Kapitel Fünfzehn

Die Stubentür erbebte unter einem hastigen Klopfen und flog dann auf. Die Stimme des Pförtners drang aus der Diele herein: »Nein, Hochwürden, Ihr dürft dort nicht eintreten! Der Wolfsherr hat es uns …«

Der Gelehrte Lewko trat ein, zog entschlossen die Tür hinter sich zu und sperrte das aufgeregte Geplapper des Pförtners aus. Er war genau so gekleidet, wie Ingrey ihn früher an diesem Morgen gesehen hatte, in den weißen Roben seines Ordens; ein wenig sauberer und neuer als diejenigen, die er in seiner Schreibstube getragen hatte, aber immer noch ohne jedes Rangabzeichen. Unauffällig, vor dem geschäftigen Hintergrund der Tempelstadt gewiss nahezu unsichtbar. Er schnaufte zwar nicht, doch sein Gesicht war gerötet, als wäre er in der Mittagshitze eilig ausgeschritten. Nun hielt er inne, um seine Gewänder glatt zu streichen und wieder zu Atem zu kommen. Sein Blick ruhte auf Ingrey und Ijada und wirkte durchdringend und beunruhigt zugleich.

»Ich bin nur ein minderer Heiliger«, sagte er schließlich und schlug das heilige Zeichen. Auf dem Herzen verweilten seine Finger besonders lang. »Aber das war nicht zu übersehen!«

Ingrey befeuchtete sich die Lippen: »Wie viele andere haben es sonst noch gesehen? Wisst Ihr das?«

»Soweit ich weiß, war ich dort der Einzige mit dem zweiten Gesicht.« Er neigte den Kopf. »Oder wisst Ihr mehr?«

Wenzel. Wenn Lewko etwas mitbekommen hatte, konnte es Wenzel kaum entgangen sein. »Ich bin mir nicht sicher.«

Lewko rümpfte die Nase.

Zaghaft warf Ijada ein: »Ingrey …?«

»Oh.« Ingrey sprang auf, um den Besucher vorzustellen, und war froh, sich in Höflichkeiten flüchten zu können: »Lady Ijada, das ist der Gelehrte Lewko. Ich habe … äh, euch schon voneinander erzählt. Hochwürden, wenn Ihr Platz nehmen wollt …?« Er schob den dritten Stuhl zurecht. »Wir haben Euch bereits erwartet.«

»Ich fürchte, ich kann über Euch nicht dasselbe sagen.« Wieder schlug Lewko das heilige Zeichen und ließ sich auf den Stuhl sinken. Kurz fächerte er sich mit der Hand Luft zu. »Ehrlich gesagt, überrascht Ihr mich von Stunde zu Stunde mehr.«

Ingrey nahm diese Worte mit einem knappen Lächeln auf, während er sich wieder neben Ijada setzte. »Mich selbst ebenfalls. Ich wusste nicht … wollte nicht … Was habt Ihr gesehen? Von Eurer Seite aus?«

Lewko atmete tief durch. »Als die Tiere zum ersten Mal zur Bahre des Prinzen geführt wurden, befürchtete ich ein unklares Ergebnis. So etwas versuchen wir zu vermeiden. Es ist eine große Belastung für die Angehörigen. In diesem Fall sogar verhängnisvoll. Normalerweise haben die Akolythen, die als Hüter der heiligen Tiere dienen, die Anweisung, um der Klarheit willen die Hinweise ihrer Schützlinge zu verstärken. Verstärken, wohlgemerkt, nicht etwa beeinflussen oder verfälschen.

Ich fürchte, durch diese Praxis wurde der ein oder andere in die Irre geleitet, und das führte dann zu dem Schwindel vorgestern. Jedenfalls deuten unsere nachfolgenden Untersuchungen darauf hin. Keine der Kirchen war sonderlich begeistert, dass dies nicht der erste Fall in letzter Zeit gewesen war, da Mitarbeiter des Tempels sich von weltlichen Gütern bestechen oder von Drohungen einschüchtern ließen. Solche Korruption breitet sich immer mehr aus, wenn man ihr nicht beizeiten Einhalt gebietet.«

»Fürchten diese Leute denn nicht den Zorn ihrer Götter?«, fragte Ijada.

»Selbst der Zorn der Götter bedarf eines menschlichen Gegenstücks, in dem er sich manifestieren kann.« Lewkos Blick ruhte prüfend auf Ingrey. »Und was den Zorn der Götter angeht, war Euer Auftritt äußerst effektvoll, Lord Ingrey. Noch nie habe ich erlebt, dass eine Verschwörung sich so schnell auflöst und die Beteiligten es derart eilig mit ihren Geständnissen haben.«

»Stets zu Diensten«, knurrte Ingrey. Er zögerte. »Heute Morgen war das zweite Mal. Der zweite Gott, der … dem ich über den Weg gelaufen bin, innerhalb von zwei Tagen. Der Eisbär erscheint mir nur noch ein Vorspiel … Euer Gott war dabei zugegen, in dieser vermaledeiten Bestie.«

»Das sollte Er auch sein, bei einem Bestattungswunder, wenn es mit rechten Dingen zugeht.«

»Ich habe eine Stimme in meinen Gedanken gehört, als ich dem Bären gegenüberstand.«

Lewko erstarrte. »Was hat sie gesagt? Könnt Ihr Euch genau daran erinnern?«

»Ich kann es kaum vergessen. Wie ich sehe, hat der Welpe meines Bruders sich entwickelt. Gut. Mach ruhig weiter. Und dann lachte die Stimme.« Gereizt fügte Ingrey hinzu: »Das war nicht sonderlich hilfreich.« Dann, ruhiger: »Es hat mir Angst gemacht. Jetzt glaube ich, ich war noch nicht ängstlich genug.«

Lewko lehnte sich zurück und stieß den Atem durch die geschürzten Lippen hervor.

»War es Euer Gott in dem Bären? Was meint Ihr?«, stocherte Ingrey.

»Oh«, Lewko wedelte mit den Händen, »mit Sicherheit! Die Anzeichen für die Geheiligte Anwesenheit des Bastards sind meist unverwechselbar, zumindest für diejenigen, die Ihn kennen. Das Geschrei, der Zank, Menschen, die im Kreis herumlaufen … es fehlte nur noch, dass irgendetwas in Flammen aufging. Und einen Augenblick war ich mir nicht sicher, ob Ihr dafür nicht auch noch Sorge tragen würdet.« Tröstend fügte er hinzu: »Nun, die Verbrennungen des Akolythen dürften in ein paar Tagen verheilt sein. Er hat es nicht gewagt, sich über diese Bestrafung zu beschweren.«

Ijada runzelte die Stirn.

Ingrey räusperte sich. »Aber heute Morgen war es nicht Euer Gott.«

»Nein. Zum Glück, würde ich sagen. War es der Herbstsohn?

Ich habe nur die Aufregung an der Wand mitbekommen, als Ihr zusammengebrochen seid … eine Präsenz gefühlt und ein kurzes Aufblitzen wie von orangerotem Feuer gesehen, als das Fohlen letztendlich doch den Leichnam angenommen hat. Aber ich habe es nicht mit den Augen gesehen, wenn Ihr versteht.«

»Ich verstehe es jetzt«, seufzte Ingrey. »Ijada war auch dabei. In meiner Vision.«

Lewkos Kopf fuhr herum.

»Lasst sie davon berichten«, fuhr Ingrey fort. »Ich glaube, es war ihr … ihr Wunder.« Und nicht das meine.

»Ihr beide hattet diese Vision gemeinsam?«, rief Lewko überrascht. »Erzählt mir davon!«

Sie nickte und schaute Lewko einen Augenblick an, als müsse sie darüber nachdenken, wie weit sie ihm vertrauen konnte. Dann sah sie wieder zu Ingrey hinüber und begann: »Ich wurde völlig überrascht. Ich hielt mich hier im Haus auf, in meinem Gemach im Obergeschoss. Mir war seltsam zumute und heiß, und ich spürte noch, wie ich zu Boden sank. Meine Zofe glaubte, dass ich ohnmächtig geworden sei, und hob mich ins Bett. Beim ersten Mal, in Rottwall, war ich mir meiner körperlichen Umgebung noch stärker bewusst, aber diesmal … Ich ging vollständig in dieser Vision auf. Als Erstes sah ich Ingrey. Er trug sein höfisches Gewand … das, was er jetzt auch anhat, aber ich hatte es bis dahin noch nie gesehen.« Sie hielt inne und betrachtete seine Kleidung, als wolle sie noch etwas dazu anmerken. Dann aber schüttelte sie den Kopf und fuhr fort: »Sein Wolf folgte ihm auf dem Fuße. Groß und dunkel, aber auch sehr hübsch! Ich war über eine Kette aus Blumen mit meinem Leoparden verbunden, und er zog mich mit sich. Und dann trat der Gott unter den Bäumen hervor.«

Mit ruhiger Stimme beschrieb sie auch die anderen Ereignisse — im Großen und Ganzen so, wie Ingrey sie erlebt hatte, wenn auch aus einem anderen Blickwinkel. Ihre Stimme zitterte leicht, als sie die Worte des Gottes zitierte. Wortgetreu, so weit Ingrey sich daran erinnerte. Offenbar hatte sie dasselbe empfunden wie er: Worte, die sich in Lettern aus immerwährendem Feuer direkt in den Verstand einbrannten. Verlegen blickte er zur Seite und biss die Zähne zusammen, als er auch seine eigenen schamlosen Äußerungen zitiert hörte.

Tränen schimmerten in ihren Augenwinkeln, als sie schließlich zum Ende kam: »… und Ingrey fragte ihn, was denn mit dem letzten verbliebenen Schamanen geschehen würde, wenn es niemanden mehr gäbe, der ihn läutern könne. Aber der Gott verriet es ihm nicht. Fast schien es so, als ob er es selbst nicht wusste.« Sie schluckte.

Lewko stützte die Ellbogen auf den Tisch und wischte sich mit dem Handballen die Augen. »Schwierigkeiten«, murmelte er widerwillig. »Jetzt weiß ich wieder, warum ich mich stets fürchte, Hallanas Briefe zu öffnen.«

»Könnte das Ijadas Fall beeinflussen?«, fragte Ingrey. »Was meint Ihr? Falls es zur Aussage kommen sollte? Wie stehen die Vorbereitungen für den Prozess? Ich nehme an, Ihr kommt rasch an solche Neuigkeiten …?« Zumindest wenn Lewkos leichte Ähnlichkeiten zu Hetwar sich nicht nur auf Alter und Ausdrucksweise beschränkten.

»Oh, in der Tat. Der Klatsch im Tempel ist schlimmer als bei Hofe, das kann ich Euch versichern.« Lewko biss sich auf die Unterlippe. »Ich glaube, die Kirche des Vaters hat fünf Richter für die Anhörung eingesetzt, die dem Prozess vorausgeht.«

Für sich genommen war das keine großartige Neuigkeit. Unbedeutende Fälle, oder Fälle, die als unbedeutend behandelt werden sollten, bekamen nur drei Richter zugewiesen, manchmal auch nur einen, oder — wenn der Angeklagte besonderes Pech hatte — sogar nur einen jungen Akolythen in Ausbildung. »Wisst Ihr etwas über die Richter?« Oder gegen sie?

Bei dieser Frage runzelte Lewko die Stirn. »Hochgeborene Männer, ernsthaft und erfahren in Schwerverbrechen. Vermutlich werden sie schon morgen mit den Zeugenbefragungen anfangen.«

»Oh«, warf Ingrey ein. »Ich habe gesehen, dass Ritter Ulkra hier ist. Prinz Bolesos gesamtes Gefolge von Burg Keilerkopf dürfte mit ihm eingetroffen sein. Es gibt also keinen Grund, noch länger mit der Anhörung zu warten. Werde ich ebenfalls aussagen müssen?«

»Da Ihr zum Zeitpunkt der Tat nicht zugegen wart, möglicherweise nicht. Wollt Ihr denn aussagen?«

»Ich weiß es nicht genau. Wie erfahren sind diese ernsthaften Männer denn in Fragen des Übernatürlichen?«

Lewko ächzte und lehnte sich zurück. »Nun, das ist immer ein Problem.«

Ijada fragte mit einem Stirnrunzeln: »Wieso?«

Lewko bedachte sie mit einem abwägendem Blick. »Zu viel des Übernatürlichen — und des Heiligen — beruht auf rein innerem Erleben. Jede Aussage darüber könnte allzu persönlich gefärbt sein. Leute lügen. Leute täuschen sich selbst oder andere. Sie sind beeinflusst, eingeschüchtert oder davon überzeugt, Dinge gesehen zu haben, die sie eben nicht gesehen haben. Und manche Leute sind einfach nur verrückt. Jeder junge Richter des Vaters lernt früh, dass er sich viel Zeit und Ärger ersparen kann, wenn er solche Aussagen von Anfang an zurückweist, und dass er damit in neun von zehn Fällen richtig liegt. Die Bedingungen also, unter denen solche Behauptungen vor Gericht angehört werden, sind sehr streng geworden. Als eine Regel gilt, dass drei in der Wahrnehmung des Göttlichen erfahrene Angehörige der Kirche von einwandfreiem Leumund sich füreinander und für die Aussage verbürgen müssen.«

»Und Ihr seid ein solcher Angehöriger der Kirche, nicht wahr?«, stellte sie fest.

»Ja.«

»In diesem Gemach sind drei versammelt.«

»Hm … vielleicht, was die Wahrnehmung betrifft. Aber was die anderen Qualifikationen angeht, Kirche und guter Leumund, hapert es ein wenig, fürchte ich.« Er bedachte Ingrey und Ijada mit einem trockenen Blick.

Hallana, so kam es Ingrey in den Sinn, mochte eine weitere zulässige Zeugin abgeben. Allerdings würde es im Augenblick schwierig sein, sie zwecks einer Aussage hierher zu bekommen.

Andererseits … wenn er je eine Verzögerungstaktik benötigt hatte, wäre jetzt die Zeit dafür. Doch er schob den Gedanken erst einmal in einen Winkel seines Verstandes.

Ijada rieb sich die Stirn und fragte traurig: »Glaubt Ihr uns nicht, Hochwürden?«

Lewko presste die Lippen zusammen. »Doch. Doch, ich schon, der Bastard sei mein Zeuge. Aber eine hinreichende persönliche Überzeugung, um tätig zu werden, und ein ausreichender Beweis, der vor einem Gerichtshof standhalten kann, das sind zweierlei Dinge.«

»Persönlich tätig werden?«, fragte Ingrey. »Ihr sprecht nicht für die Kirche, Hochwürden?«

Er machte eine vieldeutige Handbewegung. »Ich unterstehe und wahre gleichermaßen die Regeln des Tempels. Außerdem bin ich in nur geringem Maße von den Göttern berührt, jedoch genug, um nicht nach mehr zu verlangen. Ich bin mir nie ganz sicher, ob meine schwankenden Fähigkeiten auf mein Unvermögen zurückzuführen sind, zu empfangen, oder auf Seinen Unwillen, mir mehr zu geben.« Er seufzte. »Euer Dienstherr Hetwar hat sich stets geweigert, das zu verstehen. Ständig ersucht er mich um Hilfe in unpassenden Angelegenheiten, und er mag es überhaupt nicht, wenn ich Nein sage. Die Zauberer meines Ordens stehen ihm zur Verfügung, die Götter aber nicht.«

»Und Ihr sagt ihm Nein?«, fragte Ingrey beeindruckt.

»Sehr oft.« Lewko verzog das Gesicht. »Was die großen Heiligen betrifft … denen erteilt niemand Befehle. Der kluge Diener der Kirche läuft bloß hinter ihnen her und wartet ab, was geschieht.«

Lewkos Blick richtete sich für einen Moment nach innen. Ingrey fragte sich, was für Erfahrungen er in dieser Hinsicht gemacht hatte. »Ich bin kein Heiliger, gleich welcher Art«, stellte er fest.

»So wenig wie ich«, fügte Ijada inbrünstig hinzu. »Und doch …«

Lewko blickte zu ihnen auf. »Genau damit habt Ihr Recht. Und doch. Ihr beide wurdet stärker von den Göttern berührt, als es jemandem mit so starkem Willen widerfahren sollte. Es ist gerade die Entsagung des eigenen Willens, die den Göttern Raum lässt, damit Sie durch die Heiligen in die Welt treten können. Es heißt, dass die Krieger des Alten Weald über ihre Geistertiere leichter mit den Göttern in Kontakt treten konnten. Die Tierseelen sollen eine Verbindung hergestellt haben, ähnlich den heiligen Tieren bei einer Bestattung. Diese Gerüchte kommen mir mit einem Mal bedeutend glaubwürdiger vor.«

Ist mein Dispens so sehr in Gefahr, wie Wenzel behauptet? Ingrey beschloss, diese Frage nur verdeckt anzusprechen: »Ijada ist nicht mehr für die Umstände verantwortlich, wie sie zu ihrem Leoparden gekommen ist, so wie ich es bei meinem Wolf war. Jemand anders hat ihr die Tierseele aufgenötigt. Kann ihr nicht ebenso ein Dispens gewährt werden wie mir? Es wäre nicht sinnvoll, sie vor der einen Anklage zu retten, nur um sie an die andere zu verlieren.«

»Das ist eine interessante Frage«, erwiderte Lewko. »Was meint denn Siegelbewahrer Hetwar dazu?«

»Ich habe Hetwar gegenüber den Leoparden noch nicht erwähnt.«

Lewko runzelte die Stirn.

»Er mag keine Schwierigkeiten«, fügte Ingrey lahm hinzu.

»Was treibt Ihr für ein Spiel, Lord Ingrey?«

»Ich hätte es Euch gegenüber nicht erwähnt, wenn Hallanas Brief mich nicht dazu gezwungen hätte.«

»Ihr hättet dafür sorgen können, dass Euch das Schreiben unterwegs abhanden kommt«, entgegnete Lewko.

»Daran habe ich auch gedacht«, gestand Ingrey. »Es schien mir allerdings nur ein vorübergehender Ausweg zu sein. Doch ich könnte Euch dasselbe fragen. Mit Verlaub, Hochwürden, anscheinend geht Ihr selbst sehr frei mit Euren Regeln um.«

Lewko hielt die gespreizte Hand in die Höhe und wackelte mit den Fingern. »Man erzählt sich hinter vorgehaltener Hand, dass der Daumen deshalb dem Bastard heilig ist, weil Er mit diesem Körperteil die Waage der Gerechtigkeit herunterdrückt und Seinen Zwecken entsprechend beugt. In diesem Scherz steckt mehr Wahrheit als Witz. Und doch ist beinahe jede Regel aus irgendeiner vorherigen Katastrophe hervorgegangen. Mein Orden hat auf diese Weise eine ganze Waffenkammer voller Regeln angesammelt, Lord Ingrey. Und daraus rüsten wir uns, wie die Lage es gerade erfordert.«

Und das machte Lewko als Verbündeten und Gegner gleichermaßen unberechenbar, befand Ingrey betroffen.

Ijada blickte auf, als ein weiteres Klopfen vom Eingang her ertönte. Ingrey hielt die Luft an, in plötzlicher Furcht, dass es Wenzel sein könnte, der den Geschehnissen dieses Vormittags ebenso rasch nachging wie Lewko. Doch den Einwänden des Pförtners nach zu urteilen, die gedämpft durch die Tür zu hören waren, konnte es nicht der Graf sein. Schließlich öffnete sich die Tür, und der Pförtner verkündete furchtsam: »Ein Bote für den Gelehrten Lewko, Herr.«

»In Ordnung«, sagte Ingrey, und der Pförtner zog sich erleichtert zurück.

Ein Mann im Wappenrock von Prinz Bolesos Gefolge schob sich an ihm vorüber. Ein Dienstbote, dem Rest der Kleidung nach zu urteilen, dem fehlenden Schwert und dem unentschlossenen Auftreten. Mittleren Alters, ein wenig gebeugt, mit einem Stoppelbart. »Ich bitte um Vergebung, Hochwürden, ich muss Euch dringend …« Sein Blick fiel auf Ingrey, und in plötzlichem Erkennen riss er die Augen auf. Seine Stimme erstarb abrupt. »Oh.«

Ingrey erwiderte den Blick zuerst verständnislos. Das Blut schien in seinem Kopf zu brodeln. Dann erkannte er, dass er einen Dämon wahrnahm — den typischen Geruch nach Regen und Blitzen, der tief im Innern des Mannes seinen Ausgang nahm. Einer von Lewkos Zauberern, in Verkleidung, der seinem Herrn in irgendeiner kirchlichen Angelegenheit Bericht erstatten wollte? Nein, denn in Lewkos Gesicht zeigte sich ebenso wenig Erkennen wie bei Ingrey, auch wenn sein Körper mit einem Mal erstarrt wirkte. Er riecht den Dämon ebenfalls, oder spürt ihn auf andere Weise.

Und schließlich war es mehr die Stimme des Mannes als sein Aussehen, die den Ausschlag gab. Ingrey stellte sich das Gesicht des Dieners ohne Bart vor und elf Jahre älter. »Du!«, stieß er dann hervor.

Der Diener schnappte nach Luft.

Ingrey sprang so rasch auf, dass sein Stuhl hintenüber kippte und zu Boden polterte. Der Diener, der zurückwich, kreischte auf, wirbelte herum und floh durch die Tür, die er hinter sich zuschlug.

»Ingrey, was …«, begann Ijada.

»Es ist Cumril!«, rief Ingrey ihr zu und nahm die Verfolgung auf.

Bis Ingrey beide Türen wieder geöffnet hatte und auf der Straße stand, war der Mann bereits hinter der nächsten Ecke verschwunden. Doch der Klang seiner raschen Schritte und die verwunderten Blicke der Vorübergehenden verrieten Ingrey, in welche Richtung er gelaufen war. Er warf den Mantel zurück, legte die Hand auf das Schwert und rannte hinterher. Er umrundete die Ecke gerade rechtzeitig, um Cumril noch zu erblicken. Der bog nach einem verängstigten Blick über die Schulter in eine Seitenstraße ab. Ingrey folgte ihm und beschleunigte seine Schritte. Wer würde diesen Wettlauf gewinnen? Jugend und Zorn oder mittleres Alter und panische Furcht?

Der Mann ist ein Zauberer. Was in fünf Götter Namen will ich überhaupt tun, wenn ich ihn erwische? Ingrey biss die Zähne zusammen und schob diese Frage zur Seite, während er allmählich aufholte. Schließlich streckte die Hand nach Cumrils Kragen aus, griff zu, riss den Mann zurück, wirbelte ihn herum und rammte ihn mit einem dumpfen Schlag gegen die nächste Wand. Er selbst rückte nach und hielt ihn durch das Gewicht seines Leibes und den zornig lodernden Blick an Ort und Stelle fest.

Cumril keuchte und winselte: »Nein, nein, Hilfe …!«

»Verzaubere mich doch. Warum zögerst du?«, knurrte Ingrey. Zauberer und Schamanen, hatte Wenzel erklärt, waren von alters her Rivalen um die Macht. Mit den vernebelten Überresten seines Verstandes fragte sich Ingrey, wer von beiden der Stärkere war und ob er es bald herausfinden würde.

»Ich wage es nicht! Er wird wieder emporsteigen und mich erneut zum Sklaven machen.«

Diese Antwort war eigenartig genug, um Ingrey aufhorchen zu lassen. Der Griff seiner Hand, die nun Cumrils Kehle umschloss, lockerte sich ein wenig. »Was?«

»Der Dämon wird mich w-wieder ergreifen, wenn ich ihn r-rufe«, stotterte Cumril. »Ihr müsst … müsst … müsst keine Angst vor mir haben, Lord Ingrey.«

»Bei den Leiden meines Vaters, ich kann nicht dasselbe versprechen!«

Cumril schluckte und blickte beiseite. »Ich w-weiß.«

Ingrey lockerte seinen Griff noch mehr. »Warum bist du hier?«

»Ich bin dem Geistlichen gefolgt. Vom Tempel. Ich habe ihn bei der Bestattung gesehen. Ich wollte … wollte versuchen … Ich hatte vor, mich ihm zu stellen. Ich hatte nicht mit Euch gerechnet.«

Ingrey trat zurück und blickte grimmig. »Nun, dagegen habe ich nichts einzuwenden. Dann komm mit.«

Nur für alle Fälle hielt er weiterhin Cumrils Arm umklammert, während er ihn zu dem schmalen Haus zurückgeleitete. Cumril war bleich und zitterte, doch sein erster Schrecken schien sich allmählich zu legen. Als Ingrey ihn in die Stube stieß und die Tür hinter ihm wieder zufallen ließ, hatte Cumril sich weit genug erholt, um ihm einen verärgerten Blick zuzuwerfen, bevor er seinen Wappenrock glättete und vor Lewko trat.

»Hochwürden. Gesegneter. Ich … ich … ich …«

Lewko beobachtete ihn aufmerksam. Er wies auf Ingreys leeren Stuhl, den Ijada wieder hinstellte. »Setz dich … Cumril, nicht wahr?«

»Ja, Hochwürden.« Cumril ließ sich auf dem Stuhl niedersinken. Ijada kehrte an ihren eigenen Platz zurück. Ingrey bezog mit verschränkten Armen an der Wand Aufstellung.

Lewko drückte die Handfläche gegen Cumrils Stirn. Ingrey hatte keine Ahnung, was zwischen den beiden vor sich ging, doch Cumril entspannte sich, und der Geruch des Dämons ließ nach. Seine heftigen Atemzüge wurden ruhiger, und sein Blick, der im Raum umherschweifte, zeugte davon, dass eine unsichtbare Last von ihm genommen war.

»Gehörst du wirklich zu Bolesos Gefolge?«, fragte Ingrey und nickte in Richtung des Wappenrockes.

Cumrils Augen richteten sich wieder auf Ingrey. »Ja. Besser gesagt, ich gehörte. Er … er … er hat mich als seinen Dienstboten ausgegeben.«

»Du warst also dieser abtrünnige Zauberer, der ihm bei seinen verbotenen Ritualen geholfen hat! Es wurde bereits vermutet, dass es einen solchen geben müsste. Aber ich habe dich nie auf Keilerkopf gesehen.«

»Nein. Ich habe sehr genau darauf geachtet, dass Ihr … Ihr das nicht tut.« Cumril schluckte. »Ritter Ulkra und der Rest des Haushalts sind gestern Abend hier eingetroffen. Es war für mich die einzige Möglichkeit, nach Ostheim zu gelangen. Ich … ich konnte nicht früher kommen.« Der letzte Satz schien an Lewko gerichtet zu sein.

»Weiß sonst noch jemand aus Bolesos Haushalt, wer du wirklich bist?«, wollte Ingrey wissen.

»Nein, nur der Prinz. Ich … mein Dämon hat auf Geheimhaltung bestanden. Eines der wenigen Male, wo er sich gegen Boleso durchsetzen konnte …«

»Vielleicht«, unterbrach Lewko ihn sanft, »solltest du alles von Anfang an erzählen, Cumril.«

Cumril duckte sich. »Von welchem Anfang?«

»Das Verbrennen eines gewissen Geständnisses wäre ein geeigneter Zeitpunkt.«

Cumril blickte abrupt auf. »Woher wisst Ihr davon?«

»Ich habe es für die Untersuchung wieder zusammengesetzt. Mit größter Mühe.«

»Das will ich meinen!« Cumrils augenscheinliche Furcht vor Lewko wich so etwas wie beruflicher Ehrfurcht.

Lewko hob einen Finger. »Ich habe vermutet, dass die Vernichtung dieses Dokuments jener Zeitpunkt war, an dem du die Herrschaft über deine Kräfte verloren hast.«

Cumril zog nickend den Kopf wieder ein. »So war es, Gesegneter. Und es war der Beginn meiner … meiner Knechtschaft.«

»Ah.« Ein kurzes, zufriedenes Lächeln zeigte sich auf Lewkos Lippen, als er seine Theorie bestätigt fand.

»Ich sage nicht, der Beginn meines Albtraums«, fuhr Cumril fort, »denn ein schrecklicher Albtraum war es vorher schon. Doch in meiner Verzweiflung nach dem Unheil von Birkenhain stieg der Dämon in mir auf und übernahm die Herrschaft über meinen Körper und meinen Geist. Ich … wir … er floh mit meinem Leib, dessen Besitz ihn überglücklich machte, und wir führten ein seltsames Dasein. Es war stets sein größtes Bestreben, außer Sichtweite der Kirche zu bleiben. Ansonsten suchte er launenhaft nach jedem Vergnügen, das die materielle Welt ihm verschaffen konnte. Und es waren nicht immer Dinge, die ich als Vergnügen bezeichnen würde. Am schlimmsten waren die Monate, da er mit Schmerz experimentieren wollte.« Cumril erschauderte bei der Erinnerung. »Aber das verging wie jede andere seiner flüchtigen Leidenschaften. Zum Glück. Ich schwöre Euch, er hatte die Aufmerksamkeitsspanne einer Eintagsfliege. Als Boleso uns gefunden hatte, zwang er uns, ihm zu Diensten zu sein. Der Dämon war bald schon gelangweilt und aufsässig, doch er wagte nicht, sich dem Prinzen zu widersetzen. Boleso hatte Mittel, seinen Willen durchzusetzen …«

Lewko befeuchtete sich die Lippen und beugte sich vor. »Wie hast du die Herrschaft zurückgewonnen? Denn das gelingt nur sehr selten, wenn ein Dämon sich erst gegen den Zauberer gewandt hat.«

Cumril nickte und behauptete mit einem furchtsamen Blick auf Ijada: »Sie war es.«

Ijada blickte verwundert auf. »Was?«

»In der Nacht von Bolesos Tod hielt ich mich im Nebenraum auf. Ich sollte ihm helfen, den Leoparden zu binden. Da war ein Guckloch in der Wand, aus dem man den Pfropfen entfernen konnte, um zu schauen und zu lauschen.«

Ijadas Miene wurde starr. Cumril schien sich vor ihrem Blick verkriechen zu wollen. Hatte er, wie dämonenbesessen auch immer, begierig Zeuge ihrer Vergewaltigung werden wollen? Ingreys Hand, die bisher müßig den Schwertgriff betastet hatte, schloss sich nun fester darum.

Cumril hielt ihren finsteren, grüblerischen Blicken stand und fuhr fort: »Boleso glaubte, dass die Tiergeister, die er in sich aufnahm, die jeweilige Sippe seinem Willen unterwerfen würden. Er hat die Theorie aufgestellt, dass der Leopard Euer Totemtier wäre, Lady Ijada, weil Euer Vater ja aus Chalion stammt. Er wollte das Tier benutzen, um Euren Geist und Willen an den seinen zu binden, um Euch zu seiner vollkommenen Geliebten zu machen. Teils aus Begierde, teils aber auch, um seine Kräfte zu erproben, ehe er damit in der Politik auftrat. Und zum Teil auch deshalb, weil er zu jenem Zeitpunkt schon halb wahnsinnig war und gegenüber jedem von Misstrauen erfüllt und weil er eine Frau nur unter einem so festen Band so dicht an sich heranlassen wollte.«

»Kein Wunder, dass er sich keine Mühe gab, mir den Hof zu machen«, sagte Ijada, und ihre Stimme zitterte leicht.

Ruhig bemerkte Lewko: »Es war eine schwere Sünde und Blasphemie, sich den Willen eines anderen Untertan machen zu wollen. Selbst den Göttern ist der freie Wille heilig.«

»Sollte denn der Leopardengeist in Ijada fahren?«, fragte Ingrey verwirrt. »Habt Ihr ihn dorthin geschickt?« Wie Ihr mir einst meinen Wolf gegeben habt?

»Nein!« Cumril verstummte für einen Augenblick; dann fasste er sich wieder. »Boleso nahm ihn in sich auf, hatte ihn gerade aufgenommen, als sich die Dame unter ihm freikämpfte. Und dann … dann ist etwas geschehen, was niemand unter Kontrolle hatte. Ich weiß nicht, wo sie den Mut hernahm, den Kriegshammer zu ergreifen und Boleso niederzustrecken. Aber der Tod öffnet das Tor zwischen der materiellen Welt und den Göttern. Alles geschah gleichzeitig, binnen eines Augenblicks. Ich war immer noch mit dem Leoparden beschäftigt, als Bolesos Seele aus dem Körper gerissen wurde und der Gott … die Erschütterung … mein Dämon … Bolesos Seele kämpfte nach Kräften, konnte sich aber nicht von all den Verunreinigungen befreien und zu der Präsenz durchdringen oder sich ganz von ihr lösen.

Der Leopard, der noch nicht richtig an ihn gebunden war, wurde wieder aus ihm herausgerissen und fiel … nein, wurde zu Lady Ijada gerufen. Ich hörte eine Musik, wie von Jagdhörnern in einem fernen Morgengrauen, und mein Herz schien bei diesem Klang zerbersten zu wollen. Mein Dämon wich kreischend vor Furcht davor zurück. Er löste den Griff um meinen Geist und floh in die einzige Richtung, die ihm offen stand … nach innen, tiefer und tiefer zu einem festen Knoten. Dort duckt er sich noch immer«, er berührte sich an der Brust, »aber ich weiß nicht, wie lange noch.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich bin dann weggelaufen und habe mich in meinem Gemach versteckt. Eine Zeit lang weinte ich so heftig, dass ich kaum Luft bekam.« Er weinte jetzt wieder, ein leises Schluchzen, während er sich auf dem Stuhl hin- und herwiegte.

Lewko hob den Atem und rieb sich den Nacken.

Von der Wand her knurrte Ingrey: »Ich wüsste noch einen früheren Anfang, Cumril.«

Cumril sah plötzlich noch ängstlicher aus, doch er zog in stummer Ergebenheit den Kopf ein.

Ingrey schnaubte, belustigt und zugleich in banger Erwartung. Endlich mal ein paar Wahrheiten! Er betrachtete den erbärmlichen Zauberer. »Wie bist du zu meinem Vater gekommen? Oder kam er zu dir?«

»Lord Ingalef kam zu mir, Herr.«

Ingrey blickte ihn finster an. Lewko nickte.

»Seine Schwester, die Gräfin von Rossfluten, war in großer Furcht zu ihm geflohen und erflehte seine Unterstützung. Sie hatte eine wirre Geschichte zu erzählen, nach der ein böser Geist aus dem Alten Weald in ihren Sohn Wenzel gefahren war.«

Lewko blickte auf. »Wenzel!«

Ingrey unterdrückte einen Fluch. Mit einem einzigen Satz war ein völlig neues Blatt ausgespielt worden, und das auch noch vor Lewkos Augen. »Moment mal … diese Besessenheit ergab sich bereits vor dem Tod seiner Mutter? Nicht danach?«

»Davor. Sie vermutete, dass es zu dem Zeitpunkt geschehen sein musste, als sein Vater starb … ungefähr vier Monate zuvor. Seither hatte der Junge sich auf seltsame Weise verändert.«

Also hatte Wenzel zumindest in einem Punkt gelogen. Oder Cumril. Oder vielleicht logen sie beide. Aber sie konnten nicht beide die Wahrheit sagen. »Erzähl weiter.«

»Die beiden heckten einen Plan aus, um ihren Sohn zu retten … glaubten sie zumindest. Die Gräfin von Rossfluten wagte nicht, sich offen an die Kirche zu wenden. Sie war außer sich vor Sorge, dass man ihren Jungen verbrennen könnte, wenn der Geist sich nicht austreiben ließ.« Cumril schluckte. »Sie wollte die Magie des Alten Weald mit der Magie des Alten Weald bekämpfen.«

Tatsächlich waren die Tempelzauberer nicht in der Lage gewesen, Ingrey von seinem Wolf zu befreien. Wenzels Mutter hatte Recht daran getan, zum Wohle ihres Sohnes einen anderen Weg zu suchen. Ingrey runzelte die Stirn. »Ich weiß genau, wie schrecklich dieser Plan fehlgeschlagen ist! Der tollwütige Wolf, der meinen Vater getötet hat … war das Zufall oder Absicht?«

»Ich weiß es bis heute nicht. Der Jäger hat noch auf seinem Totenbett mit mir gesprochen, schon halb wahnsinnig. Er … er war nicht bestochen worden, da bin ich mir sicher. Er ahnte nicht, dass die Tiere krank waren, sonst hätte er sich selbst besser geschützt!«

Neugierig fragte Ijada: »Wo hielt sich der junge Wenzel auf, als das alles in Birkenhain geschah?«

»Seine Mutter hatte ihn auf Burg Rossfluten zurückgelassen. Sie wollte nicht, dass er von ihren Bestrebungen erfuhr, ehe sie nicht irgendetwas gefunden hatte, ihm zu helfen.«

Und das bedeutete … »Sie hatte Angst vor ihm? Genauso wie um ihn?«, fragte Ingrey.

Cumril zögerte, zog dann wieder den Kopf ein. »Ja.«

Also … wenn man einen Mann mit einem Bann belegen konnte, damit er nach dem Willen eines anderen mordete, wie es der schmarotzende Zauber bei Ingrey bewirkt hatte, um wie viel leichter musste es dann sein, auf diese Weise einen Wolf zu beeinflussen oder ein Pferd? War der Tod der alten Gräfin von Rossfluten, die von ihrem eigenen Reittier zu Tode getrampelt worden war, womöglich auch kein Unfall gewesen? Was denn? Glaubst du etwa, dass Wenzel seine eigene Mutter getötet hat? Ingreys Blut pochte in seinem Kopf, doch es war in erster Linie ein quälender Kopfschmerz.

Zumindest war nun die Frage beantwortet, wie er zu seinem Wolf gekommen war. Eine tödliche Mischung aus Loyalität gegenüber der Familie, guten Absichten und schlechtem Urteilsvermögen … und einer verstohlenen, bösartigen Magie? Oder war die letzte Zutat nur eine kleine Unaufmerksamkeit gewesen? Hatte ihr unbekannter Feind Lord Ingalef töten wollen oder nur die Tiere? »Mein Wolf … was ist mit meinem Wolf, der auf so geheimnisvolle Weise aufgetaucht ist?«

Cumril zuckte hilflos die Achseln. »Da er eine so unheilvolle Wirkung auf Euch hatte, muss er wohl geschickt worden sein, so wie das tollwütige Tier.«

Hatte Wenzel ihn geschickt? Führt er mich etwa an einer unsichtbaren Leine? Schon die ganze Zeit, seit jenen Ereignissen in Birkenhain? Ingrey drückte die Schultern gegen die Wand, um die unerträgliche Anspannung darin zu lösen. Ijada wurde auf die Bewegung aufmerksam und musterte ihn besorgt.

Lewko rieb sich den Nasenrücken, die Augenlider fest zusammengedrückt. »Lord Ingrey. Lady Ijada. Ihr habt beide den Grafen von Rossfluten vor kurzem erst gesehen, und nicht nur mit gewöhnlichen Augen. Was sagt ihr zu diesen Anschuldigungen?«

»Ihr habt ihn ebenfalls gesehen«, erwiderte Ingrey vorsichtig. »Was habt Ihr gespürt?«

Lewko blickte verärgert auf. Ingrey rechnete schon damit, dass er ihn anschnauzen würde: Ich habe zuerst gefragt! Stattdessen atmete Lewko tief durch und sagte: »Sein Geist schien mir verdunkelt, aber nicht mehr als bei so manchem anderen Mann, der dem Tod allzu sehr huldigt und ihn zu umarmen sucht. Es kam mir schon in den Sinn, um ihn zu fürchten und um diejenigen, die ihm nahe stehen. Aber nicht in dieser Hinsicht.«

»Ingrey …?«, fragte Ijada, und ihr Tonfall machte die Frage deutlich: Sollen wir nicht reden?

Wenzel hatte Recht gehabt: Wenn die Kirche erst anfing, genauer hinzuschauen, würde sie auch etwas finden. Und Verschwiegenheit war tatsächlich die einzige Sicherheit, die es gab. Und es wäre wirklich klug gewesen, Cumril als Erstes zu finden und zu befragen, noch ehe die Beauftragten des Tempels Gelegenheit dazu erhielten. Ingrey fragte sich erbittert, welche von Wenzels Worten sich als Nächstes bestätigen würden. »Wenzel trägt einen Tiergeist, das ist richtig. Ob er böse ist oder gut, kann ich nicht beurteilen. Ich hatte vermutet, Cumril wäre dafür ebenfalls verantwortlich, als Teil desselben düsteren Plans, der mir auch meine Heimsuchung eingebracht hat. Aber nun hat es den Anschein, als wäre dies nicht der Fall.«

»Nein, nein«, murmelte Cumril und wiegte sich wieder auf dem Stuhl. »Das war ich nicht.«

»Davon habt Ihr bisher nichts erwähnt«, sagte Lewko, und seine Stimme klang mit einem Mal ausdruckslos.

»Nein, das habe ich nicht«, erwiderte Ingrey in genau demselben Tonfall.

»Wirre Anschuldigungen«, flüsterte Lewko. »Aus fragwürdiger Quelle. Nicht die Spur eines Beweises und der drittwichtigste Fürst im Land. Womit wird mich dieser Tag sonst noch beglücken? Nein, darauf will ich jetzt keine Antwort hören …«

»Götter«, merkte Ijada an. »Ihr erinnert Euch?«

Lewko funkelte sie an.

Cumrils Geständnis ergab keinen Sinn, befand Ingrey. Warum sollte man ein Kind opfern, um ein anderes zu retten? Was für einen Nutzen sollte es bringen, wenn man beide Erben mit einem Tiergeist befleckte? Seine Erregung angesichts der möglichen Enthüllung dieses alten Rätsels verebbte. »Was sollte es Wenzel bringen, dass man meinen Vater und mich gleichfalls zu Totemkriegern machte?«

»Das hat die Gräfin von Rossfluten mir nicht verraten.«

»Wie bitte? Und du hast sie nicht gefragt? Das klingt für mich nach einem sehr sorglosen Umgang mit Euren berühmten Tempelregeln, o Zauberer, wenn Ihr sie auf den bloßen Einfall einer Frau hin gleich in Bausch und Bogen missachtet!«

Cumril blickte zu Boden und sagte widerstrebend: »Sie war von den Göttern berührt. Sehr … schmerzhaft.«

Ein neuer Gedanke ließ Ingrey schaudern. Wenn man, wie Boleso, nicht zu den Göttern gelangen konnte, sobald man einen Tiergeist in sich trug, was war dann mit Lord Ingalefs Seele geschehen? Dessen Bestattung war schon lange vorüber gewesen, ehe Ingrey sich weit genug erholt hatte, um danach zu fragen. Niemand hatte ihm erzählt, dass sein Vater verloren gewesen war. Aber es hat mir auch niemand etwas anderes erzählt. Lord Ingalef war in Stillschweigen begraben worden.

Er muss verdammt gewesen sein. Es gab keinen Schamanen in Birkenhain, der ihn hätte läutern können.

Einen Augenblick … Es hatte dort einen Schamanen gegeben, zumindest theoretisch. Ingreys Herzschlag schien auszusetzen. Hätte ich ihn retten können …?

Er drängte diese unerträgliche Erkenntnis beiseite und starrte Cumril in feindseligem Schweigen an. Lewkos Schweigen war viel weniger verräterisch. Ihre Blicke kreuzten sich, verbissen sich ineinander. Ingrey vermutete allmählich, dass er hier nicht der Einzige war, der lieber zuerst allein sämtliche Informationen gesammelt hätte, um sie später nach eigenem Gutdünken sparsam weiterzuverteilen. Der Geistliche erhob sich abrupt.

»Cumril, du begleitest mich besser zum Tempel. Dort können wir leichter für deine Sicherheit sorgen. Wir unterhalten uns später weiter.« Allein, hing es unausgesprochen im Raum.

Cumril nickte und kam mühsam ebenfalls auf die Füße. Ingrey biss die Zähne zusammen. Sicherheit? Wovor? Davor, dass Cumrils Dämon erneut die Vorherrschaft an sich riss? Vor Wenzel? Vor neugierigen Ermittlungsbeamten des Tempels? Ingrey? O ja, Lewko tut gut daran, Cumril vor mir in Sicherheit zu bringen.

Er geleitete den Schäfer und das verlorene Schaf bis zur Vordertür. Lewko verabschiedete sich von ihm und Ijada, mit dem Versprechen — oder der Drohung — bald wiederzukommen. Nachdem sie nun anscheinend wieder aus der vertraulichen Klausur herausgetreten waren, stürzte die Zofe sich sogleich auf die ihr Anvertraute und schob sie eiligst die Treppen hinauf. Ijada, den Kopf voll düsterer Gedanken, leistete keinen Widerstand.

Ingrey eilte zu seinem Gemach hinauf und tauschte dort die höfische Garderobe gegen Kleidung, in der er sich besser bewegen konnte und in der sich sein Schwert nicht immerzu verfing. Er hatte heute noch einen Besuch zu machen, und das ohne weitere Verzögerung.

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