eine Woge von glühendem Zorn durch Ingreys Herz. Trotzdem kroch er hinter seinem Herrn drein wie ein müdes Kind.

Ingrey folgte Wenzel zu einem Sitzplatz auf der Veranda des Bauernhauses. Er ließ die Beine über die Kante hängen und blickte gemeinsam mit ihm über das Flusstal hinweg auf den untergehenden Mond. Der Knecht brachte erneut eine einfache Mahlzeit herbei, Brot und Schinken, diesmal jedoch einen Krug jungen Weines dazu. Der Weinberg, der zu diesem Hof gehörte, musste dieses Jahr mit dem Wetter Glück gehabt haben, denn der Wein floss süß und lieblich über die Zunge. Die Nähe zu seinem Herrn erweckte in Ingrey eine trunkene Begeisterung. Sie wurzelte in der Erschöpfung und war vielleicht mit jener Mattigkeit zu vergleichen, die einen Betrunkenen glauben ließ, dass er durchaus jederzeit aufstehen und fortgehen könne, wenn er nur wollte. Ingrey trank noch mehr.

»Es ist wunderschön, Majestät«, sagte er und nickte in Richtung der in kaltes Licht getauchten Szenerie.

Wenzels Lippen verzogen sich zu einer eigenartigen Grimasse. »Ich habe schon genug Monduntergänge gesehen.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Genießt es, solange Ihr könnt.«

Das war eine beunruhigend mehrdeutige Bemerkung, befand Ingrey. »Warum reisen wir im Galopp? Welchem Feind müssen wir entfliehen? Den Verfolgern aus Ostheim?«

»Denen auch.« Wenzel streckte sich. »Die Zeit ist nicht mein Freund. Dank der klugen Gewohnheit der Hirschendorns, ihre Söhne noch zu Lebzeiten des Vaters zum Geheiligten König wählen zu lassen, liegt das letzte Interregnum nun schon einhundertzwanzig Jahre zurück. Die Anstrengung, noch einmal eine solche Lücke herbeizuführen, kommt mir im Augenblick überwältigend vor. Ich werde also diese hier nutzen.« Er entblößte die Zähne zu einem Lächeln. »Oder bei dem Versuch sterben kann ich allerdings nicht sagen.«

Hetwars Befürchtungen schienen sich also zu bestätigen:

Rossfluten hatte die Wahl für sich gewinnen wollen, und er hatte dazu die Kurfürsten beeinflusst. Und möglicherweise auch das Leben und Sterben möglicher Gegenkandidaten? »Dient das alles dazu, Euch wieder zum Geheiligten König zu erheben?«

Rossfluten schnaubte. »Ich bin der Geheiligte König. Ich muss nicht noch einmal dazu erhoben werden.«

Aber irgendwas hatte er gebraucht, ein fehlendes Bruchstück, das sich von der Seele des alten Hirschendorn-Königs gelöst hatte. Etwas … halb Magisches, oder ein Überbleibsel des Alten Weald. Doch was ihm gefehlt hatte, war sicher nicht politischer Natur gewesen. »Dann also auch Geheiligter König dem Namen und dem Recht nach, öffentlich gewählt und gehuldigt.«

»Wäre mir am Titel eines Königs in diesem heruntergekommenen Land gelegen, so hätte ich ihn schon vor Jahren an mich reißen können, Ingrey«, stellte Rossfluten milde fest. »Und zwar in einem besseren Körper.«

Ich habe einen besseren Körper, dachte Ingrey unwillkürlich. Aber es stimmte: Wenn es Wenzel auf die Wahl ankäme, müssten sie jetzt auf Ostheim zugaloppieren und nicht davon weg. Er wollte etwas anderes. Etwas Fremdartigeres. Ingrey kämpfte sich auf der Suche nach Klarheit durch den Nebel seiner Erschöpfung, durch den Wein und gegen seinen leeren Magen und Rossflutens unwiderstehlichen Nimbus.

»Wenn Ihr die Wahl nicht gewinnen wollt, was wollt Ihr dann?«

»Ich will sie verzögern.«

Ingrey blinzelte mit den schmutzverkrusteten Augen. »Kann diese Flucht das bewirken?«

»Gut genug. Die Abwesenheit eines einzigen Kurgrafen allein«, Rossfluten tippte sich auf die Brust, »würde nicht ausreichen. Aber Biast wird abgelenkt sein, wenn er feststellt, dass seine Schwester Fara am Vorabend der Trauerfeier für ihren Vater verschwunden ist. Und ich habe auch noch für einige weitere Störungen gesorgt. Wenn bei der bevorstehenden Wahl mehrere Kandidaten mit einer gewissen Unterstützung antreten werden, sollte das allein schon für mehrere Tage hitziger Diskussion sorgen.« Er grinste kurz, aber nicht besonders heiter.

Ingrey wusste kaum, was er dazu sagen sollte, auch wenn der Ausdruck Interregnum immer noch in seinem Geist nachhallte, erfüllt von einer Bedeutung, die er nicht recht greifen konnte. Er löste seinen Verstand aus dem lieblichen Glanz erschlichener Lehnstreue und fragte: »Wofür war der Hirsch?«

»Habt Ihr das etwa nicht erraten?«

»Ich dachte, Ihr wolltet ihn an Fara übertragen, um eine Totemkriegerin aus ihr zu machen oder um ihrem Vater auf diese Weise etwas fortzunehmen. Stattdessen habt Ihr Euch für die Stute entschieden.«

»Wenn man gegen die Götter antritt, hilft eine plötzliche und unerwartete List mitunter mehr als sorgsam angelegte Pläne. Selbst Sie können nicht jede Möglichkeit ausschließen. Der Hirsch war ein noch unvollendetes erhabenes Tier. Vier Hirschleben hat er schon angesammelt, seitdem ich mich um ihn kümmere. Aber der Tod des Geheiligten Königs kam heran, noch bevor der Hirsch bereit war. Ich weiß nicht, ob die Götter das eine beschleunigt oder das andere verzögert haben.«

»Ihr wolltet … Fara zu einer Schamanin machen? Oder jemand anderen?«

»Irgendwen. Ich hatte mich noch nicht entschieden, wer es sein sollte. Hätte ich mich nicht Eurer Unterstützung versichern können, so hätte ich es mit dem unfertigen Hirsch versuchen müssen. Euer Wolf ist der sicherere Weg, wenn auch … äh, nicht so zahm. Aber stärker. Besser.«

Ingrey weigerte sich, auf dieses Streicheln hin mit dem Schwanz zu wedeln. Aber es fiel ihm schwer. Besser für wen? Sein müder Verstand versuchte verzweifelt, die einzelnen Teile zusammenzufügen. Ein Schamane, ein Bannerträger, ein Geheiligter König und der Ort Am Heiligen Baum. Und Blut, ohne Frage. Irgendwo würde Blut dabei eine Rolle spielen. Füge das alles zusammen, und du bekommst … was? Ganz gewiss nichts rein Materielles. Was hatte Wenzel vor, dass die Götter selbst versuchten, in die grobmaterielle Welt vorzustoßen und es zu verhindern? Was über seine sinnverwirrende Königswürde hinaus konnte Wenzel noch begehren?

Was war größer als ein König? Hatte Wenzels Streben die materielle Welt etwa schon gänzlich hinter sich gelassen? Einst, in mystischer Vorzeit, waren aus Vieren Fünf geworden. Konnte man aus Fünfen auch Sechs machen?

»Was habt Ihr vor? Wollt Ihr Euch etwa selbst zu einem Gott machen? Zu einem Gott oder einem Halbgott?«

Wenzel verschluckte sich an seinem Wein. »Ach, die Jugend! Immer so ehrgeizig! Und Ihr behauptet, Ihr hättet selbst schon mal einen Gott gesehen! Geht schlafen, Ingrey. Ihr redet Unsinn.«

»Was dann?«, fragte Ingrey verbissen, auch wenn er gehorsam auf die Füße kam.

»Ich habe Euch schon mal erklärt, was ich will. Habt Ihr es vergessen?«

Ich will meine Welt zurück, hatte Wenzel ihm einst in zorniger Verzweiflung ins Gesicht geschrien. Das hatte er nicht vergessen, und er hätte es wohl auch nicht gekonnt, wenn er es versucht hätte. »Nein. Aber das lässt sich unmöglich erreichen.«

»Ganz recht. Und nun geht schlafen. Wir reiten am frühen Vormittag.«

Ingrey wankte ins Hofgebäude und suchte nach dem Lager, das man für ihn vorbereitet hatte. Dann lag er auf dem Rücken und starrte trotz seiner Müdigkeit schlaflos in die Finsternis empor. Seine Knechtschaft gegenüber Rossfluten war ganz sicher nicht vollständig, sonst würde er sich nicht so daran reiben. Wenzels Glanz lag ihm unpassend auf den schiefen Schultern, wie die vergoldete Rüstung eines Königs, die ihm in jungen Jahren angepasst worden war und die er nun als verschrumpelter Greis immer noch trug. Da gab es einen Missklang zwischen dem Mann und seiner Königswürde, den selbst Ingrey spüren konnte.

Doch trotz dieser Unstimmigkeit empfand Ingrey die Macht des Königtums, als würde ihm die Glut eines Schmelzofens ins Gesicht schlagen. Selbst einen nur durchschnittlichen Krieger des Alten Weald musste das Königtum wie ein Mantel aus Licht umhüllt haben. Und dann fragte Ingrey sich, wie es wohl an einer weit überdurchschnittlichen Persönlichkeit gewirkt haben musste: Wenn die ganze Seele in vollkommener Harmonie zu einem geheiligten Vertrauen verschmolz, wie bei einem perfekten Glockenguss. Eine solche Stimme könnte die Berge selbst in Bewegung setzen. Seine Gedanken scheuten vor dieser Vorstellung zurück.

Die eigenen derzeitigen Pflichten, nämlich Rossflutens Geheimnis aufzudecken und Fara zu beschützen, banden ihn ohnehin an Rossflutens Seite. Vielleicht war es voreilig, einen Fluchtversuch anzustreben. War es nicht besser, Rossfluten in Sicherheit zu wiegen, zu beobachten, eine günstige Gelegenheit abzuwarten? Auf die Verfolger zu vertrauen, die ihnen zwangsläufig hinterherkommen würden? Beten?

Schon seit er erwachsen geworden war, hatte er nicht mehr vor dem Einschlafen gebetet. Aber der Schlaf brachte Träume, und in den Träumen wandelten mitunter die Götter. Und redeten. Seine Träume waren kein Garten, durch den Sie spazieren konnten, wie es von Hallanas Träumen behauptet worden war. Doch in diesen letzten Stunden der Nacht betete er, dass die Götter von ihm Besitz ergreifen mochten.


Aber was immer Ingrey träumte — beim Aufwachen hatte er es vergessen. Erschrocken fuhr er hoch, als der Knecht ihn an der Schulter schüttelte. Eiligst schob man ihm die Waschschüssel sowie etwas zu Essen und zu Trinken zu, und Wenzel war wieder mit ihnen unterwegs, ehe auch nur eine halbe Stunde vergangen war.

Das ansteigende Land wurde immer einsamer und abgelegener. Jetzt, am helllichten Tag, waren mitunter andere Leute und Tiere auf der Straße: Bauernkarren, Packtiere, langsamere Reiter, Schafe, Kühe, Schweine. Wenzels Galopp in der Nacht zuvor wich einem weniger auffälligen Kanter, der auch mal von einem Trab oder Schritt abgelöst wurde, wenn die Steigung zu groß oder die Straße zu schlecht wurde, was immer häufiger vorkam. Trotzdem war offensichtlich, dass die Gangart in einem Minimum an Zeit ein Maximum an Meilen aus den Reittieren herausholen sollte. Kurz nach der Mittagsstunde gelangten sie an einen weiteren alten Bauernhof, wo ein weiteres hastiges Mahl und frische Pferde auf sie warteten.

Ingrey musterte Fara. Der Tag, den sie hinter sich hatte — angefangen mit der richterlichen Befragung über das Sterbebett ihres Vaters bis hin zu dieser getriebenen Flucht —, war genug, um jede Frau zugrunde zu richten und auch die meisten Männer. Die Tierseele, so vermutete er, verlieh ihr eine körperliche Stärke, die sie ebenso überraschte wie ihn. Was andere Stärken betraf … hatte es ihr möglicherweise auch vorher schon nicht daran gefehlt.

Wenn Ingrey an die Wirkung dachte, die Wenzels Königswürde auf ihn hatte, dann fragte er sich auch, was sie wohl bei Frauen bewirkte. Er beobachtete, wie Fara auf Wenzel reagierte, suchte sich selbst im weiblichen Spiegel. Sie wirkte geblendet, förmlich erstaunt, wenn ihr Blick auf den veränderten Gemahl fiel. Ihre Lippen öffneten sich in unwillkürlichem Begehren. Aber sie sah nicht glücklich dabei aus. Sie besaß bereits, was andere Frauen vergebens erstreben mochten, und doch … nicht.

Wenn Wenzel umgekehrt sie anschaute, war nichts als nüchternes Abschätzen in seinen Augen zu lesen, als wäre sie ein Reittier von zweifelhafter Tauglichkeit, das ihm irgendwie aufgenötigt worden war. Sie zuckte vor seiner Geringschätzung zurück. Fara mochte nicht geistvoll oder tapfer sein, aber sie ließ sich auch nicht gefahrlos hintergehen. Sie hatte sich schon einmal gegen Wenzels angenommene Untreue zur Wehr gesetzt, wenn auch mit verheerenden Folgen. War sie tatsächlich nur sein beweglicher Besitz, wie er anzunehmen schien?

War Ingrey das? Er erforschte sein Innerstes. Der Wolf und er waren in diesem Leben nicht mehr voneinander zu trennen, doch ihm kam es so vor, als stünde dieser unnatürliche Teil von ihm vollkommener unter Rossflutens Zauber als der vernünftige. Der Teil von ihm, der in Worten dachte, behielt eine größere Freiheit für sich zurück. Er hatte schon einmal den Wolf in Ketten gelegt, als er jünger, verängstigter und verwirrter gewesen war als jetzt. Der Geheiligte König hatte den Wolf an die Leine gelegt, aber beherrschte er Ingrey dadurch wirklich vollständig?

Er sucht die Eile. Wenn ich mich ihm widersetzen will, sollte ich die Verzögerung suchen.

Rossfluten ließ sie wieder in Schritt fallen und blickte forschend nach links. Schließlich bog er auf eine Nebenstraße Richtung Fluss ab, und die Pferde rutschten ein langes Uferstück hinunter durch einen schmalen Streifen Kiefern. Schließlich gelangten sie zu einer Furt, die hier den Oberlauf des Storchenflusses kreuzte. In den Rabenbergen entsprangen reichlich und stetige Quellen. Das Wasser hier war kein schlammiges Hochwasser wie bei der Furt, die fast Bolesos Leichenzug zum Kentern gebracht hätte, sondern der Fluss war breit und tief, trotz der Dürre in dieser Gegend, wo Staub den blauen Herbsthimmel trübte.

Der Graf trieb sein Pferd an und suchte einen Weg durch die seichteren Abschnitte der Furt. Fara folgte ihm gehorsam. Wenn ich nicht lange nachdenke … Ingrey lenkte sein Pferd stromauf von Faras und wartete ab, bis das Wasser den Tieren bis zum Bauch reichte und sie halb von den Hufen hob; dann gab er dem Wallach die Sporen und ließ ihn in die Flanke von Faras Tier prallen.

Beide Pferde gerieten ins Wanken, und Faras Tier kippte ins Wasser. Ingrey hatte bereits die Füße aus den Steigbügeln gelöst. Er sprang aus dem Sattel, rutschte über ihr gestraucheltes Pferd hinweg und griff mit einem tapferen Sprung nach der Prinzessin.

Diese hatte an einem der Steigbügel Halt gefunden. Ihre sich im Wasser wälzende Stute hätte sie vielleicht bis an das gegenüberliegende Ufer ziehen können, doch Ingreys Griff und sein Gewicht rissen Fara fort. Sie stieß einen kurzen Schrei aus, der in einem Gurgeln endete, als ihr Kopf unter Wasser geriet. Rossfluten fuhr gerade rechtzeitig herum, um zu sehen, wie Ingrey sie wieder an die Oberfläche zerrte, während sie weiter flussab getrieben wurden.

»Bleibt!«, rief der Graf, worauf Ingrey zusammenzuckte. Aber auch wenn die unheimliche Stimme Mensch und Tier zu befehlen mochte, so hatte sie doch keinen Einfluss auf die starke Strömung. Das Wasser war kalt, aber nicht eisig, und diesmal konnte Ingrey es vermeiden, mit dem Kopf gegen einen Fels zu prallen. Allerdings entdeckte er auch rasch, dass seine Begleiterin diesmal tatsächlich nicht schwimmen konnte. Er hielt die zappelnde Frau fest und keuchte, als nun er unter Wasser gedrückt wurde. Bald kämpfe er ebenso um Atemluft wie sie.

Trotzdem schaffte er es, sie dreimal zurück in die stärkste Strömung zu bugsieren, sobald seine Füße auf Grund stießen. Schließlich wurde der Fluss langsamer und weitete sich zu einem seichten Tümpel, in dem selbst Fara stehen konnte. Rutschend und stolpernd wateten sie an Land.

Ingrey musterte das Ufer. Sie waren an einigen dichten Gehölzen vorübergetrieben, sowie an hohen Felsen, die das Wasser in eine enge Röhre gedrängt und zu beängstigender Geschwindigkeit angetrieben hatten. An ihrem derzeitigen Aufenthaltsort war das gegenüberliegende Ufer von einem eng zusammenstehenden Dickicht aus jungen Weiden bestanden. Wenzel würde nicht so bald zu ihnen stoßen können, vor allem dann nicht, wenn er vorher noch inne gehalten und ihre zurückgelassenen Reittiere eingefangen hatte. Ingrey konnte recht gut abschätzen, wie sehr ein solches feuchtes Missgeschick die Reise verzögern konnte, und er hoffte, diese Zeitspanne sogar noch weiter ausdehnen zu können.

Fara hustete. Ihr Gesicht war blass vor Kälte, und sie zitterte in Ingreys Armen. Einige Tränen konnte man ihr jetzt wohl zugestehen, doch zu Ingreys heimlicher Erleichterung fing sie nicht gleich an zu schluchzen.

»Ihr habt mich gerettet!«, keuchte sie.

Ingrey verspürte im Augenblick kein Interesse daran, diesen Irrtum aufzuklären. »Es war meine Pflicht, Herrin. Und meine Schuld. Es ist mein Pferd gewesen, das gegen das Eure prallte.«

»Ich dachte, ich … ich dachte, wir würden beide ertrinken.«

Ich auch. »Nein, Herrin.«

»Sind wir …« Sie zögerte und blickte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. »Sind wir entkommen?«

Ingrey atmete tief durch. Wie er es erhofft hatte, hatte die Entfernung zwischen ihnen und dem Geheiligten König eine ernüchternde Wirkung. Aber nicht ernüchternd genug. Tief in seinem Innern spürte er immer noch unerwünschte Verbindung zu Wenzel, die sein Band zu Ijada ersetzt hatte. Der Graf war irgendwo flussauf, und er hatte es eilig. Aber er war nicht in Panik. »Ich glaube nicht. Aber wir können vielleicht eine Verzögerung herbeiführen.«

»Wozu?«

»Man wird uns verfolgen. Wird Euch folgen! Womöglich rascher, als Wenzel es erwartet. Biast dürfte Euretwegen außer sich sein.« Der Graf hatte möglicherweise damit gerechnet, dass sie frühestens am Folgetag vermisst wurden. Aber Ijada hätte sofort Bescheid gewusst. Glaubte sie, er wäre getötet worden? Konnte sie überhaupt mit jemandem in Verbindung treten? Lewko, Hallana? Würde Gesca darauf eingehen, wenn sie ihn bat, diese Geistlichen so spät abends aufzusuchen? Bis jetzt hatte Ingrey ein leichtes Schuldgefühl empfunden bei dem Gedanken daran, wie er Gesca um Ijadas willen eingeschüchtert hatte. Jetzt bedauerte er, dass er nicht noch deutlicher geworden war. Die fünf Götter mögen ihr beistehen. Und uns.

Und wenn den Göttern so sehr an dieser Sache gelegen ist, wo sind Sie dann nun? Verflucht sollen Sie sein!

Fara stand zitternd an einer sonnigen Stelle. Die durchweichte Kleidung klebte eng an ihrer gedrungenen Gestalt; Haare hatten sich aus der Frisur gelöst und hingen ihr in nassen Strähnen ins Gesicht. Ingrey war in wenig besserem Zustand, und seine nasse Lederkleidung quietschte irritierend bei jeder Bewegung. Er trat ein wenig beiseite, zog seine Klingen und versuchte vergebens, sie trocken zu wischen.

»Wo will Wenzel mit mir hin?«, fragte Fara mit zitternder Stimme. »Wisst Ihr das?«

»Zum Ort Am Heiligen Baum, wie er einstmals geheißen wurde. Zum Blutfeld. Zum Wehen Wald, wie er heute heißt.«

»Ijadas Wald? Ihre ererbten Güter?« Überrascht starrte sie ihn an. »Hat das irgendwas mit ihr zu tun?«

»Eher umgekehrt. Es ist dieser Wald, an dem Wenzel Interesse hat, nicht seine Erbin. Er ist alt und verflucht.«

Fara verzog das Gesicht. »Warum zerrt er mich von Papas Totenbett fort? Was hat er noch Böses vor? Warum hat er mich mit diesem … diesem …« Sie drehte sich auf der Stelle und krallte mit den Fingern an ihrer Brust, als könne sie die unwillkommene Heimsuchung so herausreißen.

Ingrey hielt ihre Hände fest, die so kalt und feucht waren wie der Lehm vom Ufer. »Haltet ein, Herrin. Ich weiß nicht, wozu er Euch braucht. Ijada war der Ansicht, dass es mir bestimmt sei, die Geister ihres Waldes von den Tierseelen zu befreien, wie ich es für Prinz Boleso getan habe. Wenn es das ist, was Wenzel von mir will, dann weiß ich nicht, warum er es nicht einfach sagt. Das scheint mir kein unbilliges Vorhaben zu sein.«

Hoffnungsvoll blickte sie zu ihm auf. »Könnt Ihr auch mich von diesem furchtbaren Tier-Ding befreien? Wie meinen Bruder? Jetzt?«

»Nicht solange Ihr lebt. Die Schamanen des Alten Weald haben die Seelen ihrer Kameraden anscheinend erst nach ihrem Tod geläutert.«

»Dann solltet Ihr nicht vor mir sterben«, stellte sie fest.

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was geschehen wird.«

Ihr Gesicht wurde noch regloser. »Ich könnte es sicherstellen«, knirschte sie.

»Nein, Herrin!« Er hielt sie fester. »So verzweifelt ist unsere Lage noch nicht. Doch wenn Ihr Wert darauf legt, will ich Euch gerne schwören, dass ich im Fall Eures Todes mein Bestes versuchen werde.«

Sie erwiderte seinen Griff und wirkte für einen Augenblick beunruhigend besitzergreifend. »Vielleicht. Vielleicht.« Sie ließ ihn los und schlang die Arme um den Leib.

Ingrey kam in den Sinn, dass Fara womöglich doch als Botenopfer geeignet war, wenn er ihre Seele wie die ihres Bruders nach dem Tod läutern konnte. Hatte Wenzel ihn deshalb mitgenommen? Ergab das irgendeinen Sinn? Nicht viel.

»Ihr könnt also auch Wenzel nicht läutern, solange er lebt«, fuhr sie fort und kniff besorgt die Brauen zusammen.

»Wenzel ist nicht nur von einem einfachen Pferdegeist befallen wie Ihr. Er ist … besessen. Ja, ich glaube dieses Wort beschreibt es am besten. Er ist besessen von einem Geist, einer Seele, einer Ansammlung … Er behauptet jedenfalls, er wäre der verlorene Geist des letzten Geheiligten Königs des Alten Weald.« Und das ist mehr als eine Behauptung. »Am Leben gehalten, ob er es nun will oder nicht, durch einen großen Zauber, der im Blutfeld wurzelt.«

Ihre Stimme klang erstickt. »Glaubt Ihr, er ist verrückt geworden?«

»Ja.« Widerstrebend fügte er hinzu: »Aber er lügt nicht. Nicht in dieser Hinsicht, jedenfalls.«

Fara starrte ihn eine ganze Weile an. Fast erwartete er, dass sie ihn fragte: Glaubt Ihr, dass Ihr verrückt geworden seid?, worauf Ingrey keine Antwort gewusst hätte. Stattdessen sagte sie: »Ich habe gespürt, wie er sich verändert hat. Er hat sich letzte Nacht verändert, als Papa gestorben ist.«

»Ja. Er hat sein Königtum zurückgewonnen, oder zumindest einen fehlenden Teil davon. Jetzt ist er … nun, ich bin mir nicht sicher, was er ist. Aber er führt einen Wettlauf gegen die Zeit.«

Sie schüttelte den Kopf. »Wenzel hat sich nie viel um die Zeit gekümmert. Es konnte einen verrückt machen.«

»Dieses Ding in Wenzels Körper ist nicht wirklich Wenzel. Es fällt schwer, das nicht aus den Augen zu verlieren.«

Sie rieb sich die Schläfen.

»Habt Ihr Kopfschmerzen?«, fragte Ingrey behutsam.

»Nein. Es fühlt sich sehr seltsam an.«

Wie konnte er die Reise noch weiter verzögern? Konnten sie sich aufteilen, damit Wenzel länger nach ihnen suchen musste? Ein kluger Gedanke. Er konnte sich wieder ins Wasser gleiten lassen, das vom Glanz des Königtums unbeeindruckt blieb und ihn noch Meilen weitertragen würde, bevor Wenzel ihn schließlich einholte. Ingrey versuchte sich daran zu erinnern, ob sie auf der Reise flussauf an irgendwelchen Wasserfällen vorbeigekommen waren. Aber nein. Er konnte diese Frau nicht allein lassen, zitternd in der Wildnis, in Erwartung dieses unheimlichen Geschöpfes, das sie geheiratet hatte. »Fürstmarschall Biast hat mir aufgetragen, Euch zu beschützen. Wir können uns nicht trennen.«

Sie nickte dankbar. »Bitte nicht, Lord Ingrey.«

»Wenzel wird zuerst entlang der Ufer suchen. Wir sollten zumindest ein wenig tiefer in den Wald gehen.«

Das würde nicht ausreichen, um sich Rossfluten endgültig zu entziehen. Schon konnte er spüren, wie der Zug an der Leine kräftiger wurde. Aber wenn er ehrlich war, empfand er auch große Neugier auf das Blutfeld. Er wollte es sehen, musste es sehen. Und der schnellste Weg dazu war, sich von Rossfluten dorthin führen zu lassen. Aber nicht zu schnell. Wenzel mochte mit Ingrey und Fara jeden bei sich haben, den er brauchte. Aber Ingrey hatte nicht jeden dabei, den er brauchte. Ich brauche Ijada. Dessen bin ich mir gewiss. Hatte Rossfluten das gewusst, als er sie trennte? Vertraue auf die Götter, Sie werden alles richten? Wohl kaum. Kurz fragte er sich, ob es den Göttern wohl ebenso schwer fiel, auf Ingrey zu vertrauen, und für eine Weile überkam ihn das seltsame und heftige Verlangen, den Göttern zu zeigen, wie man es richtig machte.

Was immer für ein eigentümlicher Ausdruck auf sein Gesicht getreten war, er ließ Fara einen Schritt zurückweichen. »Ich werde Euch folgen«, sagte sie matt.

Sie schlugen sich ins Unterholz. Über modernde Baumstämme und ein steiniges Ufer ging es hinauf in die Düsternis eines noch dichteren Waldes, hinaus auf eine sonnige Wiese, bestanden mit lila Disteln und Mimosen, die eine unregelmäßige Spur feiner Stacheln auf ihrer feuchten Kleidung zurückließen. Dann ging es durch dorniges Brombeergestrüpp zurück in den Schatten, durchzogen von feinen Spinnweben, die sich über ihre Münder legten. Diese Wanderung hatte ihren Nutzen, befand Ingrey — und sei es auch nur, sie durch die Bewegung trockener zu machen.

Aber schon bald hörten sie irgendein großes Tier durch das Gehölz krachen. Nichts in dieser Wildnis war gefährlicher als das, was bereits hinter ihnen her war — aber es musste nicht gefährlicher sein, um gefährlich genug zu sein! Ingrey erstarrte und legte die Hand auf den Schwertgriff, und Fara kauerte sich neben ihm zusammen, bis sie schließlich Rossflutens Pferd aus dem Unterholz brechen sahen. Es schnaubte unwillig über das Geäst, das an seinem Fell kratzte.

Wenzel, der sie ebenfalls erblickte, stieß einen langen Atemzug aus, der zur Hälfte Zorn und zur Hälfte Erleichterung ausdrückte. Jeder Wunsch zur Flucht erstarb in Ingrey Herzen, schmolz dahin unter der strahlenden Gegenwart des Königs. Er begrüßte ihn mit einer höfischen Verbeugung.

»Ich danke Euch, Lord Ingrey«, sagte Wenzel und ritt näher heran.

»Majestät.«

»Mein Pferd ist gestürzt«, warf Fara ungefragt ein. »Ich bin beinahe ertrunken. Lord Ingrey hat mich über Wasser gehalten.«

Ingrey verzichtete darauf, diese Aussage zu korrigieren: Ich habe versucht, Lord Ingrey als Floß zu gebrauchen. Das war wohl eine Frage des Blickwinkels. Seiner hatte die meiste Zeit unter Wasser gelegen.

»Ja, das habe ich gesehen«, erwiderte Wenzel.

Gewiss nicht, dachte Ingrey. Sonst würdet Ihr mir nicht so aufrichtig danken. Wenzel musterte Ingrey prüfend, aber nicht übermäßig misstrauisch.

»Helft ihr hinauf«, sagte Wenzel und streckte die Hand aus. Ingrey verschränkte die Hände für die schlammverkrusteten Stiefel der Prinzessin und beförderte sie hinter ihren Gemahl aufs Pferd. Er selbst reihte sich hinter dem Tier ein, damit dieses ihm den Weg freiräumen und die Spinnweben beiseite wischen konnte. So folgte er Wenzel müde flussauf.

Es dauerte mehr als eine Stunde, bis sie wieder zurück auf der Straße waren; dann mussten sie noch über eine Meile weit nach Osten zurück zum Fluss wandern, wo Wenzel die Pferde angebunden hatte. Dort stellten sie zu Ingreys stiller Befriedigung fest, dass Faras Pferd sich bei dem Sturz eine Sehne gezerrt hatte. Wenzel löste Sattel und Zaumzeug und ließ das Tier frei. Er überließ Ingrey das spärliche Gepäck, damit dieser es hinter dem eigenen Sattel festmachte, während Rossfluten selbst erneut Fara hinter sich reiten ließ. Dann führte er sie in deutlich verlangsamtem Schritt nach Westen.

Sie hatten zumindest vier Stunden verloren, vielleicht sogar mehr, als sie endlich ihrem nächsten Haltepunkt entgegenstolperten. Nicht genug. Aber es ist ein Anfang.

Als sie die Nebenstraße verließen und eine schmuddelige, ärmliche Ansiedlung erreichten, die kaum die Bezeichnung »Weiler« verdiente, hatte Ingrey noch weitere zwei Stunden zu seiner Liste hinzugefügt. Ein verrottender Palisadenzaun schien kaum geeignet, den Ort vor wilden Tieren zu schützen, geschweige denn vor böswilligen Menschen. Die Sonne ging bereits unter. Rossfluten blickte unwillig zwischen den Bäumen hindurch auf den letzten gelblichen Schimmer.

»Heute Abend können wir nicht weiter. Der Mond wird nicht vor Mitternacht aufgehen«, stellte er mit zusammengebissenen Zähnen fest. »Und aus demselben Grund werden wir nach dem nächsten Wechsel der Reittiere nicht vor dem nächsten Sonnenaufgang aufbrechen können, wollen wir nicht im Finstern durch die weglosen Berge irren. Wir haben einen ganzen Tag verloren. Nutzt diese Pause. Ihr werdet sie brauchen.«

Wenzel bewegte sich gleichgültig durch eine Umgebung, die Fara zurückschrecken ließ. Eine schlampig und fahl wirkende Frau ohne Zähne und mit beinahe unverständlicher Aussprache war zu ihrer Bedienung abgestellt worden, und Fara war davon so aus der Fassung gebracht, dass sie sich stattdessen von Ingrey aushelfen ließ. Er selbst legte sich schließlich nur mit einer Decke zum Schlafen nieder, vor dem Durchgang zu ihrem Gemach, der anscheinend nur von einem zerfledderten Vorhang geschützt war. Fara hielt das für höfische Hingabe, und Ingrey erklärte ihr nicht, dass er damit nur dem ungezieferverseuchten Strohsack zu entkommen versuchte, den man ihm als Lager angeboten hatte. Wenn Wenzel schlief, so konnte Ingrey nicht feststellen, wo.


Trotz der armseligen und improvisierten Unterkunft erhoben er und Fara sich erst spät am folgenden Morgen, erschöpft an Leib und Seele. Ohne Eile, aber auch ohne unnütze Verzögerungen führte Wenzel sie erneut auf die abgeschiedene Straße, die stellenweise kaum mehr als ein Pfad war und an den Rabenbergen entlangführte, die sich nun zu ihrer Rechten erhoben.

Die Rabenberge waren zerklüftet, aber nicht hoch. An den grünbraunen Hängen entdeckten sie weder späten noch frühen Schnee, obwohl hier und dort eine jäh emporstrebende Felswand in der Sonne glänzte und an eine Eisfläche denken ließ. In ihrer Abfolge von Graten und Tälern waren die Berge so zerknittert wie eine Decke, durchzogen von steil abfallenden Schluchten und unzugänglichen Orten. Der Herbst hatte das sommerliche Grün dieses Landstrichs zu Gold und Braun werden lassen, durchzogen mitunter von scharlachroten Spritzern wie von blutigen Schwertwunden, gesäumt von dunkelgrünen Kiefern- und Fichtenwäldern. Hinter den ersten Steigungen konnte man gelegentlich durch eine Lücke in den Bergrücken die buckligen Reihen in einer dunstig-blauen Ferne verschwinden sehen, die nur unvollständig mit dem Horizont verschmolz, als würden diese Hügel in irgendeine grenzenlose Anderswelt hinübermarschieren.

Ingrey fragte sich, wie in aller Welt Audar der Große es je geschafft hatte, eine Armee in Eilmärschen durch diese Gegend zu führen. Sein Respekt für den alten Darthacer wuchs, ungeachtet all dessen, was daraus gefolgt war. Auch wenn Audar auf die übernatürliche Ausstrahlung der Geheiligten Könige hatte verzichten müssen, denen er entgegengetreten war, so musste seine Führung es doch geschafft haben, Leidenschaft zu wecken.

Sie waren nun auf Dachswall-Land. Ingrey wurde daran erinnert, als sie in weitem Bogen die Bergbaustadt Dachsbrücken umgingen, die in einem plötzlich belebten Flusstal gelegen war, das wie eine grüne Speerspitze in die Berglande ragte. Rauch stieg auf und fügte sich in den herbstlichen Dunst, sowohl von der Stadt selbst wie auch von einigen Schmelzen weiter oben im Tal. Er fragte sich, wo hier wohl Ijadas Stieffamilien lebte. Der fünfflügelige Tempel, eine wuchtige Konstruktion aus Holzbalken, ragte über die Stadtmauern hinaus und war aus der Ferne deutlich zu erkennen.

Eine Zeit lang folgten sie einer breiteren Straße, bis sie an einer Brücke dicht oberhalb der Stadt den Fluss kreuzten. Unter den Brückenbögen trieben Gebinde aus Bauholz und einige Fässer im steinigen Strom, von geschickten Männern und Jungen mit Stangen auf Kurs gehalten. Sie überholten Karren, dahertrottende Bauern mit ihren Tieren und lange Kolonnen schwer beladener Maultiere. Rossfluten trieb sie weiter, ohne hier eine Pause einzulegen. Er wandte sich flussauf, missachtete eine bedeutendere Nebenstraße und stieß dann wieder auf einem schmaleren Pfad direkt nach Westen in die Wälder vor.

Mit einem Blick auf den Lauf der Sonne legte Rossfluten für eine Weile ein noch schärferes Tempo vor, aber als der Weg noch schmaler wurde, musste er sich vorsichtiger bewegen. Die Pferde kämpften sich die immer steileren Hänge empor und rutschten auf der anderen Seite wieder hinunter. Aber es ging mehr bergauf als bergab, und schließlich bogen sie nach rechts ab und folgten einem schwach ausgeprägten Trampelpfad über einen Anstieg und dahinter in eine verborgene, bewaldete Senke.

Hier wartete kein Weiler auf sie, nicht einmal ein Bauernhaus, sondern nur ein einfacher Lagerplatz. Als sie herankamen, sprangen zwei Reitknechte auf und liefen ihnen entgegen, um sich der Pferde anzunehmen. Zwischen den Bäumen standen die üblichen drei Ersatztiere: gedrungene, kräftige Gäule diesmal, nicht die langbeinigen Rassepferde, die Rossfluten auf den Straßen bevorzugt hatte. Die erschöpfte Fara stieg nur langsam ab. Sie bewegte sich steif und blickte bestürzt auf ihren nächsten vorgesehenen Wohnsitz: eine Reihe einfacher Deckenlager im Schutz einiger Tannen, sogar noch dürftiger als die armselige Hütte vom Vortag. Wenn sie je zuvor während einer königlichen Jagd im Freien gelagert hatte, so ganz gewiss in ausladenden Zelten aus feinster Seide, umgeben von fürsorglichen Zofen und allen nur denkbaren Bequemlichkeiten. Hier war ganz offensichtlich jede andere Erwägung den Erfordernissen von Geschwindigkeit und Zweckmäßigkeit untergeordnet. Wir reisen nun mit leichtem Gepäck, und wir werden uns nicht lange hier aufhalten.

»Hast du es mitgebracht?«, wollte Rossfluten vom älteren der Knechte wissen.

Der Mann schlug ehrerbietig die heilige Geste und senkte das Haupt. »Ja, Herr.«

»Hol es.«

»Ja, Herr.«

Der krummbeinige Knecht überließ die Pferde seinem jüngeren Begleiter, stapfte zum Lager und beugte sich über einen Haufen Packen. Rossfluten, Fara und Ingrey gingen hinterher. Als der Knecht sich wieder erhob, umklammerte er eine sieben Fuß lange Stange, eingehüllt in ein uraltes, brüchiges Leinentuch und mit Garn umwickelt. Als Rossfluten sie entgegennahm, seufzte er zufrieden. Er legte die Hände um die Leinenhülle und stellte die Stange aufrecht hin, das Ende neben den Stiefel in den Boden gerammt. Er drückte kurz die Stirn dagegen und schloss die Augen.

Ingrey geleitete die müde Fara zu einem der Lager und stellte sicher, dass sie sich niederlassen konnte, ohne zu straucheln. Aus verhangenen Augen blickte sie zu ihm auf, als er sich wieder Rossfluten zuwandte. Der Knecht entfernte sich, um beim Ankoppeln der Pferde zu helfen.

»Was ist das, Majestät?«, fragte Ingrey und nickte in Richtung der Stange. Was immer es war, es ließ ihm die Haare zu Berge stehen.

Rossfluten zeigte ein schwaches Grinsen, doch ohne jede Fröhlichkeit. »Der wahre König braucht sein geheiligtes Banner, Ingrey.«

»Das ist doch gewiss nicht das königliche Banner, das Ihr auf dem Blutfeld bei Euch hattet.«

»Nein, das wurde zerbrochen und in Fetzen gerissen und mit mir begraben. Dieses hier ist dasjenige, das ich trug, als ich das letzte Mal König genannt wurde, wenn auch nur von den Überresten jener treuen Sippen, die mir noch folgten, als ich Audars Garnisonen von den Grenzen zum Sumpfland aus heimsuchte. Nach meinem letzten Tod in der Schlacht wurde es eingepackt und sicher verwahrt; und später, so dachte man jedenfalls, an meinen Sohn und Erben übergeben. Das brachte mir nur wenig Trost, aber ich war trotzdem froh, es zu haben. Ich habe es zwischen den Dachsparren von Burg Rossfluten versteckt. Und dort ist es drei Jahrhunderte lang geblieben, aufbewahrt in Erwartung eines besseren Tages. Stattdessen kehrt es nun an diesem Tag zurück. Aber es kehrt zurück.«

Rossfluten lehnte es sorgsam gegen eine große Kiefer, gestützt und geborgen von einigen ausladenden, tieferen Zweigen. Dann streckte er sich und ließ sich mit überkreuzten Beinen auf eine Lagerstatt fallen. Ingrey tat es ihm gleich und fand sich zwischen Rossfluten und der Prinzessin wieder. Ingreys Blick wurde erneut zu dem Bündel hingezogen. »Es lässt mir … Es liegt irgendein Zauber darauf, Majestät.« Um ehrlich zu sein, verursachte es ihm eine Gänsehaut.

In einer Art Befriedigung leckte Rossfluten sich die Lippen. »Gut, mein schlaues Wölflein. Wenn du so klug bist, hast du dann inzwischen auch herausgefunden, was für eine andere Aufgabe der Bannerträger sonst noch hatte?«

»Hä?«, erwiderte Ingrey. Verdrießlich dachte er darüber nach, dass der Graf ihn offenbar am liebsten als Dummkopf dastehen ließ, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, ihn in die Irre zu führen oder in Schrecken zu versetzen.

»Und doch hast du Boleso geläutert, was keine einfach Aufgabe war«, fuhr Rossfluten nachdenklich fort. »Ich werde allmählich die Versuche müde, deinen Verstand zu hüten, aber vielleicht zahlt es sich am Ende ja doch noch aus.« Er warf einen Seitenblick auf Fara, als wolle er sicherstellen, dass sie zuhörte. Das erweckte Ingreys Aufmerksamkeit, denn bisher hatte Wenzel es vermieden, sie anzusehen oder mit ihr zu sprechen, von direkten Befehlen abgesehen.

»Die Bannerträger durchschneiden die Kehlen ihrer Kameraden, die zu schwer verletzt sind, um noch vom Schlachtfeld geborgen werden zu können, habt Ihr gesagt«, warf Ingrey ein. Eine solche Pflicht war grausig genug, aber Ingrey war plötzlich überzeugt davon, dass noch mehr dahinter steckte.

Rossfluten holte tief Luft. »Die Seele eines getöteten Totemkriegers muss geläutert werden, bevor sie zu den Göttern gehen kann. Aber bei einem Krieger war es sehr wahrscheinlich, dass er in der Schlacht ums Leben kam, wenn wenig Zeit blieb für die angemessenen Riten und oft genug nicht einmal die Möglichkeit bestand, den Leichnam zu bergen. Und wenn selbst die Verwundeten zurückgelassen werden müssen, dürfte es den Toten nicht besser ergehen.

In der Welt der Materie kann nichts Spirituelles existieren, ohne dass es von lebender Materie genährt wird. Ich bin mir sicher, diesen Glaubenssatz hat man dich gelehrt. Und damit die Seele eines Kriegers nicht als verlorener Geist dahintreiben muss und der Verdammnis anheim fällt, musste der Bannerträger — oder die Bannerträgerin — sie als Heimsuchung an sich binden. Auf diese Weise konnte man die Seele vom Schlachtfeld tragen, um sie bei passender Gelegenheit vom Schamanen seiner Sippe läutern zu lassen. Oder notfalls auch von einem anderen Schamanen, der gerade zur Hand war.«

»Bei den fünf Göttern«, hauchte Ingrey. »Kein Wunder, dass die Bannerträger stets so verzweifelt verteidigt wurden.« Und war es etwa eine Variante dieses uralten Brauches gewesen, mit der Wenzel Ijada an ihn gebunden hatte?

»Allerdings, denn sie trugen die Hoffnungen sämtlicher getöteter Verwandter auf den Eingang ins Himmelreich mit sich. Deshalb hatte auch jede kämpfende Einheit, die von Totemkriegern geführt wurde oder solche beinhaltete, einen geweihten Bannerträger bei sich. Was nun den Bannerträger des Geheiligten Königs angeht …« Rossfluten verstummte, straffte die Schultern und fuhr fort: »Er erfüllte dieselbe Pflicht für die Seele seines Herrn, wenn der Geheiligte König an einen Tiergeist gebunden war. Nicht alle Geheiligten Könige waren auf diese Weise ausgezeichnet, auch wenn das auf viele zutraf, vor allem in unruhigen Zeiten.

Doch ob der Herrscher nun ein Totemkrieger war oder nicht, der Bannerträger des Geheiligten Königs hatte noch eine weitere heilige Aufgabe zu erfüllen, und das nicht nur, wenn sein Herr in einer unglücklich verlaufenden Schlacht fiel. Obwohl man natürlich davon ausgehen kann, dass eine Schlacht ziemlich unglücklich verlief, wenn der Geheiligte König auf dem Schlachtfeld erschlagen wurde. Wasser.« Wenzel leckte sich die trockenen Lippen und starrte auf seinen Schoß. Sein Rücken beugte sich wieder.

Ingrey schaute zu den aufgestapelten Bündeln, entdeckte einen schlaffen Wasserschlauch und brachte ihn dem Geschichtenerzähler. Wenzel legte den Kopf in den Nacken und trank in tiefen Zügen, ohne sich darum zu kümmern, wie abgestanden das Wasser war. Dann seufzte er und stützte sich auf eine Hand, als würde die Last dieser Geschichte ihn allmählich zu Boden drücken.

»Die Pflicht des königlichen Bannerträgers war es, beim Tod seines Herrn das geheiligte Königtum aufzufangen und zu behüten, bis es an der Zeit war, es auf den rechtmäßig erwählten Erben zu übertragen. Und so wurde dieses machtvollste Werk wealdischer Magie von Generation zu Generation weitergereicht, von uralten Zeiten bis … heute.«

»Der letzte Hirschendorn-König hatte keinen Bannerträger mehr, als er vorgestern starb«, stellte Ingrey fest. »War das Euer Werk?«

»Eine von mehreren notwendigen Vorkehrungen, von denen jede einzelne gar nichts ausgerichtet hätte. Ja«, murmelte Wenzel. »Wenn ein echtes Interregnum leicht herbeizuführen wäre, hätte es schon aus purem Zufall früher eines gegeben, das kann ich dir versichern. Oder auch mit Absicht.«

Er verzog das Gesicht, holte tief Luft und fuhr fort: »Aus Tradition und Notwendigkeit hatte der königliche Bannerträger verschiedene wichtige Eigenschaften. Er — oder sie«, wieder blickte er Fara eindringlich an, »gehörte für gewöhnlich derselben Sippe an wie der König und war diesem durch Blutsverwandtschaft eng verbunden, auch wenn es nicht unbedingt der Erbe sein musste. Er wurde vom König ausgewählt und vom königlichen Schamanen an seine Aufgabe gebunden — vom König selbst, wenn dieser ein Schamane war —, und er wurde von den Totemkriegern in der Versammlung der Sippen bestätigt. Und so haben wir hier alles versammelt, was nötig ist, um einen weiteren königlichen Bannerträger zu ernennen, wenn auch aufs Notwendigste beschränkt. Auch wenn es zugegeben an Zeremoniell fehlen wird. Nicht mit einem Lied, sondern schweigend soll die letzte königliche Bannerträgerin des Alten Weald an der Seite ihres geliebten Herrn reiten.« Aus seinem Seitenblick auf Fara sprach nun die düsterste Ironie.

Ihre zusammengebissenen Zähne lösten sich, und sie wollte etwas sagen, doch Wenzel hob die Hand. Seine Lippen bewegten sich stumm. Diesmal konnte Ingrey fühlen, wie der Bann sich wie ein Knebel um Fara wand und von ihrer eigenen Furcht und ihrem Zorn festgezurrt wurde. Sie bewegte die Lippen, schloss sie, presste sie aufeinander; doch ihre Augen loderten.

»Wofür?«, flüsterte Ingrey. Denn er erklärt uns das nicht ohne Grund, so viel ist sicher. Rossfluten bildete ihn nun schon seit Tagen aus, wie er im Rückblick erkannte.

Wenzel kauerte sich zusammen, zögerte und stieß sich dann mit einem schmerzerfüllten Ächzer empor. Er wandte den Kopf ab und spuckte einen Klumpen blutigen Schleims in die Düsternis. Der Geruch nach Eisen stach Ingrey in die Nase. Der Graf blickte durch die heranziehende Dämmerung zu den Knechten hinüber, die inzwischen mit den Pferden fertig geworden waren und zaghaft näher kamen. »Wir brauchen ein Feuer. Und etwas zu essen, nehme ich an. Ich hoffe, sie haben genug mitgebracht. Wofür? Das wirst du bald genug sehen.«

»Kann ich erwarten, dass es ich überlebe?« Ingrey schaute zu Fara hinüber. Wir beide?

Wenzels Mundwinkel zuckten nach oben. »Meinetwegen.« Er ging davon und verschwand in den harzduftenden Schatten zwischen den Bäumen.

Ingrey war nicht sicher, ob das Letzte als Vorhersage gemeint war oder nur als Erlaubnis.


Ingrey wurde am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang von Rossfluten persönlich geweckt, der neues Holz auf das Feuer warf und es zu einer hellen Flamme auflodern ließ. Sie alle hatten in der Reisekleidung von gestern geschlafen, und anscheinend blieb es den Knechten überlassen, das Lager abzubauen und mit den erschöpften Pferden wieder nach Hause zu reiten. Also gab es für Ingrey und Fara wenig zu tun, außer sich aufzusetzen, die Stiefel anzuziehen und das altbackene Brot zu essen, zusammen mit dem Käse und den zum Glück heißen Getränken, die man ihnen in die Hand drückte.

Ingrey stellte fest, dass die stämmigen Pferde auch nur leicht beladen waren. Die Satteltaschen enthielten Nahrungsmittel für vielleicht einen Tag, einschließlich einigen Maß Korn für die Tiere selbst. Doch ein Großteil der Kleidung zum Wechseln und sämtliche Annehmlichkeiten, hauptsächlich aus Faras Besitz, hatte man aussortiert. Es waren auch keine Decken oder sonst etwas dabei, das man für ein weiteres Lager verwenden konnte. Die Schlussfolgerungen aus diesen fehlenden Gepäckstücken beunruhigten Ingrey, ein Unbehagen, das er der mit Stummheit geschlagenen Prinzessin nicht anvertraute.

Durch den Nebel, der in der Nacht vom Wald aufgestiegen war und die Welt in feuchtes Schweigen hüllte, sickerte bereits graues Licht. Fara erschauderte in der klammen Kälte, als Ingrey ihr aufs Pferd half — ein robuster kleiner Rappe mit kurz geschorener Mähne und weißen Socken. Rossfluten verstaute sein Banner ein wenig unbeholfen längs des Pferdes, unter dem Seitenblatt des Sattels, sodass er das Bein darüber legen konnte. Er stieg auf und forderte sie mit einem Wink zum Aufbruch auf — schweigend, wie er es versprochen hatte. Ingrey blickte zu den Pferdeknechten zurück. Der Ältere stand steif da und blickte besorgt drein, der Jüngere kroch bereits wieder unter eine der zurückgelassenen Decken, um noch ein wenig Wärme und Schlaf zu ergattern.

Rossfluten führte sie zu einer Lücke zwischen den Hügeln empor, erst auf einem Weg, dann auf einem Pfad und schließlich auf Wildwechseln. Ingrey, der als Letzter ritt, wich zurückschlagenden Ästen aus. Zweige kratzten wie Fingernägel über seine Lederkleidung, während der Bewuchs immer dichter zusammenrückte. Die Hufe der Pferde knirschten auf den herabgefallenen Blättern, und mitunter gerieten sie auf den darunter liegenden, schwarz verrotteten Überresten vom letzten Jahr ins Rutschen und ließen feuchten Modergeruch aufsteigen.

Als der Tag weiter voranschritt, hob sich der weiche Dunstvorhang, und die Buchenstämme traten in deutlichen Umrissen hervor, als hätte der Nebel sich zu fester Baumrinde zusammengeballt. Und dann, als der Himmel sich blassblau über ihnen wölbte, wurde es heiß. Stechende Gnitzen fielen über die Reiter und ihre Tiere her, sodass sich unter das gleichförmige Auf und Ab über dem unebenen Gelände ein gelegentliches schrilles Wiehern und Buckeln mischte, als die Insekten die Pferde plagten.

Als Wenzel sie in eine Schlucht führte, die schließlich vor einer Felswand endete und ihnen keine andere Wahl ließ, als umzukehren, wurde Ingrey sich bewusst, dass Rossfluten sich auch seinen Weg suchen musste. Wie gut er dieses Land auch gekannt hatte, inzwischen hatte es sich auch für ihn bis fast zur Unkenntlichkeit gewandelt. Sie kehrten um und kämpften sich stattdessen über den gegenüberliegenden Berggrat.

Rossfluten trieb sie langsam, aber unerbittlich weiter voran.

Nach einem stundenlangen, strapaziösen Ritt, als die Sonne schon hoch über ihren Köpfen stand, machten sie endlich an einer klaren Quelle Halt und gönnten sich und den Pferden ein wenig Nahrung, Wasser und Ruhe. Gelbe Blätter segelten durch das gefilterte Licht wie gebrochene Versprechen und blieben auf der schimmernden Oberfläche des Teiches liegen. Noch waren nicht alle Blätter gefallen, und die Aussicht ringsum war immer noch halb vom Laubwerk der Bäume versperrt. Rossfluten stieg zu einem höheren Punkt auf und blickte sich eine Zeit lang um. Was immer er dort sah, schien ihn zufrieden zu stellen, denn schließlich kehrte er zurück und ließ sie wieder aufsitzen.

Wir sind auf Ijadas Land, erkannte Ingrey. Er war sich nicht sicher, wann sie die Grenzen zu ihren Erbgütern überschritten hatten; möglicherweise schon unmittelbar nach ihrem letzten Nachtlager. Plötzlich betrachtete er die Gegend mit neuem Interesse und war fast bereit, sogar die Gnitzen zu entschuldigen. Ausgedehnte Ländereien brachte nicht ganz die Stimmung zum Ausdruck, die sich beim Betrachten einstellte, obwohl Ingrey zu dem Ergebnis kam, dass die Ausdehnung dieser Ländereien durchaus einer kleinen Grafschaft entsprechen mochte. Allerdings war das Land zu einer unzugänglichen, steinigen Wildnis zusammengefaltet; eine Schönheit, die einem eher den Atem verschlug als das Auge zu beruhigen. Ja, das ist Ijada.

Er tastete in seinem Geist nach der Lücke, die sie hinterlassen hatte, wie man mit einer Zunge die wunde Lücke eines gezogenen Zahnes erfühlen mochte. Doch alles, was er fand, war die brennende Gegenwart von Rossfluten, der wie eine Entzündung diese Lücke befallen hatte. Gemeinsam einsam, so erschien ihm dieser wortkarge königliche Umzug aus drei Personen. Gottverlassen.

Die Sonne sank schon wieder dem westlichen Horizont entgegen, als sie schließlich durch eine weitere Lücke zwischen Hügeln emporstiegen, sich dahinter nach links wandten und unvermittelt auf einem Felsvorsprung standen. Sie zügelten die Pferde und starrten.

Zwei unregelmäßig gewellte, steile Berggrate umschlossen ein Tal von vielleicht vier Meilen Länge und zwei Meilen Breite. Am anderen Ende kamen sie in einem Bogen aufeinander zu und schlossen das Tal dort ab wie mit einer Mauer. Der Talgrund war so flach wie die Oberfläche eines Sees. Am vorderen Ende, unmittelbar zu ihren Füßen, lag ein fahler Wiesenstreifen und gelbes Ried, ein halb ausgetrockneter Sumpf. Dahinter erhoben sich ein paar vereinzelte, knorrige Eichen wie Wachposten, hinter denen sich ein düsterer, verfilzter Eichenwald dehnte. Selbst jetzt, wo die Hälfte des Laubes gefallen sein musste und mit der sinkenden Sonne dahinter, waren die Schatten für Ingreys Auge undurchdringlich. Er zuckte vor den Ausdünstungen des Leidens zurück, die selbst von hier aus noch spürbar von den Bäumen aufzusteigen schienen.

Bestürzt sog er die Luft ein; dann wandte er sich ab und stellte fest, dass Rossfluten ihn beobachtete.

»Du spürst es, nicht wahr?«, fragte der Graf wie beiläufig.

»Ja.« Was fühle ich da? Hätte Ingrey ein Fell besessen, hätte sich ihm jedes Haar aufgestellt.

Rossfluten stieg ab und löste das Banner unter dem Sattelblatt. Er musterte seine Frau, kurz und ohne Wohlgefallen. Fara erwiderte den Blick aus weit aufgerissenen Augen und mit herabhängenden Schultern; dann blickte sie zu Boden und erschauderte. Rossfluten schüttelte den Kopf in einer Geste, die Abscheu hätte ausdrücken können, wäre sie leidenschaftlicher gewesen. Dann trat er zu Ingrey und reichte ihm den Schaft.

»Trag das für eine Weile. Ich will nicht, dass es verloren geht.«

In Ingreys linkem Steigbügel war eine kleine metallene Ausbuchtung, in der man einen Speer auflegen konnte. Er hielt das Banner aufrecht und drückte den Schaft in diese Auflage; dann ergriff er mit der Rechten die Zügel. Das Pferd war inzwischen viel zu müde, um ihm noch Schwierigkeiten zu bereiten. Rossfluten stieg wieder auf, wendete sein Tier und winkte ihnen zu folgen.

Im Zickzack stiegen sie von der Felsnase herab und bewegten sich zwischen spärlicheren Bäumen hindurch. Unten im Tal war Ingrey gezwungen, abzusteigen, Rossfluten das Banner zu reichen und das Schwert zu ziehen, um ihnen einen Weg durch mannshohes, dürres Brombeergestrüpp zu hacken, das nicht bloß Dornen, sondern wahre Reißzähne zu haben schien. Einige der zurückpeitschenden Äste durchschlugen sogar seine Ledersachen, und aus den Stichen und Kratzern stäubten feine Blutströpfchen, während er sich den Weg freikämpfte. Auf der anderen Seite, am Rand des ausgetrockneten Sumpfes, stieg Rossfluten wieder ab und entfaltete endlich das Banner.

Die ausgetrocknete Schnur teilte sich in feinen Staubwolken, sobald das Messer damit in Berührung kam, und das spröde Leinentuch brach weg. Darunter entfaltete sich ein verblichenes Banner aus Nesselgarn mit dem Wappen seiner Sippe, einem rennenden weißen Hengst auf einer grünen Fläche über drei blauen Wellenlinien. Im schwindenden Tageslicht sah es eher nach einem grauen Hengst aus, der über grauen Linien auf einer grauen Fläche dahingaloppierte und sich im Nebel zu verlieren drohte. Dieses Mal brachte Wenzel Fara dazu, das Banner entgegenzunehmen. Er flüsterte Worte, die Ingrey kaum hören und noch viel weniger verstehen konnte, doch Ingrey fühlte, wie eine neue, düstere Strömung zwischen den beiden entstand. Die zum Schweigen gebrachte Fara drückte das Rückgrat durch und hob das Kinn. Nur in ihren Augen zeigte sich noch ein Abgrund hilflosen Grauens.

Rossfluten reichte Ingrey die Zügel seines Pferdes und griff selbst nach dem Zaumzeug von Faras Tier. Diesmal ging er zu Fuß voran und bewegte sich auf seltsam gewundenen Pfaden zwischen den gelben Grasbüscheln umher. Ingrey erkannte auch warum, als sie an einer trügerischen, dunklen Stelle vorüberkamen — tückische Sumpflöcher, die für die schweren Schritte eines Pferdes fatal sein mussten. Er achtete darauf, sein Reittier genau dort entlangschreiten zu lassen, wo auch der Graf sich seinen Weg gesucht hatte.

Trotz der Feuchtigkeit, die aus dem Morast aufstieg, war die Wärme des Tages noch immer in der Luft zu spüren. Dann aber kroch ihnen der Schatten des Waldes entgegen, der im Schatten der untergehenden Sonne lang geworden war. Als sie in diese Finsternis traten, machte die plötzliche, beißende Kälte ihre Atemzüge als bleiche Wolken sichtbar.

Sie näherten sich einer vor dem Wald gelegenen Eiche, und die Bezeichnung »Der Wehe Wald« schien Ingrey nun gleich in doppelter Hinsicht gerechtfertigt. Der Baum war alt und riesig, wirkte jedoch verkümmert. Die Blätter, die sich immer noch an seinen welken Zweigen festklammerten, waren nicht braun, vertrocknet und eingerollt, sondern schlaff, geschwärzt und missgestalt. Stamm und Äste wirkten verknotet und verdreht, weit mehr, als es für eine Eiche natürlich erschien, so verdrillt wie ein ausgewrungener Lumpen, und aus wulstigen Geschwüren nässte eine kränkliche, schwarze Flüssigkeit.

Ein Krieger trat von dem Baum fort. Nicht unter dem Baum hervor oder um ihn herum: Er trat aus dem Stamm selbst wie durch einen Vorhang. Seine Rüstung aus gehärtetem Leder war mürbe vom Alter. Von seinem Speerschaft, auf den er sich stützte wie auf eine Krücke, hing ein Tierfell als nicht mehr erkennbarer Fetzen herab. Sein blonder Bart war von getrocknetem Blut verkrustet, und er trug noch immer die Wunden, an denen er gestorben war: Ein Ohr fehlte, Risse von Axthieben klafften im Brustpanzer, und eine abgetrennte Hand hatte er sich mit einem Stofffetzen an den Gürtel gebunden. Ein Dachspelz war mit dem Schädel an seiner rostigen Eisenhaube festgemacht und starrte mit ausgetrockneten Augen ins Leere. Das schwarz-weiße Fell hing dem Krieger in den Nacken und schlenkerte umher, als er langsam den Kopf drehte und die drei Neuankömmlinge eingehend musterte.

Erst jetzt erkannte Ingrey, dass sie irgendwann während ihres Marsches durch den Sumpf die Grenzen zwischen der ihm bekannten Welt und einer anderen überschritten hatten, eine Welt, in der solche Anblicke möglich waren. Die Überschneidungen dieses Ortes mit der materiellen Welt waren trügerisch. Auch Fara war in seine Vision mit einbezogen. Ihr Körper blieb steif emporgereckt, ihr Gesicht ausdruckslos, doch aus ihren Augenwinkeln lief ihr ein feiner, feuchter Schimmer übers Gesicht. Ingrey entschied, Rossfluten nicht darauf aufmerksam zu machen, damit er seiner Frau die Tränen nicht ebenso nahm wie die Stimme.

Der Krieger nahm Haltung an und beschrieb mit seinem handlosen Stumpf das Zeichen der fünf Götter, berührte die Stirn, den Mund, Bauchnabel, Leiste und Herz, auch wenn er dabei nicht die Finger ausbreiten konnte. »Geheiligte Majestät, endlich seid Ihr gekommen«, sagte er zu Rossfluten. Seine Stimme war wie das Ächzen von Ästen bei heftigem Wind. »Lange haben wir gewartet.«

Rossflutens Antlitz hätte aus Holz geschnitzt sein können, doch in seinen Augen stand eine bodenlose Finsternis. »O ja«, sagte er leise.

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