Kapitel Achtzehn

Als der Pförtner Ingrey einließ, kauerte Ijada unten auf der Treppe und hatte die Arme noch fester um sich geschlungen als beim letzten Mal. Die Zofe saß ein paar Stufen höher und betrachtete Ijada besorgt.

Ijada sprang auf, und ihre Augen schienen in Ingreys Gesicht nach etwas zu forschen; er hatte keine Ahnung wonach. Doch Ijada schien es zu entdecken, denn sie stürzte sich auf ihn, packte seine Arme, zerrte ihn in den Nebenraum und schlug der unzufriedenen, eingeschüchterten Zofe die Tür vor der Nase zu.

»Was war das, vorhin?«, wollte Ijada wissen. »Was ist mit dir geschehen?«

»Was hast du … hast du denn auch etwas gesehen?«

»Ich hatte Visionen, Ingrey, schreckliche Visionen. Und nicht vom Gott gesandt, das kann ich dir garantieren. Du warst schon eine Weile aus dem Haus, als es mich wieder überwältigt hat. Die Knie gaben mir nach. Die Welt um mich her verschwand dieses Mal zwar nicht, aber die Bilder waren stärker als Erinnerungen und schwächer als Halluzinationen. Ingrey, ich habe das Blutfeld gesehen, ich sah meine Krieger! Nicht zerschlagen und übel zugerichtet, wie bei meinem Traum im Wehen Wald. Diesmal sah ich sie, als sie noch lebten.« Sie zögerte. »Als sie starben.«

»Hast du Wenzel gespürt? Hast du ihn gesehen oder seine Stimme gehört?«

»Nein, nicht wie er ist. Diese Visionen stammten aus deinem Geist, nicht wahr?«

»Ja. Bilder aus der Vergangenheit. Das Alte Weald. Das Massaker auf dem Blutfeld.«

Sie fuhr zusammen und griff sich an den Hals. In Ingreys Erinnerung erklang das entsetzliche Knirschen einer Axt, die durch Knochen fährt. Das hat sie ebenfalls gefühlt.

»Warum teilen wir diese Erlebnisse? Was ist mit uns geschehen?«, wollte sie wissen.

»Die Bilder, diese Visionen … Wenzel hat sie in meinen Kopf gepflanzt. Er ist nicht bloß ein Totemkrieger wie du, nicht nur ein Schamane wie ich. Er ist mehr. Aus der Zeit herausgerissen, schrecklich in seiner Macht und seinem Schmerz. Er glaubt, er ist … Er erhebt Anspruch darauf, der Geheiligte König zu sein.«

»Aber der alte Lord Hirschendorn ist König. Er war es schon, ehe ich geboren wurde. Wie kann es zwei Könige geben?«

»Das ist ein Problem, ein Geheimnis, dem ich noch nicht auf den Grund gekommen bin. Ich habe Wenzel aufgesucht und wollte die Wahrheit aus ihm herausprügeln. Stattdessen hat er sie in mich hineingeprügelt.«

Er führte sie zu einem Stuhl, setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. Stockend beschrieb er sein Furcht erregendes Gespräch mit dem Grafen. Ijada schien einzig die geheimnisvollen Visionen geteilt zu haben, nicht aber Wenzels Erklärungen. Sie musste die letzten Stunden voller Bestürzung verbracht haben, denn selbst jetzt noch waren ihre Augen aufgerissen, und sie zitterte.

»Wenzel behauptet, ich sei der Erbe seiner Seele, und mein Körper würde von seinem Zauber an sich gerissen, ob wir beide es nun wollen oder nicht. Ich weiß nicht, wie lange das nun schon so ist. Vielleicht gab es einst einen anderen Vetter, der zwischen uns stand, aber kürzlich verstorben ist, doch … doch vielleicht reicht es zurück bis zum Tod meines Vaters. Was noch mehr Fragen darüber aufwirft, was mein Vater mit seinem Wolfsritual erreichen wollte.«

»Mein anderer Traum«, hauchte sie. »Der von dem brennenden Reiter und dem Wolf an der Leine, der durch die Asche rennt. Das wart ihr. Das wart ihr beide

»Bist du sicher? Vielleicht …«

»Ingrey, ich habe den Ort Am Heiligen Baum erkannt. Und meine Krieger. Zweifellos bin ich mit ihnen ebenso verbunden wie mit dir, wenn ich auch nicht weiß, auf welche Weise. Und falls Wenzel die Wahrheit spricht, ist er ebenso an sie gebunden … und sie an ihn.«

»Es klaffen riesige Lücken in Wenzels Geschichte, aber in dieser Hinsicht hat er nicht gelogen«, sagte Ingrey bestimmt. »Diese Verbindung ist der Kern des Ganzen.«

»Damit schließt sich der Kreis. Du bist an mich gebunden, ich an meine Geister, sie an Wenzel und Wenzel an dich, wie es scheint. Versucht Wenzel, durch uns eine gewaltige Magie zu wirken?«

»Ich habe meine Zweifel. Genau genommen ist all das nicht allein Wenzels Werk. Auf die Auswahl seines spirituellen Erben hat er keinen Einfluss, sonst hätte er sich gewiss einen anderen ausgesucht. Aber es ist vernünftig, dass der Zauber sich selbst seinen Erben sucht. Es ist auf das Durcheinander und die Hitze der Schlacht ausgelegt, wenn sowohl König und Erbe zur gleichen Stunde fallen können — wie es mehr oder weniger auf dem Blutfeld geschehen ist. Der Austausch musste ohne Mitwirkung und ohne die Zustimmung der Betroffenen vonstatten gehen. Darum muss dieser Teil des Zaubers auch mit den verstorbenen Totemkriegern des Wehen Waldes verknüpft sein. Es ist, als würde die Gesamtheit des Alten Weald, oder was von der Macht seiner Sippen noch übrig ist, ihren Erben durch Wenzel wählen.« In dieser Feststellung schien eine rätselhafte, erschreckende Wahrheit zu liegen.

Ijada kniff die Augen zusammen. »Wird dann von uns dreien erwartet, dass wir zum Blutfeld gehen? Und wenn ja, was sollen wir dort tun?«

»Und wer … oder Wer … drängt uns in diese Richtung?«, murmelte Ingrey. Er lehnte sich stirnrunzelnd zurück. »Der Zauber war früher enger gefasst. Nur die Rossflutens und die toten Krieger, immer und immer wieder über sechzehn Generationen hinweg. Du … du bist von außen dort eingebrochen. Und der Zauber brach aus, um mich zu fordern. Seine Grenzen haben sich verändert. Grenzen zwischen Leben und Tod, Geist und Materie. Das Weald und ein anderes Reich. Veränderungen … zum ersten Mal seit Jahrhunderten brechen Veränderungen herein.«

Ijada rieb sich die Stirn. »Und was bin ich dabei? Halb drinnen, halb draußen — gehöre ich überhaupt dazu? Ich lebe, sie sind tot, ich bin eine Frau, sie sind Männer, größtenteils, glaube ich. Mein Leopard ist nicht einmal ein Totemtier des Weald! Ich habe heute Morgen nichts für Bolesos Seele getan. Ich stand nur töricht da, mit offenem Mund. Sie wollen dich, Ingrey, der die Geister vielleicht von ihren alten Tierseelen befreien kann.« In dem Blick, der auf ihm ruhte, lag tiefe Überzeugung.

»Ein Tor in einer Mauer ist zugleich innen wie außen«, meinte Ingrey langsam. »Halb und halb, so wie es dank deines Vaters bei deinem Blut der Fall ist. Und auch du wirst gebraucht, wenn auch nicht von Wenzel, denke ich. Haben die Geister nicht dich auserkoren? Unter all denen, die in jener Nacht im Wald schliefen und träumten.«

Sie wirkte unschlüssig und hielt sich ein wenig gerader. »Ja.«

»Also dann.« Dann was? Ingreys erschöpfter Verstand lieferte keine Antwort. »Abgesehen von den Visionen gab es noch andere Themen. Wenzel will mich in seiner Nähe halten, glaube ich. Er hat mir eine Anstellung in seinem Haushalt angeboten … nein, mehr als angeboten: Er hat sie mir aufgenötigt.«

Ihre Stirn furchte sich in neuerlicher Sorge.

»Und anstatt mich zu schützen«, fuhr Ingrey fort, »will Hetwar, dass ich diesen Posten annehme, damit ich für ihn spionieren kann. Cumril brachte den Verdacht auf, dass Wenzel von einem Tiergeist heimgesucht ist, obwohl weder der Tempel noch Hetwar ahnen, wie viel mehr Wenzel zu sein behauptet. Ich habe es ihnen nicht verraten. Ich weiß nicht genau, welche Folgen daraus erwachsen können, wie rasch sich Wenzels dunklere Geheimnisse entwirren werden oder wie sehr ich selbst in das Knäuel verstrickt bin. Und schlimmer noch: Biast ängstigt sich vor seinem Schwager und möchte mich einsetzen, um Fara zu beschützen.« Ingrey verzog das Gesicht.

»Vielleicht liegt Biast gar nicht mal so falsch«, sagte Ijada langsam. »Ich lege jedenfalls keinen Wert darauf, dass mein Unglück noch einem weiteren Hirschendorn den Tod bringt.«

»Du verstehst nicht. Wenn ich zu Rossfluten wechsle, wirst du meiner Obhut entzogen und einem anderen Aufseher unterstellt. Du kommst vielleicht in ein anderes Gefängnis, zu dem der Zugang weniger einfach ist. Oder die Flucht daraus.«

Ihr Gesicht verriet Anspannung. »Ich darf nicht … darf nicht eingesperrt sein, wenn es so weit ist. Wenn es Zeit ist, zu gehen.«

»Wenn was so weit ist?«

In einer hilflosen Geste krallte sie die Finger in die Luft. »Wenn der Gott seine Beute stellt. Fühlst du es nicht auch, Ingrey?«

»Fühlen, gewiss. Aber ich sehe es nicht. Nicht genau.«

»Was hat Wenzel vor?«

Ingrey schüttelte den Kopf. »Ich habe immer mehr Zweifel, dass er überhaupt etwas vorhat … außer seine alten Geheimnisse zu schützen. Sein Verstand ist dermaßen angefüllt, dass er manchmal gar nichts mehr wahrzunehmen scheint … aber nicht, dass es ihn weniger gefährlich machte. Wovor hat er wirklich Angst? Ermordet werden kann er nicht, wie es den Anschein hat.« Eine Hinrichtung würde den Grafen nicht aufhalten. Aus einem Gefängnis konnte Wenzel, wenn er verzweifelt genug war, auf die gleiche grausame Weise flüchten, egal wie tief der Kerker sein mochte oder wie viele Wachen es gab. Plötzlich erkannte Ingrey, dass er keinesfalls Wenzels Verhaftung riskieren wollte.

Ijadas Lippen zuckten in neuerlicher Verwirrung. »Wenn die Seele des Grafen nie zu den Göttern gelangt ist, wie hat er dann während all der Jahrhunderte seine Bestattungszeremonien überstanden, ohne Aufsehen zu erregen?«

Ingrey hielt inne, wägte ausbleibende Gerüchte ab und machte dann eine verneinende Gebärde. »Da er den Körper seines Erben besetzte, wird er in der Regel für seine eigenen Rituale verantwortlich gewesen sein. Ich bin mir sicher, im Laufe der Zeit verstand er es meisterhaft, seine Bestattungsriten so zu beeinflussen, dass sie genau das von ihm gewünschte Ergebnis zeigten. Und wenn es mitunter fehlschlug … nun ja. Einige Menschen sind eben verloren.«

Diese Merkwürdigkeit brachte Ingreys Gedanken erneut durcheinander. Wie musste es auf Rossfluten gewirkt haben, dem Begräbnis des eigenen Körpers zuzusehen, wieder und wieder? Ein verdrehter Verlust durch das Wissen, dass nicht der Vater, sondern der Sohn in dieser Stunde verloren gegangen war.

Ijada nickte. »Wenn die Kirche sich dieses Zaubers annehmen müsste, was könnte sie tun?«

»Ich weiß es nicht genau. Nichts, denke ich, abgesehen vielleicht durch Magie oder ein Wunder.«

»Die Götter stecken bereits bis zum Bauchnabel mit drin. Und zwar ohne große Beteiligung der Kirche.«

»So sieht es aus.« Ingrey seufzte.

»Was also sollen wir tun?«

Ingrey rieb sich den schmerzenden Nacken. »Weiterhin warten. Ich werde in Rossflutens Dienste treten. Und dort spionieren, aber nicht nur für Hetwar. Vielleicht entdecke ich da etwas, um dem Ganzen einen Sinn zu verleihen … ein Stück, das uns noch fehlt.«

»Und die Gefahr für dich selbst?«, wandte sie besorgt ein.

Ingrey zuckte die Achseln.

Sie sah unzufrieden aus. »Ich habe das Gefühl, dass während dieser Pause irgendwas aus dem Gleichgewicht geraten ist.«

»Welche Pause? Dieser grauenhafte Tag hat mich bis auf die Knochen zermürbt.«

Zornig stieß sie hervor: »Während ich in diesem Haus eingesperrt bin!«

Er beugte sich vor, zauderte für einen Sekundenbruchteil voller Angst und küsste sie. Sie schreckte nicht zurück. Diesmal gab es keine unvermittelte Erschütterung, keine Veränderung seiner Wahrnehmung von ihr. Das aber lag nur daran, dass ihre leise Präsenz ihn seit dem ersten Kuss niemals verlassen hatte. Er konnte sie spüren als einen gleichmäßigen Fluss, wie die Strömung in einem Mühlgerinne zwischen ihnen beiden. Seine körperliche Erregung war nun betäubt von Erschöpfung, der Genuss ihrer Lippen ertrank in verzweifeltem Unbehagen. Sie erwiderte die Umarmung weder in Lust noch in Liebe, sondern in hungrigem Vertrauen — nicht in seine zweifelhaften Fähigkeiten, aber in ihn als Ganzes. Sein Herz erglühte vor Staunen. Er bebte.

Sie zog sich zurück und strich ihm die Haare aus der Stirn, halb lächelnd, halb besorgt. »Hast du etwas gegessen?«

»Nicht in letzter Zeit.«

»Du siehst müde aus. Vielleicht solltest du etwas zu dir nehmen.«

»Hetwar meinte das auch.«

»Dann wird es wohl stimmen.« Sie stand auf. »Ich gebe in der Küche Bescheid, dass sie etwas vorbereiten.«

Er drückte ihren Handrücken gegen seine pochende Stirn, ehe er sie widerstrebend losließ.

Auf halbem Weg zur Tür schaute sie über die Schulter. »Ingrey …«

»Ja?« Er hob den Kopf.

»Wenn Wenzel wirklich ein geheimnisvoller Geheiligter König ist und du dessen Erbe, was wirst du dann dadurch?«

Vor allem ängstlich. »Nichts Gutes.«

»Oh.« Sie schüttelte den Kopf und ging hinaus.


Ingrey schlief am nächsten Morgen länger, als er vorhatte, und seine neuen Befehle trafen eher ein als erwartet; sie wurden von Gesca überbracht. Hastig warf er seine Kleidung über, eilte die Treppe hinunter und traf in der Eingangshalle seinen ehemaligen Truppführer. Während der Pförtner zur Küche schlurfte und nach dem Jungen rief, sprach Gesca mit gedämpfter Stimme in Ingreys Ohr:

»Ihr sollt dem Grafen von Rossfluten unterstellt werden.«

»Jetzt schon? Das ging aber schnell. Was wird aus meiner Gefangenen?«

»Ich soll Euren Platz als Aufseher übernehmen.«

Ingrey straffte sich. »In wessen Auftrag? Hetwars oder Rossflutens?«

»Hetwars und des Erzprälaten.«

»Soll sie anderswo hingebracht werden?«

»Davon hat mir bisher niemand etwas gesagt.«

Ingrey musterte den ängstlich wirkenden Offizier mit zusammengekniffenen Augen. »Und wem hast du letzte Nacht nach dem Treffen bei Hetwar Bericht erstattet?«

»Warum sollte ich jemandem davon berichten?«

Mit einem zufällig wirkenden Schritt, der niemanden täuschte, drängte Ingrey den Mann gegen die Wand. Er stützte sich auf den ausgestreckten Arm und drehte sich, um Gesca genau in die Augen zu schauen. »Du kannst genauso gut zugeben, dass du zu Rossfluten gegangen bist. Wenn ich Wenzel auf die gleiche Weise diene, wie ich Hetwar gedient habe, werde ich bald schon in seine Pläne eingeweiht sein.«

Gesca öffnete den Mund, doch er schüttelte nur den Kopf.

»Es hat keinen Sinn, Gesca. Ich weiß von deinen Briefen an ihn.« Es war ein weiterer Schuss ins Halbdunkel, doch dem Zucken des Offiziers nach traf er sein Ziel.

»Wie habt Ihr … Ich dachte, es könnte nicht schaden. Der Graf war Lord Hetwars Verbündeter. Ich dachte, ich würde einfach nur einem Freund meines Herren einen Gefallen erweisen.«

»Gegen eine angemessene Belohnung, möchte man meinen.«

»Nun … ich bin kein reicher Mann. Und der Graf ist kein Knauser.«

Gescas Augenbrauen sanken in wieder erwachter Wachsamkeit herab. »Woher habt Ihr davon gewusst? Ich könnte schwören, Ihr habt es niemals beobachtet.«

»Durch Wenzels allzu pünktliche Ankunft in Mittelstadt. Unter anderem.«

»Oh.« Gescas Schultern sanken herab und er verzog das Gesicht.

War Gesca unglücklich darüber, weil er sich zu einer Untreue gegenüber Lord Hetwar hatte hinreißen lassen, oder weil man ihn dabei erwischt hatte? »Da bist du auf einen schlüpfrigen Abhang geraten, nicht wahr? Einen Gefallen zu erweisen macht einen Mann ebenso verwundbar, wie einen Gefallen anzunehmen. Deswegen neige ich weder zu dem einen noch zu dem anderen.« Ingrey lächelte auf wölfische Weise, um für Gesca die Illusion seiner Unverletzlichkeit aufrechtzuerhalten.

Gesca wurde kleinlaut. »Werdet Ihr mich jetzt verpfeifen? «

»Habe ich dich beschuldigt?«

»Das ist keine Antwort. Nicht von Euch.«

»Stimmt.« Ingrey seufzte. »Würdest du es Hetwar selbst gestehen, anstatt auf eine Anklage zu warten, hättest du wohl eher eine Rüge zu erwarten als eine Entlassung. Hetwar legt nicht so viel Wert auf die absolute Ehrlichkeit seiner Leute. Wichtiger ist ihm, dass er genau weiß, wo die Grenzen ihrer Arglist liegen. Auf gewisse Weise verschafft ihm das wohl eine beruhigende Sicherheit, denke ich.«

»Und was ist mit Euren Grenzen? Welche Beruhigung findet er da?«

»Wir erinnern einander gegenseitig daran, dass man stets auf der Hut sein muss.« Ingrey musterte Gesca von oben bis unten. »Nun, es gibt wohl schlimmere Wärter.«

»Ja, und schlechter aussehende Gefangene.«

Ingrey wechselte vom Tonfall stichelnder Neckerei zu blanker Drohung: »Solange Lady Ijada dir anvertraut ist, wirst du sie mit ausgesuchter Höflichkeit behandeln, Gesca. Sonst ist der Zorn von Hetwar, des Tempels, Rossflutens und der Götter zusammen noch dein geringstes Problem.«

Gesca duckte sich unter seinem finsteren Blick. »Nun mal halblang, Lord Ingrey. Ich bin kein Untier!«

»Aber ich«, hauchte Ingrey. »Verstanden?«

Gesca wagte kaum zu atmen. »O ja!«

»Gut.« Ingrey trat beiseite. Obwohl er Gesca kaum berührt hatte, sank dieser zusammen wie ein Mann, der gerade aus einem Würgegriff befreit wurde und nun seine Kehle nach Druckstellen abtastet. Oder nach Zahnabdrücken.

Ingrey trottete wieder nach oben und scheuchte Tesko auf, damit dieser seine dürftigen Habseligkeiten für den Umzug in Rossflutens Anwesen erneut zusammenpackte. Er überdachte das Treffen mit Hetwar am Abend zuvor, und was davon wohl — gefiltert durch Gescas Gedächtnis und seinen Verstand — bei Rossfluten angekommen war.

Ingrey glaubte eigentlich nicht daran, dass Rossfluten sich an seinem Spionageauftrag stören würde — solange er nicht töricht genug war, es vor dem Grafen verbergen zu wollen! Und der Graf hatte gewiss von Gesca erfahren, dass Ingrey sein finsterstes Geheimnis für sich behalten hatte. Insgesamt mochte Gescas kleiner Verrat sich sogar als vorteilhaft erweisen.

Als Tesko unter einem Berg von Ausrüstung die Stufen hinunterwankte, erklomm Ingrey den nächsten Treppenabsatz und klopfte an Ijadas Tür. Er war erfreut, das Geräusch eines zurückgleitenden Riegels zu hören, ehe die Tür sich öffnete und das Gesicht der misstrauisch blickenden Zofe erschien.

»Lady Ijada, bitte.«

Ijada quetschte sich an der Frau vorbei in den schmalen Flur. Ihre Miene war ernst und fragend.

Ingrey verneigte sich vor ihr. »Ich wurde bereits an Graf Rossfluten überstellt. Gesca wird eine Zeit lang meine Stelle als dein Wächter einnehmen.«

Ihr Gesicht hellte sich bei dem vertrauten Namen auf. »Das ist nicht so übel.«

»Vielleicht. Ich werde versuchen, zurückzukehren und mit dir zu sprechen, wenn ich … äh, mehr herausgefunden habe.«

Sie nickte. Ihr Ausdruck war eher gedankenvoll als verängstigt, obwohl Ingrey schwerlich erraten konnte, was sie dachte. Sie wusste nicht mehr Antworten als er, aber er bewunderte ihre Gabe, unbequeme Fragen zu stellen. Vermutlich würde er auf diese Fähigkeit bald genug wieder zurückgreifen müssen.

Er umfasste ihre Hände, an Stelle des Abschiedskusses, den sie sich unter den wachsamen Augen der Zofe verwehren mussten. Der seltsame Fluss, der immer noch zwischen ihnen dahinströmte, schien in diesem Händedruck zu verweilen. »Ich werde es erfahren, wenn sie dich fortbringen.«

Sie nickte wieder und ließ ihn los. »Ich werde auch auf Neuigkeiten von dir hören.«

Er brachte die Andeutung einer Verbeugung zustande und riss sich los.


Ingrey wiederholte seinen Marsch von gestern, bergauf durch die Königsstadt von Ostheim, diesmal den keuchenden Tesko mit seinen Habseligkeiten im Schlepptau. Der Pförtner der Rossflutens erwartete sie offensichtlich, denn sie wurden sogleich in Ingreys neues Zimmer geleitet.

Das hier war kein schmaler Dienstboten-Verschlag unter dem Dach, sondern ein geschmackvolles Gemach im zweiten Stock, das für hochwohlgeborene Gäste gedacht war und eine eigene Nische für Tesko bereithielt. Ingrey ließ den Diener mit der Aufgabe zurück, die spärliche Garderobe zu verstauen, und erkundete das Haus. Er fragte sich, ob Rossfluten wohl erwartete, dass er auch den Rest seiner Besitztümer von Hetwars Palast herüberschaffte, und wie der Graf es nun auslegte, wenn er es nicht tat.

Als er kurz in ein Wohnzimmer im ersten Stock schaute, das durch eine anmutig in Birke geschnitzte Wandtäfelung auffiel, erblickte er Fara und eine ihrer Damen. Die matronenhafte Hofdame saß über eine Näharbeit gebeugt. Fara stand da, mit einer Hand auf dem Stoff, und starrte nachdenklich aus dem Fenster. Blasses Morgenlicht versilberte ihre Züge. Das kantige Gesicht war bleich, ihr Leib wirkte kurz und stabil in dem langweiligen Kleid. Mit zunehmendem Alter würde sie stämmig werden, dachte Ingrey. Auf ein Geräusch von ihm, ein Knarren oder Knacken, drehte sie sich zu ihm um, und ihre dunklen Augen weiteten sich, als sie ihn wiedererkannte.

»Lord Ingrey, nicht wahr?«

»Hoheit.« Ingrey beschrieb einen flüchtigen Gruß mit der Hand zum Herzen und zurück, ein angedeutetes, aber nicht vollendetes Zeichen der Fünf.

Sie betrachtete ihn von Kopf bis Fuß und runzelte die Stirn. »Biast erzählte mir gestern Abend, dass Ihr in den Dienst meines Gatten treten würdet.«

»Und, ähm, in den Euren?«

»Ja, das sagte er.« Sie schaute flüchtig zu ihrer Gesellschafterin. »Lass uns allein. Die Tür soll offen bleiben.« Die Frau stand auf, knickste und schlüpfte an Ingrey vorbei hinaus. Fara winkte ihn näher heran.

Sie musterte ihn nachdenklich, während er zum Fenster trat. Ihre Stimme klang leise. »Mein Bruder meinte, Ihr würdet mich beschützen.«

»Glaubt Ihr, das ist nötig?«, fragte Ingrey in neutralem Tonfall und ebenso leise.

Sie machte eine unsichere Geste. »Biast erwähnte, gegen Wenzel wäre ein schrecklicher Verdacht laut geworden. Was haltet Ihr davon?«

»Könnt Ihr nicht selbst sagen, ob etwas daran ist, Hoheit?«

Sie schüttelte den Kopf und hob ihr langes Kinn. »Könnt Ihr es nicht?«

»Die Anwesenheit eines Begleiters, wie ich ihn auch im Blute trage, befleckt einen Mann nicht notwendigerweise. Es ist das, was er damit tut. Zumindest muss ich daran glauben, und mein Dispens erkennt das stillschweigend an. Habt Ihr während der ganzen Zeit nie etwas Unheimliches an Eurem Gemahl gespürt?«

Ihre dichten schwarzen Brauen zogen sich zusammen und verrieten ihren Missmut über diese ausweichende Antwort. »Nein … ja. Ich weiß nicht. Er war von Anfang an eigentümlich, aber ich dachte, er wäre nur launisch. Ich versuchte, seine Stimmung aufzuhellen, und es schien zu gelingen. Aber immer wieder stürzte er in diese Schwärze zurück. Ich betete zur Mutter um Rat und und mehr noch, ich versuchte, ihm eine gute Ehefrau zu sein, so wie es uns im Tempel gelehrt wird.« Ihre Stimme zitterte, aber sie brach nicht. Ihre Miene wurde finsterer. »Dann schleppte er dieses Mädchen an.«

»Lady Ijada? Habt Ihr sie nicht gemocht, zu Anfang?«

»Oh, zu Anfang …« Sie zuckte ärgerlich die Achseln. »Zu Anfang ja, denke ich. Aber Wenzel machte ihr den Hof!«

»Und wie reagierte sie auf seine Aufmerksamkeit? Habt Ihr sie deswegen zur Rede gestellt?«

»Sie gab vor, darüber zu lachen. Ich lachte nicht. Ich habe ihn beobachtet, ich beobachtete sie. Nie habe ich erlebt, dass er irgendeine andere Frau ansehen würde, nicht seit unserer Heirat und auch nicht davor. Aber nach ihr sah er sich um.«

Ingrey dachte über eine Frage nach, mit der er Fara ihre Version der Ereignisse auf Burg Keilerkopf entlocken konnte. Das schien allerdings kaum notwendig zu sein. Hier waltete kein überragender Intellekt, keine verborgene Arglist, keine unheimlichen Kräfte, nur verletzte Verwirrung. Und es haftete auch kein Rückstand des Übernatürlichen an ihr. Wenzel hatte scheinbar beschlossen, seine Frau nicht zu verzaubern. Warum nicht?

Faras Gedanken führten jedoch in eine andere Richtung. »Biasts Anschuldigung …«, murmelte sie. Ihr Blick auf Ingrey wurde schärfer. »Es könnte sein, denke ich. Wenn ich Euch anschaue, kann ich auch nichts feststellen. Falls Ihr tatsächlich einen Wolf in Euch tragt, dann ist er so unsichtbar wie die Sünden anderer Menschen. Das würde vieles … erklären.« Sie holte Luft und wollte dann unvermittelt wissen: »Wie seid Ihr an Euren Dispens gelangt?«

Er hob die Brauen. »Der Untersuchungsbeamte des Tempels war in meinem Fall wohl besonders wohlwollend. Der kranke Waisenjunge tat ihm vermutlich Leid. Und schließlich stellte ich unter Beweis, dass ich meine Heimsuchung unter Kontrolle halten konnte. Zumindest weit genug, um das Untersuchungsgremium zufrieden zu stellen, auch wenn es natürlich nicht reichte, um mir die Verwaltung einer Burg anzuvertrauen. Später … später hat Hetwar mich unterstützt.«

»Wenzel kontrolliert sein Tier so gut, dass nicht einmal ich etwas davon bemerkt habe. Ist das nicht Beweis genug, um ihm eine gleich lautende Vergebung zu verschaffen?«, fragte sie mit einem kläglichen Unterton in der Stimme.

Ingrey befeuchtete sich die Lippen. »Das müsst Ihr den Erzprälaten fragen. Es ist nicht meine Entscheidung.« Wollte Fara ihren Ehemann beschützen und behalten? Konnte Wenzel überhaupt eine Untersuchung des Tempels überstehen, die in Ingreys Fall so lange in der Schwebe gehangen hatte? Rossfluten hatte so vieles mehr zu verbergen, aber allem Anschein nach konnte er auch ungleich mehr Macht aufbieten, um diese Aufgabe zu bewältigen. Wenn er das wünschte. Jetzt, wo die Zerschlagung seiner uralten Maske drohte, konnte er sich vielleicht zu so einem Plan gedrängt fühlen.

Man sollte meinen, eine solche Aufgabe würde all seine Aufmerksamkeit erfordern. Doch er ist hinter etwas anderem her. Versessen. Hinter was?

Aus welchen Gründen auch immer: Allem Anschein nach fand Fara die Beschuldigung, dass Wenzel einen Tiergeist in sich trug, beunruhigend glaubwürdig, nachdem sie erst einmal ausgesprochen worden war. Sie sah aus wie eine Frau, die seit langer Zeit ein Rätsel löst, dessen Einzelteile nun schneller und schneller an ihren Platz rutschen. Sie hatte Angst, ja, sowohl vor als auch für ihren Ehemann — und für sich selbst.

»Warum stellt Ihr Wenzel diese Fragen nicht selbst?«, sagte Ingrey.

»Er ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen.« Sie rieb sich über Gesicht und Augen. Man hätte dieses heftige Reiben für die Rötung verantwortlich machen können, die sich darin zeigte. »Das kam in letzter Zeit häufiger vor. Biast meinte, ich sollte ihn nicht darauf ansprechen, aber jetzt weiß ich nicht …«

»Wenzel weiß bereits, dass er insgeheim beschuldigt wird. Ihr würdet kein Geheimnis verraten, wenn Ihr ihn auf die Probe stellen würdet.«

Sie blickte ihn furchtsam an. »Steht Ihr schon so tief in seinem Vertrauen?«

»Ich bin sein nächster lebender Vetter.« Zeitweilig. »Wenzel könnte in dieser Krise keinen näheren Verwandten finden.« Um es einmal so zu sagen.

Sie rang die Hände. »Dann bin ich froh über Eure Anwesenheit.«

Das bleibt abzuwarten. Leider konnte er ihr kaum sagen, wie schlecht er wegen des Vertrauensbruchs gegenüber ihrer Zofe von ihr dachte, während er gleichzeitig versuchte, ihr Vertrauen zu gewinnen. Er erstarrte, seine Sinne stellten sich auf eine nähernde Präsenz ein, noch ehe das Geräusch leichter Schritte vom Korridor heranwehte und jemand sich im Türrahmen räusperte.

»Lord Ingrey«, rief Wenzel mit herzlicher Stimme. »Man sagte mir, Ihr wärt eingetroffen.«

Ingrey deutete eine Verbeugung an. »Graf Rossfluten.«

»Ich hoffe, Eure Gemächer sind nach Eurem Geschmack?«

»Ja, danke sehr. Tesko meint, wir würden Karriere machen.«

»Das könntet Ihr.« Wenzel begrüßte seine Frau mit einer Geste, die man als höflich bezeichnen konnte, aber nicht mehr. »Würdet Ihr mich bitte begleiten, Ingrey? Meine liebe Gemahlin, entschuldigt uns bitte.«

Fara nickte ebenso kühl zur Erwiderung. Nur eine leichte Steifheit ihres Leibes verriet den Aufruhr ihrer Gefühle.

Ingrey folgte Wenzel hinaus und durch den Flur um zwei Ecken bis ins Arbeitszimmer. Wenzel zog die Tür entschlossen hinter ihnen zu. Ingrey drehte sich so, dass er seinem Gastgeber nicht den Rücken zeigte. Rossfluten hatte gewiss ausreichend Zeit zur Vorbereitung eines magischen Angriffs gehabt. Aber die Härchen in Ingreys Nacken stellten sich grundlos auf, denn Wenzel wies ihm nur einen Stuhl an und schob seine Hüfte über die Kante des Schreibpults. Er legte die Beine übereinander und betrachtete Ingrey durch zusammengekniffene Augenlider.

»Hetwar hat Euch bereitwillig ziehen lassen«, bemerkte Wenzel.

»Hat Gesca Euch verraten, warum?«

»Oh, ja.«

»Biast macht sich die größten Sorgen um seine Schwester. Fara träumt davon, Euch zu retten, denke ich. Ich verstehe nicht, womit Ihr die Liebe Eurer Frau verdient habt.«

»So wenig wie ich.« Rossfluten schnitt eine Grimasse und wickelte in einer nervösen Geste eine graublonde Haarlocke um einen Finger. »Ich vermute, ihre Erzieherinnen haben ihr vor der Hochzeit zu viel höfische Dichtung durchgehen lassen, und das ist ihr auf den Verstand geschlagen. Ich habe schon Dutzende von Ehefrauen begraben. Heutzutage gestatte ich mir nicht mehr, Zuneigung zu entwickeln. Ich kann kaum beschreiben, wie diese Frauen inzwischen auf mich wirken. Das ist einer der raffinierteren Schrecken meines Daseins.«

»Wie eine Leiche zu küssen?«

»Wie die Leiche zu sein, die geküsst wird.«

»Sie scheint aber nichts davon zu merken.«

Der Graf zuckte die Achseln. »Aus einem ganz bestimmten Grund, den ich nun verworfen habe — Gewohnheit —, habe ich diese Vereinigung begründet, um einen weiteren Sohn zu zeugen. Und dazu muss der Körper nun einmal erregt werden. Glücklicherweise ist dieser hier noch jung, und der einfältige Wenzel wäre mit seiner Prinzessin sehr zufrieden gewesen, denke ich.«

Hatte Rossfluten der halb verdauten Seele erlaubt, während der vorgeblichen Liebesfreuden mit seiner Braut zum Vorschein zu kommen? Und wie entsetzlich verwirrend musste es für Fara gewesen sein, wenn der eifrige Jüngling der Nacht dem eisigen Fremden an der morgendlichen Tafel Platz machte … Vermochte Rossfluten andere Gesichter für unterschiedliche Aufgaben aufzusetzen? Der Prinzessin konnte schwindelig werden beim Versuch, diesem Menschenauflauf an Stimmungen ihres Ehemannes zu folgen.

Wenzel legte wieder eine seiner redseligen Stimmungen an den Tag, aus welchem Grunde auch immer. Ingrey beschloss, die Gelegenheit zu nutzen. »Warum habt Ihr Lady Ijada in Euren Haushalt geholt? Wenn man an die Folgen denkt, scheint das ein Fehler gewesen zu sein.«

Wenzel verzog das Gesicht. »Vielleicht. Im Nachhinein betrachtet.«

»Fara dachte, Ihr wolltet aus ihr Rossflutens neue Zuchtstute machen.«

Der Gesichtsausdruck wurde finsterer. »So sieht es wohl aus. Ich sagte bereits, Fara ist romantisch veranlagt.«

»Wenn es das nicht war, dann … wegen des Wehen Waldes? Und nicht nur, weil Ijada diesen Landstrich geerbt hat.« Es war gegen Ingreys Gewohnheit, Wissen preiszugeben. Aber in diesem Falle mochte es den Informationsfluss anfachen: »Sie hat mir von ihrem Traum dort erzählt.«

»Ach ja«, meinte Wenzel grimmig. »Nun wisst Ihr also darüber Bescheid. Ich hatte mich schon deswegen gefragt.«

»Hat sie Euch auch davon berichtet?«

»Nein. Aber ich habe gemeinsam mit ihr geträumt, wenn auch aus einem anderen Blickwinkel. Denn es war mehr als ein Traum, es war ein Geschehnis. Selbst wenn sie der Götter Katzenpfote ist, kann sie schlecht in meinem Teich herumfischen, ohne dass die Wellen mich erreichen.« Wenzel seufzte. »Sie gab mir dabei ein schweres Rätsel auf. Ich nahm sie in meinen Haushalt, um sie zu beobachten, konnte aber nichts Ungewöhnliches an ihr entdecken. Falls die Götter sie als Köder gebrauchen wollten, habe ich mich höflich des Anbeißens enthalten. Zweifellos wurde sie in den Zauber hineingewoben, während sie Am Heiligen Baum nächtigte, und doch blieb sie so blind und machtlos wie jedes andere unwissende Mädchen.«

»Bis zu den Ereignissen auf Burg Keilerkopf.«

»In der Tat.«

»Haben die Götter all das beabsichtigt? Auch Bolesos Tod?«

Wenzel nahm einen langen, bedächtigen Atemzug. »Den Göttern zu widerstehen ähnelt auf gewisse Weise einem Spiel ›Burgen und Ritter‹ gegen einen Gegner, der immer ein paar Züge mehr vorausschauen kann als man selbst. Aber sogar die Götter können nicht unendlich weit in die Zukunft blicken.

Unser freier Wille vernebelt ihre Sicht, selbst wenn ihre Augen durchdringender sind als die unsrigen. Die Götter planen nicht, eher nutzen sie Gelegenheiten

»Warum habt Ihr mich dann geschickt, Ijada zu töten? Aus reiner Vorsicht?« Ingrey fragte absichtlich leichthin, als wäre die Antwort für ihn nur von theoretischem Interesse.

»Wohl kaum ›nur‹. Nachdem sie Boleso erschlagen hatte, war sie gewiss reif für den Galgen. Und ließe sich eine perfektere Nachbildung eines altwealdischen Opfers denken, als eine unschuldige Jungfrau an einem gesegneten Strick von einem Baum zu hängen, während die Geistlichen ringsum Hymnen anstimmen? Mir zumindest fiele keine ein. Und die Opfer des alten Weald sollten Boten zu Göttern sein, denn der Tod öffnet das Tor dorthin. Ihr Tod, eingebunden in den Zauber, wie sie war, hätte den Ort Am Heiligen Baum ebenso weit geöffnet, wie er die letzten vier Jahrhunderte vor den Götter verriegelt gewesen war.«

»Und ihre Ermordung hätte das nicht? Wo liegt der Unterschied?«

Wenzel zuckte bloß die Achseln, rutschte von seinem Sitz herab und drehte sich weg.

»Es sei denn«, wurde Ingrey schlagartig klar, »mit diesem Bann war noch mehr verbunden als nur ein Mord.«

Wenzel wandte sich ihm wieder zu. Sein Gesicht hatte den höchst spöttischen Ausdruck angenommen, der Zorn verbergen sollte. Ingrey nahm es als Hinweis, dass er auf etwas gestoßen war, was die Mühe des Grabens lohnte.

»Ihre ermordete Seele wäre an die Eure gebunden worden«, erklärte Wenzel, »als eine weitere Heimsuchung, bis sie dahingeschwunden wäre und sich aufgelöst hätte. Und damit wäre sie und ihre Verbindung zum Ort Am Heiligen Baum dem Zugriff der Götter entzogen gewesen. Es war die Ableitung eines uralten Zaubers, und ich habe fast zu viel Blut darauf verwendet, aber ich war in Eile.«

»Entzückend.« Es gelang Ingrey nicht, den Unwillen aus seiner Stimme herauszuhalten. »Mord und Verdammnis zugleich.«

Wenzel drehte die Handflächen in einer wegwerfenden Geste. »Schlimmer noch: überflüssig! Denn ihre Leopardenseele hätte denselben Zweck erfüllt. Wenn ich nur davon gewusst hätte! Diesen Zug muss ich meinen Gegenspielern zugestehen. Ich weiß immer noch nicht, ob wir uns nun gegenseitig in ein Patt manövriert haben, ob wir alle Opfer von Bolesos Dummheit geworden sind oder ob noch mehr im Verborgenen liegt.« Er zögerte. »Denn dass sie ohne den Mord an Euch gebunden wird, lag nicht in meinen Plänen. Und doch ist es geschehen, nicht wahr?« Wenzels Blick ruhte nun kühl auf Ingrey, und diesem wurde klar, dass er nicht der Einzige war, der hier schürfte. Moment mal … hatte Rossfluten gerade etwa gesagt, dass diese Verbindung zwischen Ingrey und Ijada sein Werk war?

Bei Ingreys plötzlichem Schweigen fügte Wenzel freundlich hinzu: »Habt Ihr etwa angenommen, Ihr wäret in Liebe zu ihr entflammt, werter Vetter? Oder sie in Euch? Es schmerzt mich, dass ich diese idyllische Vorstellung zerstören muss. Wenn schon nicht sie, hätte ich zumindest Euch für nüchterner gehalten.«

Beinahe hätte Ingrey nach diesem Köder geschnappt. O ja, mit dem Kopf aus dem Wasser und einer Schaumspur hinter sich. Dann erinnerte er sich, wie Wenzels sanfte Überredungskünste ihn vor nicht allzu langer Zeit beinahe dazu gebracht hatten, sich selbst die Kehle aufzuschlitzen. Dieser Mann braucht noch nicht einmal Magie, um meinen Geist zu verknoten.

Die eigentümliche Verbindung zwischen Ingrey und Ijada mochte eine Nebenwirkung von Wenzels zerschlagenem Bann sein, doch Wenzel kontrollierte sie nicht mehr. Und was er nicht kontrollieren kann, gefällt ihm auch nicht, jedenfalls nicht, wenn es so sehr seine Angelegenheiten berührt. Was immer seine Angelegenheiten sein mochten. Und zwischen Ijada und mir gibt es inzwischen mehr, als du dorthin pflanzen konntest, Wenzel. Ingrey brachte eine gleichgültige Geste zustande. »Wie auch immer. Welche Pflichten erwarten mich nun, da ich in Euren Diensten stehe?«

Ingreys Seelenruhe beim letzten Thema schien Wenzel nicht ganz zu überzeugen, aber er verfolgte es nicht weiter. »Ehrlich gesagt hatte ich bisher kaum Zeit, die Möglichkeiten zu durchdenken.«

»Ihr wollt unterwegs improvisieren?«

»Ja. Was das angeht, ähnele ich den Göttern. Vielleicht sollte ich Euch ein Pferd schenken.«

»Hetwar hat mir diese Unkosten erspart. Ich bin auf seinen Gäulen geritten, wenn nötig, und er hat sie durchgefüttert, ob sie nun gebraucht wurden oder nicht.«

»Oh, das Tier würde natürlich in meinem Stall unterkommen und versorgt werden. Es würde dem Ansehen meines Hauses dienen, wenn ich für ein angemessenes Reittier sorgen würde.«

Sofort dachte Ingrey an den Tod von Rossflutens letzter Ehefrau-Mutter bei ihrem so genannten Reitunfall, aber er sagte nur: »Vielen Dank, Herr.«

»Nehmt Euch den Vormittag frei, aber seid bereit, wenn ich später ausgehe.«

»Ich stehe zu Eurer Verfügung, Vetter.«

Wenzels Mundwinkel zuckte spöttisch. »Das weiß ich.«

Das nahm Ingrey als ausreichende Entlassung, und er zog sich aus dem Arbeitszimmer zurück.

Worauf Wenzel auch immer aus war, er improvisierte nicht alles unterwegs. Er hatte ein festes Ziel im Blick. Und falls es die geheiligte Königswürde war, wie Hetwar befürchtete, dann nicht aus einem Grund, den Hetwar sich vorstellen konnte.

Oder ich. Noch nicht. Ingrey schüttelte den Kopf. Es gab vieles, worüber er in den nächsten Stunden nachdenken musste.

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