Kapitel Zehn

Am späten Nachmittag überquerten sie die niedrigen Hügel nordöstlich der Hauptstadt. Die Stadt und die weitläufigen südlichen Ebenen dahinter lagen zu ihren Füßen. Der Storchenfluss strebte in einer silbern funkelnden Linie von der Stadt fort und verlor sich in immer engeren Windungen in der dunstigen Ferne. Einige Boote, Handelsschiffe, ruderten mühsam stromauf oder trieben stromab, auf dem Weg von oder zu der kalten See, die ungefähr achtzig Meilen entfernt lag. Als Ingrey sich an ihre Seite zurückfallen ließ, erhob Ijada sich in den Steigbügeln und schaute nach vorn.

Er musterte ihre Miene, die gleichermaßen Faszination und Unruhe ausdrückte. Ostheim mochte die größte Stadt sein, die sie in ihrem Leben gesehen hatte, auch wenn etwa ein Dutzend Residenzstädte in Darthaca es an Größe übertrafen und die darthacische königliche Metropole sogar um das Sechsfache.

»Die Stadt ist in zwei Hälften geteilt, in die Tempelstadt und die Königsstadt«, erklärte Ingrey. »Die höher gelegenen Stadtteile auf diesem aufragenden Hang dort beherbergen den Tempel und den Palast des Erzprälaten sowie die Sitze der heiligen Orden. In den unteren Stadtteilen befinden sich die Lagerhäuser und Kaufmannsviertel. Jenseits der Stadtmauern kannst du die Anlegestellen erkennen, wo die Kanalisation in den Storchenfluss mündet. Die Halle des Geheiligten Königs und die Stadtresidenzen der meisten Sippenführer liegen am anderen Ende des Hafens.« Mit der Hand maß er die einzelnen Stadtteile aus.

»Vor langer Zeit standen an der Stelle von Ostheim zwei Dörfer«, fuhr er fort. »Sie gehörten zu zwei unterschiedlichen Stämmen. Sie befehdeten sich über den kleinen Bergfluss hinweg, der sie trennte, bis das Wasser rot war von ihrem Blut, so heißt es. Dies währte noch bis in die Zeit hinein, als Audars Enkel den Ort als westliche Hauptstadt auserkor und jede Unterteilung mit steinernen Bauten zupflastern ließ. Heute kann man diesen Bergfluss kaum noch erkennen, so überbaut ist er. Und niemand möchte für einen Abwasserkanal sterben. Hetwar hat mir diese Geschichte erzählt. Er hält sie für eine Art Gleichnis, aber ich bin mir nicht sicher, wo er die Moral darin sieht.«

Die Reiterschar folgte der Straße zum östlichsten Tor in die Königsstadt. Die Bauten waren beeindruckend, und die verwinkelten Straßen waren gesäumt von hohen Häusern aus braunem Stein oder mit weißem Putz und Glasfenstern, die aus tiefen Maueröffnungen hervorfunkelten. Anstelle leicht entflammbarer Strohdächer gab es solche aus rotem Ziegel; zu Zeiten der alten Schwesterstädte waren vermutlich mehr Verwüstungen durch Brände als durch Krieg entstanden. Die Außenmauern waren sogar noch beeindruckender, auch wenn sie von neuen Häusern gleichsam bedrängt wurden, die ganz dicht heranreichten oder sogar außerhalb der Wälle standen und deren Wirksamkeit beeinträchtigten.

Schließlich gelangten sie zu einer engen Gasse im Kaufmannsviertel und stiegen vor einem schmalen Steingebäude ab, das in einer Reihe mit verschiedenen, ähnlich errichteten Häusern stand, die aber offenbar alle aus unterschiedlichen Zeiten stammten und von unterschiedlichen Steinmetzen gefertigt worden waren. Ingrey fragte sich, ob der gesamte Block den Rossflutens gehörte und ob der reiche Besitz über Prinzessin Fara in die Hände des Grafen gelangt war. Das Haus war weder so groß noch so prächtig wie ihre Unterkunft der letzten Nacht, doch es wirkte angemessen, ruhig und günstig gelegen.

Ingrey stieg ab und überließ sein Pferd und das von Ijada der Obhut Gescas.

»Lass Lord Hetwar wissen, dass ich bei ihm vorspreche, sobald ich unsere Gefangene sicher untergebracht habe. Und schick mir meinen Burschen Tesko, wenn du ihn nüchtern vorfindest. Lass ihn alles mitbringen, was ich voraussichtlich während der nächsten Tage gebrauche. Vor allem saubere Kleidung.« Ingrey verzog das Gesicht und lockerte das schmerzende Rückgrat. Seine Hose stank nach Pferd und Straßendreck, und die Naht in seiner Kopfhaut juckte wieder. Ijada legte die Reithandschuhe ab, reckte den Hals und schaffte es irgendwie, fast so frisch zu wirken wie am Morgen.

Der Pförtner ließ sie ein. Von einem Dienstmädchen geführt, geleitete die neue Zofe Ijada sogleich nach oben. Der Pförtnerjunge trug ihr die von Lederriemen gehaltene Reisetruhe nach. Ingrey stellte die Satteltaschen ab und blickte sich in der schmalen Diele um.

Ängstlich zog der Pförtner den Kopf ein. »Der Junge wird gleich zurück sein und Euch auf Euer Gemach bringen, Herr.«

Ingrey schnaubte und erwiderte: »Nur keine Eile. Wenn dieser Ort nun meiner Obhut untersteht, schaue ich mich am besten erst einmal um.« Er schritt durch den nächsten Durchgang.

Das Haus wirkte überschaubar. Keller und Erdgeschoss dienten als Lagerfläche und enthielten eine Küche mit einem Vorraum sowie Pritschen für den Koch und den Küchenknecht, dazu einen Speiseraum, einen Salon und ein Kämmerchen unter der Treppe, in dem der Pförtner hauste. Ingrey blickte durch die einzige Hintertür hinaus, die auf einen Innenhof mit abgedecktem Brunnen führte. Das erste Obergeschoss bestand aus einem Raum, der möglicherweise als Arbeitszimmer gedacht war, sowie aus zwei Schlafräumen. Im Stockwerk darüber kam Ingrey an den Türen ähnlich zugeschnittener Räume vorbei, hinter denen er leise Frauenstimmen vernahm: Ijada und ihre Begleiterin. Das oberste Stockwerk schließlich war in kleinere Räumlichkeiten für die Diener unterteilt.

Er stieg die Treppe wieder hinunter und traf auf den Pförtnerjungen, der gerade seine Satteltaschen in einen der Schlafräume im ersten Stock schleppte. Die Einrichtung dort war karg — ein schmales Bett, ein Waschtischchen, ein einzelner Stuhl, ein zerkratzter alter Schrank. Ingrey fragte sich, ob der Raum wohl vermietet gewesen war, bis Rossflutens Boten gestern Abend das Gebäude beansprucht hatten. Die leisen, unverwechselbaren Schritte und das Knarren eines Bettes über ihm verrieten, wo Ijada sich aufhielt. Diese Nähe war beruhigend und irritierend zugleich. Als er ihre Schritte auf der Treppe hörte, machte er sich ebenfalls auf den Weg.

Er öffnete die Tür, als sie gerade davorstand, die Hand zum Klopfen erhoben. In der anderen Hand hielt sie den Brief der Gelehrten Hallana, der inzwischen leicht zerknittert aussah. Ihre Zofe — oder Wenzels Aufpasserin? — drückte sich dicht hinter ihr herum und spähte ihr misstrauisch über die Schulter.

»Lord Ingrey«, begann Ijada und sprach wieder ganz förmlich. »Die Gelehrte Hallana hat Euch aufgetragen, dies hier zu überbringen. Werdet Ihr das tun?« Ihre reglosen Augen schienen sich in die seinen zu bohren und ermahnten ihn wortlos daran, was die Zauberin sonst noch gesagt hatte: Dem Empfänger, und niemand anderen.

Er nahm den Brief entgegen und schaute auf den dahingekritzelten Adressaten. »Wisst Ihr, wer dieser …«, er sah noch einmal genauer hin, »dieser Gelehrte Lewko ist?«

»Nein. Aber wenn Hallana ihm vertraut, wird er kein Dummkopf sein.«

Und was beweist das? Hallana hat mir vertraut. Und ein Mann der Kirche, auch wenn er kein Dummkopf und aufrichtig war, musste noch lange nicht ihr Freund sein.

Trotzdem empfand Ingrey eine bohrende Neugierde, was Hallana wohl über ihn geschrieben hatte und über die außergewöhnlichen Begebenheiten in Rottwall. Und wenn er den Brief nicht selbst öffnen wollte, gab es nur einen Weg, mehr darüber herauszufinden: Er musste dabei sein, wenn der Brief aufgemacht wurde. Er konnte ihn auf dem Weg zu Hetwars Palast abgeben und musste ihn dann möglicherweise seinem Herrn gegenüber auch nicht mehr verbergen oder darüber lügen. Hetwar würde den Brief nicht länger von ihm einfordern können. Wenn er deswegen getadelt wurde, konnte Ingrey immer noch so tun, als wäre diese getreuliche Zustellung genau die Art von Tugendhaftigkeit, die Hetwar von einem seiner Gefolgsmänner erwarten konnte.

»Ich werde dieser Verpflichtung nachkommen.«

Ijada nickte bedächtig, und er fragte sich, ob sie ihm wohl seine gewundenen Gedankengänge an den Augen ablas oder nicht oder ob sie ihm so unbekümmert vertraute wie Hallana.

»Bleibt im Haus«, fügte er noch hinzu. »Bleibt in Sicherheit. Schließt Eure Zimmertüren ab. Was immer dieses Haus an Annehmlichkeiten zu bieten hat — es dürfte Euch zur Verfügung stehen.« Er ließ seinen Blick zu der Frau wandern, die ihr als Zofe und Wärterin zugleich diente, und sie bestätigte die Worte mit einem leichten Knicks. »Ich weiß nicht, was Lord Hetwar heute Abend noch von mir will, also esst, wann es Euch beliebt. Ich komme zurück, sobald ich kann.«

Er verstaute den Brief unter seinem Wams, verabschiedete sich mit einer höflichen Verbeugung von ihr und stieg die Treppen hinunter. Er wünschte sich ein Bad, saubere Kleidung und etwas zu essen, in eben dieser Reihenfolge. Doch alle diese Annehmlichkeiten mussten warten.

Ingrey ließ beim Pförtner Anweisungen für seinen Burschen zurück, für den Fall, dass Tesko vor seiner Rückkehr hier auftauchte. Dann ging er in die Stadt.

Die vertrauten Gerüche und Eindrücke beruhigten ihn ein wenig. Er suchte sich seinen Weg durch die gepflasterten Gassen der Königsstadt und über das Flüsschen; dann stieg er die steilen Stufen des Hanges der Tempelstadt empor. Zwei Serpentinen und zehn Minuten erschöpfenden Weges brachten ihn zu dem Tordurchgang, der sich verwinkelt unter einem Turm und zwei Häusern hindurchschlängelte und in die obere Stadt führte. In einem finsteren Winkel an der Biegung des Weges stand ein kleiner Schrein für die Sicherheit der Stadt. Ein paar Kerzen, von welken Girlanden umrahmt, flackerten im schwachen Lufthauch. Gedankenlos schlug er im Vorübergehen die heilige Geste. Er gelangte wieder in das Licht des späten Nachmittags und bog nach rechts ab.

Nach einigen weiteren Minuten erreichte er den Tempelplatz und schritt unter dem säulengetragenen Vordach hindurch in den geheiligten Bezirk.

Der Innenhof war nicht überdacht, und in seiner Mitte brannte das Heilige Herdfeuer ruhig auf seinem Sockel. Durch einen Torbogen konnte Ingrey in eine der fünf gemauerten Kuppelhallen blicken, die den Hof umgaben. Dort begann soeben eine Zeremonie — eine Bestattung, wie Ingrey an der Bahre erkannte, die, von unruhigen Trauergästen umgeben, vor dem Altar des Vaters abgestellt wurde. In ein paar Tagen würde hier auch für Prinz Bolesos sterbliche Überreste eine solche Zeremonie abgehalten werden.

Auf der anderen Seite des Hofes geleiteten die Hüter der heiligen Tiere ihre Schützlinge zum kleinen Wunder der Erwählung. Ein jedes Geschöpf würde von einem Pfleger, der die Farben der entsprechenden Kirche trug, an die Bahre geführt, und der Geistliche würde anhand des Verhaltens der Tiere entscheiden, welcher Gott die Seele des kürzlich Verstorbenen aufgenommen hatte. Diese Entscheidung leitete nicht nur die Gebete der Trauernden ein, sondern auch die Opferriten, die dem Schrein und der Kirche des jeweiligen Gottes galten. Ingrey wäre diesbezüglich skeptischer gewesen, hätte er nicht mehr als einmal Ergebnisse beobachtet, die ganz offensichtlich alle Beteiligten überrascht hatten.

Eine Frau im Grün der Mutter trug einen großen grünen Vogel auf der Schulter, der aufgeregt krächzte. Ein Mädchen im Blau der Tochter hielt eine junge Henne mit blauvioletten Federn fest unterm Arm. Ein grauer Hund mit dichtem Fell hockte nahe bei den grauen Gewändern eines ältlichen Tierpflegers aus der Kirche des Vaters. Ein junger Mann im Rot und Braun des Sohnes führte ein unruhiges, kastanienbraunes Fohlen, dessen Fell zu einem Kupferglanz gebürstet worden war und das wild mit den Augen rollte. Das Tier schnaubte und tänzelte und riss den Pfleger fast von den Füßen. Im nächsten Augenblick erkannte Ingrey den Grund dafür.

Dicht hinter den anderen rückte der gewaltigste weiße Eisbär bedrohlich näher, den Ingrey je gesehen hatte. Die Kreatur war so groß wie ein Pony und doppelt so breit. Seine kleinen Äuglein zeigten die Farbe vom gefrorenem Urin und waren ebenso kalt. Am anderen Ende einer langen, dicken, silberglänzenden Kette folgte der Hüter des Tieres, gekleidet in die weißen Gewänder der Kirche des Bastards. Der junge Mann hielt mühsam seine Panik im Zaum; seine Blicke huschten verzweifelt zwischen dem ihm anvertrauten Schützling und einem hochgewachsenen Mann hin und her, der ihm folgte und beruhigend auf ihn einflüsterte.

Dieser Mann war eine fast ebenso beeindruckende Erscheinung wie der Bär. Seine breiten Schultern passten zu seiner hünenhaften Größe, und sein Haar war zu einem dichten, roten Pferdeschwanz geflochten. Dicke Silberspangen hielten den Schopf zusammen, und noch dickere Silberreifen umspannten die Arme. Die hellblauen Augen zeigten einen Ausdruck wohlmeinender Verständnislosigkeit, bei dem Ingrey sich nicht sicher war, ob er auf Überlegenheit oder Dummheit zurückzuführen war. Die Kleidung des Mannes — Tunika, Hose, ein weiter Mantel — war vom Zuschnitt schlicht und einfach, aber prachtvoll gefärbt und mit aufwendigen Stickereien verziert. Die schweren Stiefel waren mit silbernen Ornamenten beschlagen, und am Griff seines Langschwerts funkelten grob geschliffene Edelsteine. In der Gürtelschlaufe am Rücken steckte kein Messer, sondern eine Streitaxt. Sie war ebenfalls mit kunstvollen Einlegearbeiten verziert, und die Schneide glänzte messerscharf.

Ein braunhaariger Mann in ähnlichen, aber nicht ganz so bunten Kleidern lehnte mit verschränkten Armen an einer Säule. Er war gut einen Kopf kleiner als sein Begleiter, aber immer noch groß, und verfolgte die Zeremonie mit einem zweifelnden Ausdruck. Einige der Tierpfleger warfen, ihm flehentliche Blicke zu, die er standhaft missachtete.

Ingrey löste seine Aufmerksamkeit von diesem eigenartigen Schauspiel, als er eine ältere Frau in den weißen Gewändern des Bastards erblickte, mit der verflochtenen Tresse einer Geistlichen auf der Schulter. Sie trug einen Stapel gefalteter Tücher auf dem Arm und huschte über den Hof, den sie anscheinend als Abkürzung gebrauchen wollte. Ingrey erwischte sie gerade noch am Ärmel, als sie an ihm vorübereilte. Abrupt blieb sie stehen und beäugte ihn ungnädig.

»Verzeiht mir, Hochwürden. Ich trage einen Brief an den Gelehrten Lewko bei mir, den ich ihm persönlich überbringen soll.«

Ihre Miene änderte sich augenblicklich; sie wurde zwar nicht freundlicher, aber deutlich interessierter. Die Frau musterte Ingrey von oben bis unten. Vermutlich sah er zurzeit wie ein abgekämpfter Bote aus.

»Dann folgt mir«, sagte die Frau und änderte unvermittelt die Richtung. Obwohl Ingrey längere Beine hatte als sie, musste er rasch ausschreiten, um Schritt zu halten.

Sie führte ihn durch eine unauffällige Seitenpforte, ein paar Treppen hinauf und hinab, hinten zum Tempel hinaus und vorüber am Palast des Erzprälaten in die angrenzende Straße. Durch eine weitere schmale Gasse gelangten sie zu einem langen, zwei Stockwerke hohen Steingebäude. Durch eine Seitentür traten sie ein und erklommen weitere Treppen. Sie durchquerten eine Reihe gut erleuchteter Räume, die anscheinend als Skriptorien dienten, dem Kratzen der Federn und den über die Tische gebeugten Köpfen nach zu urteilen.

Schließlich gelangten sie an eine geschlossene Tür in derselben Zimmerflucht. Die Geistliche klopfte, und eine ruhige Männerstimme sagte: »Tretet ein.«

Die Tür öffnete sich und gab den Blick auf eine kleinere Kammer frei. Übervolle Regale säumten die Wände, und zwei Tische quollen über vor Büchern, Papieren, Schriftrollen und einem Wust anderem Kram. In einer Ecke ruhte ein Sattel auf dem Sattelknauf.

Ein Mann saß in einem Stuhl hinter dem Tisch beim Fenster und blickte mit einem Stirnrunzeln von dem Bündel Papiere auf, in dem er gerade gelesen hatte. Er trug ebenfalls das Weiß des Bastards, doch seine Gewänder wirkten schäbig und zeigten keine Kennzeichnung seines Ranges. Er war von mittlerem Alter, hager und ein wenig höher gewachsen als Ingrey, glatt rasiert und mit ergrauendem, kurz geschnittenem Blondhaar. Ingrey hätte ihn für den Schreiber oder Sekretär einer hochgestellten Persönlichkeit gehalten, hätte die Geistliche nicht die Hand auf die Lippen gelegt und in einer Geste tiefster Ehrerbietung den Kopf geneigt, bevor sie wieder das Wort ergriff.

»Gelehrter Lewko, hier ist ein Mann mit einem Brief für Euch.« Sie blickte Ingrey an. »Wie lautet Euer Name?«

»Ingrey von Wolfengrund.«

Der Frau blieb unbeeindruckt, der Hagere jedoch merkte auf. »Ich danke dir, Marda«, sagte er, und sein Tonfall zeigte an, dass die Frau entlassen war. Wieder berührte sie die Lippen und zog sich zurück. Die Tür hinter Ingrey fiel zu.

»Die Gelehrte Hallana trug mir auf, Euch diesen Brief zu überbringen«, verkündete Ingrey, trat zu dem Tisch und überreichte das Schreiben.

Der Gelehrte Lewko legte rasch das Bündel Papiere ab und richtete sich auf, um nach dem Brief zu greifen. »Hallana! Ich hoffe, es sind keine schlechten Nachrichten?«

»Nein … das heißt, zumindest ging es ihr gut, als ich sie zuletzt gesehen habe.«

Lewko beäugte den Brief argwöhnisch. »Eine schwierige Angelegenheit? «

Ingrey dachte kurz nach, bevor er antwortete. »Sie hat mir den Brief anvertraut, aber nicht dessen Inhalt.«

Lewko seufzte. »Wenn es nicht noch ein Eisbär ist! Ich glaube nicht, dass sie mir einen Eisbär schenken würde. Hoffe ich.«

Ingrey ließ sich kurz ablenken. »Ich habe einen Eisbären im Innenhof gesehen, als ich in den Tempel kam. Er war … äh, überaus beeindruckend.«

»Furchterregend trifft es wohl besser. Die Tierpfleger waren ganz aufgelöst. Versuchen sie tatsächlich, ihn bei einer Bestattung zu verwenden?«

»Es hatte ganz den Anschein.«

»Wir hätten uns beim Fürsten bedanken sollen und den Bären dann in eine Menagerie schaffen lassen. Irgendwo draußen auf dem Land.«

»Wie ist er hierher gelangt?«

»Überraschend. Und mit einem Boot.«

»Wie groß war dieses Boot

Lewko musste bei Ingreys Tonfall grinsen. Das ließ ihn unvermittelt sehr viel jünger aussehen. »Ich sah es gestern im Hafen der Königsstadt vertäut liegen. Es ist nicht annähernd so groß, wie man annehmen würde.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Das Tier war ein Geschenk, oder vielleicht auch eine Bestechung. Dieser rothaarige Hüne hat es von irgendeiner Insel auf der kalten Seite des südlichen Ozeans mitgebracht. Er ist entweder ein Fürst oder ein Pirat — das kann man bei diesen Leuten nie so genau sagen. Fürst Jokol, von seinen treuen Männern liebevoll auch Jokol Schädelspalter genannt, wie ich gehört habe. Ich hätte nicht gedacht, dass man diese weißen Bären zähmen kann, aber anscheinend hat er diese Kreatur als Haustier gehalten, seit es ein Junges war. Das dürfte die Gabe noch kostbarer machen. Jedenfalls, ich kann mir kaum vorstellen, was das für eine Reise gewesen sein muss. Sie haben von Stürmen berichtet. Auf jeden Fall brachte Jokol große Barren aus lauterem Silber mit, um davon den Unterhalt des Bären zu bestreiten. Die Barren haben den Oberaufseher der kirchlichen Menagerie offenbar so sehr geblendet, dass er nicht daran dachte, das Geschenk abzulehnen. Oder die Bestechung.«

»Bestechung wofür?«

»Der Schädelspalter will einen Geistlichen anstelle des Bären auf seine gletscherbedeckte Heimatinsel entführen. Das wäre eine heilige Mission zur Verbreitung des Glaubens, die jeden Priester mit Stolz erfüllen sollte. Man hat bereits nach Freiwilligen gefragt. Zweimal. Wenn keiner sich gemeldet hat, bis der Fürst wieder ablegen möchte, wird man einen finden müssen. Unter einem Bett hervorziehen, vermutlich.« Wieder grinste er kurz. »Ich kann es mir erlauben, Witze darüber zu machen. Mich können Sie nicht schicken. Nun gut.« Er seufzte wieder und legte den Brief vor sich auf den Tisch, mit dem Siegel nach oben, und beugte sich darüber.

Die Belustigung schwand, und Ingrey war plötzlich angespannt. Sein Blut — jenes Blut — schien mit einem Mal zu brodeln. Lewko trug nicht die Tresse eines Zauberers, und er roch auch nicht nach einem Dämon, und doch standen die Zauberer der Kirche ihm Rede und Antwort …? Kamen sie zu ihm, wenn sie nicht weiterwussten?

Lewko legte die Hand auf das Wachssiegel und schloss kurz die Augen. Irgendetwas erstrahlte um ihn her. Ingrey sah es nicht und roch es auch nicht, und doch stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Er hatte diese tiefe Ehrfurcht schon einmal empfunden, von einem stärkeren Quell, jedoch zu einer Zeit, als seine spirituellen Sinne noch sehr viel schwächer ausgeprägt gewesen waren. Am Ende seiner ergebnislosen Pilgerfahrt nach Darthaca, in der Gegenwart eines kleinen, untersetzten, mitgenommen wirkenden Burschen, der ganz normal aussah, ruhig dasaß und sich einem Gott öffnete, damit dieser durch ihn in die grobmaterielle Welt hineinreichen konnte.

Lewko ist kein Zauberer. Er ist ein Heiliger oder wenigstens ein kleinerer Heiliger. Und er kannte Ingrey und diente anscheinend der Kirche hier schon seit Jahren, wenn man den Zustand seines Arbeitszimmers in Betracht zog. Doch Ingrey hatte ihn nie zuvor gesehen — oder sollte man besser sagen, bemerkt? Ganz gewiss nicht in Gesellschaft eines der hohen Geistlichen, die den Siegelbewahrer aufsuchten oder am Hofe des Königs vorsprachen — all jene, die Ingrey sich so pflichtbewusst eingeprägt hatte.

Lewko blickte auf. Die Heiterkeit war aus seinen Augen gewichen. »Ihr seid ein Gefolgsmann des Siegelbewahrers Hetwar, nicht wahr?«, fragte er sanft.

Ingrey nickte.

»Dieser Brief ist geöffnet worden.«

»Nicht von mir, Hochwürden.«

»Von wem dann?«

Ingrey dachte über diese Frage nach. Von Hallana zu Ijada zu ihm … Ijada? Bestimmt nicht. Hatte sie ihn jemals aus den Händen gegeben, unter ihrem Gewand hervorgeholt? Der Brief hatte in der Innentasche ihres Reitkleides gesteckt, das sie die ganze Zeit getragen hatte … außer beim Abendessen mit dem Grafen von Rossfluten! Und Wenzel hatte die Tafel verlassen, um eine eilige Botschaft entgegenzunehmen … Es war leicht für den Grafen, die Zofe einzuschüchtern und sie dazu zu bringen, Ijadas Gepäck zu durchwühlen. Aber hatte Wenzel auf einen Schamanenkniff zurückgegriffen, um seine Schnüffelei vor einem Zauberer zu verbergen? Aber Lewko ist kein Zauberer, oder? Eigentlich nicht. Ingrey wich der Frage aus: »Ohne Beweise wäre jede Vermutung, die ich äußere, nur eine Unterstellung, Hochwürden.«

Lewkos Blick wurde bohrend, doch zu Ingreys Erleichterung wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Brief zu. »Nun, lasst uns sehen«, murmelte er, riss ihn auf und verstreute dabei winzige Bröckchen vom Siegelwachs.

Aufmerksam las er ein paar Minuten lang; dann schüttelte er den Kopf und stand auf, um sich dichter ans Fenster zu beugen. Zweimal drehte er das eng beschriebene Papier zur Seite. Einmal schaute er Ingrey an und fragte in anklagendem Tonfall: »Könnt Ihr etwas mit den Worten brach seine Bünde anfangen?«

»Äh … könnte es vielleicht Bande heißen?«, wagte Ingrey zu raten.

Lewkos Miene hellte sich auf. »Ja, in der Tat! Das ergibt sehr viel mehr Sinn.« Er las weiter. »Oder vielleicht auch nicht …«

Lewko kam zum Ende, runzelte die Stirn und fing von vorne an. Dann wies er vage in Richtung einer Wand. »Ich glaube, da unter dem Haufen liegt ein Klapphocker. Bedient Euch, Lord Ingrey.«

Bis Ingrey den Hocker aufgeklappt und sich auf dem ledernen Sitz niedergelassen hatte, schaute Lewko auch schon wieder auf.

»Der Spion, der das entziffern musste, kann einem Leid tun«, sagte er gelassen.

»Ist der Brief verschlüsselt?«

»Nein. Es ist Hallanas Handschrift. In Eile geschrieben, nehme ich an. Es bedarf einiger Übung, sie zu enträtseln. Nun, ich habe schon Schlimmeres erduldet und weniger dafür bekommen … wenn auch nicht bei Hallana. Sie gibt sich nie mit Kleinigkeiten ab. Eine ihrer unangenehmeren Eigenschaften. Ihr zurückhaltendes Lächeln verbirgt einen gesegneten Leichtsinn. Und Schonungslosigkeit. Dem Vater sei Dank, dass Oswin einen mäßigenden Einfluss auf sie hat. So weit das möglich ist.«

»Ihr kennt sie gut?«, erkundigte sich Ingrey. Warum sonst schreibt diese vorbildliche Geistliche an Euch, unter all den Vertretern der Kirche in Ostheim?

Lewko rollte den Brief zusammen und klopfte damit sacht gegen die Tischkante. »Ich war vor vielen Jahren ihr zugewiesener Mentor, als sie auf so unerwartete Weise eine Zauberin wurde.«

Bestimmt war doch ein Zauberer nötig, um einen anderen Zauberer auszubilden …? Deshalb, und deshalb — wie ein flacher Stein auf dem Wasser übersprang Ingreys Geist zwei nahe liegende Fragen, um zu einer dritten zu gelangen: »Wie wird ein Mann zu einem ehemaligen Zauberer? Unbeschadet?« Es war die Aufgabe jenes darthacischen Heiligen gewesen, abtrünnige Zauberer unschädlich zu machen. Wie es hieß, setzten diese sich heftig gegen die Beschneidung ihrer Macht zur Wehr. Aber der Gelehrte Lewko war sicher nie ein solcher Abtrünniger gewesen.

»Es ist möglich, die Gabe aufzugeben.« Lewkos Miene verweilte zwischen leiser Belustigung und leisem Bedauern. »Wenn man sich rechtzeitig dazu entschließt.«

»Ist das nicht schmerzhaft?«

»Einfach ist es jedenfalls nicht. Tatsächlich«, seine Stimme wurde noch leiser, »braucht es ein Wunder.«

Was war das für ein Mann? »Ich diene schon seit vier Jahren hier in Ostheim. Erstaunlich, dass wir uns noch nicht über den Weg gelaufen sind.«

»Aber das sind wir! In gewisser Weise jedenfalls. Ich bin bestens mit Eurem Fall vertraut, Lord Ingrey.«

Fall? Angesichts der Wortwahl Lewkos spannte sich Ingreys Körper. »Wart Ihr etwa der Tempelzauberer, der für die Ermittlungen nach Birkenhain geschickt wurde und mich befragt hat?« Er runzelte die Stirn. »Meine Erinnerungen an diese Zeit sind getrübt und verwirrt, aber an Euch erinnere ich mich nicht.«

»Nein, das war ein anderer. Meine Beteiligung zu dieser Zeit war nicht so offensichtlich. Der Ermittler brachte mir einen Beutel mit Asche aus der Burg, damit ich daraus wieder einen Brief mit einem Geständnis zusammenfüge.«

»Chaos, das zurück in eine Ordnung gezwungen wird? Würde die Gelehrte Hallana dazu nicht sagen, dass man dafür die Tempelmagie schon ziemlich gegen den Strom lenken muss?«

»Das ist wahr, und es war auch ungeheuer anstrengend. Es hat mich einen Monat Arbeit und vermutlich ein Jahr meiner Berufung gekostet. Dabei kam letztendlich nicht einmal viel dabei heraus, sehr zu meinem Ärger. An was erinnert Ihr Euch noch, wenn Ihr an den Gelehrten Cumril denkt? Den jungen Tempelzauberer, den Euer Vater angestiftet hat?«

Ingrey fühlte sich noch unbehaglicher. »Nicht viel — nach einer Bekanntschaft, die sich auf den Zeitraum einer einstündigen Mahlzeit und einen viertelstündigen Ritus beschränkte. Seine ganze Aufmerksamkeit galt meinem Vater. Ich war Nebensache.« Trotzig fügte er hinzu: »Woher wollt Ihr überhaupt wissen, wer wen angestiftet hat?«

»Das war offensichtlich. Sehr viel weniger offensichtlich jedoch war das Wie. Nicht für Geld, nehme ich an. Und nicht mit Drohungen. Da muss es einen Grund gegeben haben — Cumril glaubte selbst, dass er etwas Gutes tat oder zumindest etwas Heldenhaftes, das auf schreckliche Weise fehlschlug.«

»Wie wollt Ihr erraten, was er empfand, wenn Ihr nicht einmal wisst, was er dachte?«

»Oh, was das betrifft, muss ich nicht raten. Es stand in seinem Brief. Nachdem ich ihn wieder zusammengefügt hatte. Ein dreiseitiger Sermon über sein Unglück, seine Schuld und seine Reue. Und kaum eine brauchbare Tatsache dabei, die wir nicht bereits kannten.« Lewko verzog das Gesicht.

»Wenn Cumril das Geständnis niederschrieb, wer hat es dann verbrannt?«, wollte Ingrey wissen.

»Nun, da muss ich raten.« Lewko lehnte sich im Stuhl zurück und musterte Ingrey aufmerksam. »Und doch bin ich mir in dieser Sache sicherer als mit manch anderer Behauptung, für die ich greifbarere Beweise habe. Kennt Ihr den Unterschied zwischen einem Zauberer, der seinen Dämon beherrscht, und einem, der beherrscht wird?«

»Hallana hat davon geredet. Anscheinend ist er sehr schwer auszumachen.«

»Nicht von innen betrachtet. Der Unterschied ist deutlich. Doch die Kluft zwischen einem Mann, der seine Macht für seine Zwecke einsetzt, und einer Macht, die den Mann für die ihren benutzt, dieser Unterschied ist mitunter so schmal wie ein Haarriss. Ich weiß es. Ich habe mich eine Zeit lang selbst gefährlich nahe an dieser Linie bewegt. Ich glaube fest daran, dass nach diesem Desaster, das Euren Vater das Leben kostete und Euch zu dem machte, der Ihr jetzt seid, Cumril von seinem Dämon überwältigt wurde. Ob die Verzweiflung ihn schwach werden ließ oder ob er von Anfang an überfordert war, kann ich nicht mehr sagen. Aber ich bin überzeugt, dass das Abfassen dieses Geständnisses Cumrils letzte Tat war und das Verbrennen desselben die erste Tat des Dämons.«

Ingrey öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er hatte stets Cumril in der Rolle des Verräters gesehen. Der Gedanke bereitete ihm Unbehagen, dass der junge Zauberer auf irgendeine schwer zu verstehende Weise womöglich auch ein Opfer gewesen sein mochte.

»Ihr versteht also«, erklärte Lewko sanft, »dass Cumrils Schicksal mich beunruhigt. Mehr noch, es plagt mich. Ich fürchte, ich kann Euch nicht gegenüberstehen, ohne mich daran erinnert zu fühlen.«

»Hat die Kirche je herausgefunden, ob er noch lebte oder gestorben war?«

»Nein. Es gab einen Bericht über einen abtrünnigen Zauberer in den Kantonen, vor ungefähr fünf Jahren. Das könnte er gewesen sein. Danach verlor sich jede Spur.«

Ingreys Lippen formten schon das Wort wer, aber schließlich fragte er: »Was seid Ihr?«

Lewko öffnete die Hand. »Inzwischen bin ich nur noch ein kleiner Aufsichtsbeamter der Kirche.«

Aufsicht wovon? Vielleicht von allen Tempelzauberern des Weald? Nur schien kaum der richtige Ausdruck dafür zu sein, genauso wenig wie einfach.

Dieser Mann kann mir sehr gefährlich werden, ermahnte sich Ingrey. Er weiß bereits zu viel.

Und unglücklicherweise würde er noch mehr erfahren, denn er schaute wieder auf das Blatt hinab und bat Ingrey, ihm die Ereignisse in Rottwall zu beschreiben. Das war keine große Überraschung. Ingrey hatte damit gerechnet, dass zumindest diese Begebenheiten in dem Brief Erwähnung fanden.

Er kam der Bitte nach, vollständig und aufrichtig, jedoch so knapp, wie er konnte, ohne unverständlich zu werden. Das Verhängnis lauerte in den Einzelheiten; mit jedem Satz bewegte er sich auf schmalen Pfaden durch einen Morast weiterer Fragen. Doch seine spärlichen Erklärungen schienen den Geistlichen zufrieden zu stellen oder zumindest keine weiteren Fragen über die sichere Verwahrung von Ingreys Wolf aufzubringen.

»Wer glaubt Ihr, hat diesen mordlüsternen Zwang auf Euch gelegt, diesen merkwürdigen Bannfluch, Lord Ingrey?«

»Das wüsste ich auch gerne.«

»Nun, dann sind wir schon zwei.«

»Ich bin froh, das zu hören«, sagte Ingrey und stellte überrascht fest, dass er die Wahrheit sprach.

Dann fragte Lewko: »Was denkt Ihr von Lady Ijada?«

Ingrey schluckte. Sein Verstand geriet ins Trudeln wie ein Vogel, den man im Flug aus der Luft geschossen hatte. Er hat mich gefragt, was ich von ihr denke, nicht, was ich für sie empfinde, rief er sich ins Gedächtnis. »Ohne Zweifel hat sie Boleso den Schädel eingeschlagen. Und ohne Zweifel hat er das verdient.«

Von diesem knappen Nachruf schien eine unangenehme Stille auszugehen. Verstand Lewko ebenfalls die Bedeutung des Unausgesprochenen? »Lord Hetwar, mein Herr, wollte die Gerüchte nicht, die sich um die Tat ranken«, fügte Ingrey hinzu. »Ich glaube, er schätzt Schwierigkeiten noch viel weniger als Ihr.«

Das Schweigen hielt an. »Sie trug diesen Leopardengeist davon. Er … passt gut zu ihr.« Bei den fünf Göttern, ich muss etwas sagen, das sie beschützt. »Ich glaube, sie ist mehr von den Göttern berührt, als sie ahnt.«

Lewko blickte auf; seine Augen wirkten plötzlich kühler und aufmerksamer. »Woher wisst Ihr das?«

Ingrey reckte das Kinn vor, um dieser Herausforderung zu begegnen. »Auf dieselbe Weise, wie ich weiß, dass es auch auf Euch zutrifft, Gesegneter. Ich fühle es in meinem Blut.«

Die Erschütterung zwischen ihnen brachte Ingrey zu der Überzeugung, dass er zu weit gegangen war. Doch Lewko lehnte sich wieder zurück und legte bedächtig die Fingerspitzen aneinander. »Ist das so?«

»Ich bin kein völliger Dummkopf, Hochwürden.«

»Ich glaube nicht, dass Ihr überhaupt ein Dummkopf seid, Lord Ingrey.« Lewko tippte mit den Fingern auf den Brief, schaute einen Augenblick beiseite und blickte dann wieder auf Ingrey. »Ja. Ich werde Hallanas Marschbefehl folgen und diese junge Frau in Augenschein nehmen. Wo wird sie festgehalten?«

»Eher untergebracht als festgehalten.« Ingrey beschrieb den Weg zu dem schmalen Gebäude im Kaufmannsviertel.

»Wann soll sie sich der Anklage stellen?«

»Nicht vor Bolesos Bestattung, nehme ich an, weil es bis dahin nicht mehr lange hin ist. Ich werde mehr wissen, sobald ich mit Siegelbewahrer Hetwar gesprochen habe, zu dem meine Pflicht mich als Nächstes führen wird.« Ingrey wollte aus diesem Zimmer, bevor Lewkos Fragen noch bohrender wurden. Er erhob sich.

»Ich werde versuchen, morgen vorbeizukommen«, sagte Lewko.

Ingrey entgegnete höflich: »Danke. Ich erwarte Euch dann.« Nach einer Verbeugung entfernte er sich aus dem Gemach, schloss die Tür hinter sich und atmete tief durch. War dieser Lewko ein möglicher Helfer oder eine Gefahr? Er erinnerte sich an Wenzels Abschiedsworte: Wenn Euer Leben Euch etwas bedeutet, so wahrt Eure Geheimnisse und die meinen. War das eine Drohung gewesen oder eine Warnung?

Immerhin war es ihm gelungen, bei dieser ersten Befragung mit keinem Wort den Grafen von Rossfluten zu erwähnen. Auch in dem Brief konnte sich kein Hinweis auf Wenzel finden: Sein Vetter war erst nach der Begegnung mit Hallana in Ingreys Leben getreten — zum Glück. Aber was war morgen? Was war in einer halben Stunde, wenn er noch mit Straßenstaub bedeckt vor Hetwar stand und ihm Bericht über die Reise und sämtliche Vorfälle erstatten musste?

Von Rossfluten. Hallana. Gesca. Und jetzt Lewko. Hetwar. Ingrey verlor allmählich den Überblick, was er alles wem verschwiegen hatte.

Er orientierte sich und ging den Weg zur Abkürzung durch den Tempel zurück, wobei er versuchte, so gelassen wie möglich auszuschreiten.

Erst jetzt wurde ihm klar, dass er sich selbst auch ohne Zauber oder Bann gleich mit ausgeliefert hatte, als er Hallanas Brief an Lewko überbrachte.

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