Kapitel Zwanzig

Nachdem er den überbauten Bach überquert und in die Unterstadt gelangt war, überraschte es Ingrey nicht allzu sehr, als er um eine Ecke bog und den Weg unversehens von Hallanas Kutsche versperrt fand.

Die beiden stämmigen Pferde, staubig und verschwitzt von der Reise, standen mit dampfendem Fell da, und Bernan saß mit schlaff herabhängenden Zügeln auf dem Kutschbock, den Ellbogen auf die Knie gestützt. Ein ungesatteltes Reitpferd war mit einem Strick am Halfter hinter dem Wagen angebunden. Hergi kauerte hinter Bernans Schulter. Hallana hing mit einer Hand am vorderen Rahmen der Überdachung, beschirmte mit der anderen Hand die Augen und blickte unsicher durch eine Gasse, die für die Kutsche zu eng war.

Hergi klopfte Bernan auf die Schulter, wies auf Ingrey und rief: »Schaut! Schaut!«

Hallana fuhr herum. Ihr Gesicht hellte sich auf. »Ah! Lord Ingrey!« Sie klopfte Bernan auf die andere Schulter. »Siehst du, habe ich es nicht gesagt?« Der Schmied nickte müde, eine Geste irgendwo zwischen Zustimmung und Verzweiflung. Hallana stieg über ihn hinweg, sprang auf die Straße und stand vor Ingrey.

Sie hatte sich von ihren lockeren, abgewetzten Roben getrennt und trug stattdessen ein kleidsames Reisegewand, ein dunkelgrüner Mantel über einem hellen Kleid, das in der Taille deutlich spannte. Ihre Tressen fehlten — reiste sie inkognito? Immer noch war sie klein und rundlich, wirkte aber deutlich gepflegter, die Haare zu ordentlichen Kränzen um den Kopf geflochten. Es gab keine sichtbaren Anzeichen von Kindern oder anderem Chaos in ihrem Kielwasser.

Ingrey deutete eine höfliche Verbeugung an. Sie antwortete mit einem Segen, obwohl das heilige Zeichen bei ihr ein hastiges Abhaken am Oberkörper war, »Ich bin so froh, Euch zu sehen«, ließ sie ihn wissen. »Ich suche Ijada.«

»Und wie?«, fragte Ingrey unwillkürlich. Offenbar hatte sie ihre Kräfte wieder unter Kontrolle.

»Für gewöhnlich fahre ich einfach nur herum, bis irgendwas passiert.«

»Das klingt nicht sonderlich effizient.«

»Ihr redet wie Oswin. Er hätte natürlich ein Raster über einen Stadtplan gelegt und dann jeden Sektor in genauer Reihenfolge abgearbeitet. Euch aufzuspüren ging deutlich schneller.«

Ingrey dachte darüber nach, besann sich aber eines Besseren. »Wenn wir gerade vom Gelehrten Oswin reden: Er trug mir auf, Euch auszurichten, dass er Gemach für euch alle im Gasthaus Lilienhof gegenüber dem Siechenhaus der Mutter auf dem Tempelberg angemietet hat.«

Diese Neuigkeit rief ein leises Stöhnen Bernans hervor.

»Oh!« Hallana wirkte noch erfreuter. »Ihr seid euch begegnet? Wie nett!«

»Und es überrascht Euch nicht, dass er Euch erwartet hat?«

»Oswin kann mitunter schrecklich schwerfällig sein, aber er ist nicht dumm. Natürlich konnte er sich denken, dass wir kommen. Irgendwann.«

»Der gelehrte Herr wird nicht sehr zufrieden mit uns sein«, prophezeite Hergi besorgt. »Das war schon in der Vergangenheit so.«

»Papperlapapp«, sagte Oswins Angetraute. »Ihr habt es überlebt.« Sie wandte sich wieder Ingrey zu, und ihre Stimme wurde ernst. »Hat er Euch von unserem Traum erzählt?«

»Nur kurz.«

»Wo ist eigentlich Ijada?«

»Ich sollte nicht gesehen werden, wie ich mit Euch spreche, und schon gar nicht belauscht.«

Hallana blickte zu dem überdachten Wagen, und Ingrey nickte. Er schwang sich hinter ihr ins düstere Innere, kletterte über Packstücke und ließ sich auf einem Schrankkoffer nieder. Voller Unbehagen schob er sein Schwert zurecht. Hallana nahm im Schneidersitz auf einer Pritsche Platz, die dick mit Decken ausgepolstert war, und blickte ihn erwartungsvoll an.

»Ijada ist in einem privaten Gebäude unweit des Hafendamms untergebracht.« Ingrey sprach leise. »Ritter Gesca trägt derzeit die Verantwortung für sie. Er ist Hetwars Mann, aber das Haus gehört dem Grafen von Rossfluten. Die Dienstboten dort sind Spione des Grafen, und auch auf Gescas Verschwiegenheit kann man sich nicht verlassen. Ihr solltet dort nicht auftauchen, ohne Euch als jemand anders ausgeben zu können. Lasst Euch vom Gelehrten Lewko dort einführen, womöglich getarnt als Heilkundige, die im Rahmen der gerichtlichen Befragungen Untersuchungen vornehmen soll. Dann hättet Ihr auch einen Vorwand, die Diener auszuschließen und mit Ijada unter vier Augen zu reden.«

Hallana kniff die Augen zusammen. »Interessant. Ist Faras Gemahl Ijada etwa doch nicht freundlich gesonnen — oder vielleicht allzu freundlich? Oder ist diese verzogene Prinzessin das Problem?«

»Fara ist ein ganzes Knäuel von Problemen, doch Wenzels Interesse an ihrer Zofe beruhte nicht auf Lüsternheit, wie Ihr es unterstellt hattet. Wenzel besitzt geheime Kräfte und verfolgt undurchschaubare Ziele. Hetwar hat mich gerade als Spion in seinem Haushalt untergebracht, damit ich diese Ziele ausfindig mache. Ich möchte nicht, dass dort noch mehr Schlamm aufgewühlt wird und mir den Blick trübt, als ohnehin schon im Wasser treibt.«

»Ihr haltet ihn für gefährlich?«

»Ja.«

»Für Euch?« Sie runzelte die Stirn.

Ingrey biss sich auf die Lippe. »Es ist der Verdacht aufgekommen, dass er einen Tiergeist in sich trägt. So wie den meinen. Das ist richtig, aber nicht die ganze Wahrheit.« Er zögerte. »Der Bann, den wir in Rottwall gebrochen haben — er ging von ihm aus.«

Hallana stieß die Luft aus. »Warum wurde er nicht festgenommen?«

»Nein!«, widersprach Ingrey scharf. Als sie ihn anstarrte, fügte er ruhiger hinzu: »Nein. Zunächst einmal bin ich mir noch nicht sicher, wie man diese Anschuldigung beweisen kann, und zweitens könnte eine voreilige Verhaftung eine Katastrophe auslösen.« Für mich zumindest.

Sie zwinkerte ihm aufmunternd zu. »Nun kommt schon, Lord Ingrey. Mir könnt Ihr doch mehr erzählen.«

Er fühlte sich ernsthaft in Versuchung geführt. »Ich glaube … noch nicht. Im Augenblick befinde ich mich in einem Stadium der Ereignisse … ich habe noch nicht … ich drehe mich immer noch im Kreis und warte darauf, dass etwas geschieht.«

»Oh.« Ein Ausdruck des Verständnisses trat auf ihr Gesicht. »Dieses Stadium. Das kenne ich gut.« Nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu: »Mein Beileid.«

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Rund um die Naht fing es wieder zu wachsen an; es wurde allmählich Zeit, die Fäden zu ziehen. »Ich kann hier nicht verweilen. Ich muss Prinz Biast und Prinzessin Fara einholen. Euer Gemahl war bei der gerichtlichen Anhörung von Ijadas Fall zugegen. Vermutlich kann er Euch mehr berichten als ich. Lewko weiß auch einiges. Ich frage mich«, Ingrey versagte die Stimme, »ob ich Euch vertrauen kann.«

Ihr Kopf fuhr hoch und neigte sich ein wenig zur Seite. Trocken stellte sie fest: »Ich nehme an, das war nicht als Beleidigung gemeint.«

Ingrey schüttelte den Kopf. »Zur Zeit stolpere ich durch einen Morast von Lügen und Halbwahrheiten und noch seltsameren Geschichten. Das rechtmäßige Vorgehen, das offensichtliche Vorgehen — beispielsweise Wenzel festzusetzen — wäre im Augenblick nicht das Richtige, auch wenn ich es nicht näher erklären kann. Alles scheint im Fluss zu sein. Als würden die Götter selbst den Atem anhalten. Irgendetwas steht bevor.«

»Und was?«

»Wenn ich das wüsste, wenn ich das nur wüsste …« Ingrey hörte die wachsende Anspannung aus seiner Stimme heraus und verstummte abrupt.

»Pssst, ruhig«, beschwichtigte ihn Hallana, als würde sie ein nervöses Reittier beruhigen. »Vertraut Ihr mir zumindest insoweit, dass ich Vorsicht walten lassen kann, wenig sagen, zuhören und abwarten …«

»Könnt Ihr das?«

»Solange meine Götter mich nicht zu etwas anderem zwingen.«

»Eure Götter. Nicht Eure kirchlichen Vorgesetzten.«

»Ich habe es gesagt.«

Ingrey nickte und atmete tief durch. »Dann fragt Ijada. Sie ist die Einzige, der ich alles anvertraut habe, was ich bisher erfahren konnte. Alle anderen kennen nur Teile, Bruchstücke. Sie und ich sind in dieser Angelegenheit durch mehr als …«, seine Stimme geriet ins Stocken, »… Zuneigung verbunden. Wir hatten bereits zwei gemeinsame Visionen. Sie kann Euch mehr erzählen.«

»Gut. Ich werde sie so unauffällig aufsuchen, wie Ihr mir geraten habt.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob die Götter und ich dieselben Ziele verfolgen. Ich bin mir jedoch absolut sicher, dass die Götter und Wenzel nicht dieselben Ziele haben.« Er legte die Stirn in Falten. »Oswin sagte, Ihr wäret zersprungen. In Eurem Traum. Ich habe nicht verstanden, was er damit gemeint hat.«

»Wir ebenso wenig.«

»Würden die Götter uns für zerstörerische Zwecke benutzen?« Sie hatte ihre Kinder nicht mitgebracht — um der Geschwindigkeit oder um der Einfachheit willen? Oder wegen der Sicherheit? Der Kinder. Nicht ihrer.

»Kann sein.« Ihre Stimme war vollkommen ruhig.

»Ihr seid nicht sehr beruhigend, Hochwürden.«

Mancher hätte das Lächeln, mit dem sie ihn daraufhin bedachte, als geheimnisvoll bezeichnet. Doch Ingrey fand es eher bitter. Er erwiderte ihren Abschiedsgruß auf dieselbe Weise und blickte hinten aus dem Wagen, ob jemand sie beobachtete. Über die Schulter sagte er noch zu ihr: »Wenn Ihr gleich zu Lewko geht, findet Ihr dort vielleicht noch Euren Gatten vor. Und womöglich einen rothaarigen Inselbewohner, dessen Zunge wahlweise von üblem Gesöff oder den Segensküssen der Frühlingsherrin benetzt ist, oder von beidem.«

»Ah-ha!«, sagte Hallana und setzte sich in plötzlicher Begeisterung auf. »Das ist ein Teil meines Traumes, bei dem ich nichts dagegen hätte, wenn er sich als prophetisch erwiese. Ist er wirklich so goldig, wie er wirkte?«

»Ich … glaube nicht, dass ich dazu etwas sagen kann«, erwiderte Ingrey nach einem Augenblick der Verwirrung. Er schwang sich aus dem Wagen, schlüpfte an der Seite vorbei und nahm die Abkürzung durch die Gasse auf das Anwesen der Rossflutens zu.


Der Pförtner des Grafen ließ ihn ein, mit einem gemurmelten: »Meine Herrin und der Fürstmarschall erwarten Euch bereits im Birkensaal, Lord Ingrey.«

Ingrey nahm den Hinweis mit einem Nicken entgegen und stieg sofort die Treppen hinauf. Es war dasselbe Gemach wie das, in dem er am ersten Tag seines so genannten Dienstes Fara überrascht hatte. Vielleicht machten es die ruhigen Farben und die nüchterne Einrichtung zu einem ihrer bevorzugten Zufluchtsorte. Dort fand er die kleine Gesellschaft versammelt. Biast und Symark unterhielten sich bei einem Tablett mit Brot und Käse. Fara lag halb auf einem Kanapee, während eine ihrer Damen ihr ein feuchtes Tuch gegen die Stirn presste. Kühler Lavendelduft stand in der Luft.

Als Ingrey eintrat, fasste Fara sich wieder und setzte sich auf. Sie bedachte ihn mit einem besorgten Blick. Ihr Gesicht war bleich, die Haut um die Augen grau. Er erinnerte sich wieder an Ijadas Bericht, dass die Prinzessin zu Kopfschmerzen neigte.

»Lord Ingrey.« Biast bedeutete ihm liebenswürdig, Platz zu nehmen. »Der gelehrte Geistliche hat Euch lange aufgehalten.«

Ingrey ließ diese Bemerkung mit einem Nicken durchgehen. Er hatte keine Lust, etwas von Hallana zu erzählen.

Fara hatte nicht die Geduld für diplomatisches Vorgeplänkel. »Was hat er Euch gefragt? Hat er noch etwas über mich wissen wollen?«

»Er hat nichts mehr über Euch gefragt, Herrin, und auch nicht über die Geschehnisse auf Burg Keilerkopf«, versicherte Ingrey. In offensichtlicher Erleichterung lehnte Fara sich wieder zurück.

»Seine Fragen waren größtenteils …«, er zögerte, »theologischer Natur.«

Biast schien die Erleichterung seiner Schwester nicht zu teilen. In neuerlicher Besorgnis kniff er die Brauen zusammen. »Ging es um unseren Bruder?«

»Nur indirekt, Hoheit.« Es schien keinen Grund zu geben, mit Biast nicht offen über Oswins Fragen zu reden, obwohl Ingrey nicht sicher war, ob er jetzt schon seine anderen Verbindungen zu dem gelehrten Geistlichen enthüllen wollte. »Er wollte wissen, ob ich Lady Ijadas Seele von ihrem Leopardengeist befreien kann, wenn sie sterben sollte, wie ich es anscheinend für den verstorbenen Prinzen getan habe. Ich sagte, ich wüsste es nicht.«

Biast fuhr mit einem Stiefel über den Teppich, vor und zurück, blickte finster zu Boden, schien dabei auf die unwillkürliche Bewegung aufmerksam zu werden und hielt den Fuß still. Als er wieder aufblickte, klang seine Stimme ruhiger. »Habt Ihr tatsächlich den Gott gesehen? Von Angesicht zu Angesicht?«

»Er kam mir vor wie ein junger Edelmann auf der Jagd, von überwältigender Schönheit. Ich habe nicht den Eindruck gehabt …« Ingrey hielt inne; er wusste nicht recht, wie er es ausdrücken sollte. »Habt Ihr je gesehen, wie Kinder mit den Händen ein Schattenspiel auf einer Mauer ausführen? Der Schatten ist nicht die Hand, obwohl er von ihr hervorgerufen wird. Ich halte den jungen Mann, den ich gesehen habe, nur für den Schatten des Gottes, reduziert auf bloße Umrisse, die ich erfassen konnte … Umrisse, hinter denen sich unendlich viel mehr befand, das ich nicht sehen konnte, das aber nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem täuschenden Schatten gehabt hätte, wenn ich es hätte wahrnehmen können.«

»Hat Er Euch … irgendwelche Anleitungen für mich mitgegeben?« Biasts Tonfall zaghafter Hoffnung ließ diese Frage nicht überheblich klingen. Er schaute zu seiner aufmerksam zuhörenden Schwester hinüber. »Für irgendeinen von uns?«

»Nein, Hoheit. Habt Ihr denn das Gefühl, Ihr bräuchtet eine solche Anleitung?«

Biasts ließ ein freudloses Lachen vernehmen. »Vermutlich suche ich nach irgendeiner Sicherheit in einer unsicheren Zeit.«

»Dann sprecht Ihr mit dem falschen Krämer«, stellte Ingrey bitter fest. »Die Götter geben mir nichts als Andeutungen und Rätsel, die mich schier um den Verstand bringen. Was meine Vision angeht, wie ich es wohl nennen muss, so galt sie allein Bolesos Bestattung. In dieser Stunde besuchte der Gott nur seine Seele. Wenn unsere Stunde kommt, können wir auf dieselbe ungeteilte Aufmerksamkeit hoffen.«

Fara rieb mit der Hand über das Kleid an ihrem Oberschenkel in einer Anspannung, der ihres Bruders nicht unähnlich, und blickte auf. Die senkrechten Furchen zwischen ihren dichten Augenbrauen wurden tiefer, als sie über diesen düsteren Trost nachdachte, mit der Vorsicht eines gebrannten Kindes, das ein Feuer betrachtet.

»Ich habe gestern Abend eine ganze Weile mit dem Gelehrten Lewko gesprochen«, setzte Biast an und hielt wieder inne. Er schaute zu seiner Schwester hinüber. »Fara, du siehst wirklich nicht gut aus. Meinst du nicht, du solltest dich eine Weile hinlegen?«

Ihr Kammerfräulein nickte zustimmend. »Wir können auf Euren Gemächern die Vorhänge zuziehen, Herrin, und es ziemlich dunkel machen.«

»Das ist vielleicht besser.« Fara beugte sich vor und starrte eine Weile auf ihre Füße hinab, ehe sie sich zaghaft von ihrer Begleiterin hochziehen ließ. Auch Biast erhob sich.

Ingrey nutzte die Gelegenheit für ein wenig Höflichkeit, als Berechnung getarnt: »Tut mir Leid, dass Euch das so mitnimmt, Herrin. Aber wenn die Anhörung einen Akt der Selbstverteidigung ergibt, müsst Ihr Euch vielleicht nicht noch einmal derart bedrängen lassen.«

»Ich kann tun, was ich tun muss«, erwiderte sie kühl, wirkte aber so, als wäre es im Augenblick durchaus ein verlockender neuer Gedanke für sie, dass die Anklage fallen gelassen werden konnte. Sie bedachte ihn mit einem hinreichend höflichen Nicken, auch wenn sie gleich darauf die Hand gegen die Schläfe legen musste. Biasts Blick auf Ingrey war eher neugierig. Ingrey fragte sich, ob er doch noch einen Prozess von Ijada abwenden konnte, indem er zur rechten Zeit eine Bemerkung nach der anderen einflocht, wie Fäden in einem Netz, anstatt durch irgendeine plötzliche und spektakuläre Maßnahme. Wenn das so war, schön und gut. Die Ähnlichkeit zu Wenzels verwinkeltem Vorgehen entging ihm nicht.

Biast begleitete seine Schwester vor die Tür, überließ sie dort aber ihrer Kammerfrau. Kurz blickte er in beide Richtungen den Korridor entlang, ehe er in das Gemach zurücktrat und die Tür fest hinter sich schloss. Er musterte seinen Bannerträger Symark und dann Ingrey, als würde er irgendwelche Vergleiche anstellen. Ob es dabei allerdings um die körperliche Bedrohlichkeit oder persönliche Verschwiegenheit ging, konnte Ingrey nicht erraten. Symark war einige Jahre älter als sein Herr und ein gepriesener Schwertkämpfer. Vielleicht hielt Biast ihn für einen ausreichenden Schutz, sollte der Wolfsherr in Raserei verfallen und ihn angreifen. Oder er glaubte zumindest, dass Symark und Biast zusammen mit ihm fertig wurden. Ingrey legte keinen Wert darauf, den Fürstmarschall über diese beruhigende Fehleinschätzung aufzuklären.

»Wie ich gesagt habe, ich habe mich eine Weile mit Lewko unterhalten«, fuhr Biast fort. Er setzte sich wieder an das niedrige Tischchen mit dem Tablett und bedeutete Ingrey, dasselbe zu tun. Ingrey zog einen Stuhl heran und wartete aufmerksam ab. »Die Kirche des Bastards — und ich glaube, damit meinte Lewko sich selbst und eine Hand voll mächtiger Tempelzauberer — hat Cumril endlich genauer befragt.«

»Gut. Ich hoffe, sie haben ihm die Füße ins Feuer gehalten.«

»Etwas in der Art. Wie ich hörte, haben sie es nicht gewagt, ihn zu sehr unter Druck zu setzen, damit sein Dämon nicht wieder die Oberhand gewinnt. Allein die Furcht davor, so versicherte mir Lewko, war für Cumril ein größerer Ansporn als jede Drohung, die seine Befrager gegen den Körper ausüben konnten.« Er runzelte zweifelnd die Stirn.

»Das kann ich verstehen.«

»Vielleicht.« Biast lehnte sich zurück. »Mich hat viel mehr Cumrils Beteuerung erschreckt, dass mein Bruder tatsächlich meine Ermordung plante, wie Ihr bereits vermutet hattet. Woher wusstet Ihr das?«

Deshalb also hatte er Fara zum Gehen gedrängt, damit er frei über diese schmerzhaften Angelegenheiten reden konnte. Ingrey zuckte die Achseln. »Ich bin kein Hellseher. Wenn jemand die Krone des Geheiligten Königs erstrebt und dabei eine geringere Anhängerschaft hat, als Ihr bereits hinter Euch versammeln konntet, wäre das ein folgerichtiger Schritt.«

»Ja, aber mein eigener …« Biast unterbrach sich und biss sich auf die Lippe.

Ingrey nutzte die Gelegenheit, einen weiteren Faden einzuflechten. »Dann hat es ja den Anschein, als hätte Lady Ijada nicht nur ihr eigenes, sondern auch Euer Leben gerettet. Und die Seele Eures Bruders vor einer größeren Sünde und einem schweren Verbrechen bewahrt. Oder Euer Gott hat es durch sie getan.«

Biast schwieg eine Weile und dachte voll Unbehagen über diesen Einwand nach. Schließlich sagte er: »Ich weiß nicht, womit ich mir den Hass meines Bruders zugezogen habe.«

»Ich vermute, dass sein Verstand am Ende vollkommen aus den Fugen geraten ist. Bolesos wahnwitzige Phantastereien scheinen mir der Ansporn für sein Verhalten zu sein.«

»Ich habe nicht erkannt, dass er so … verirrt war. Nach diesem ersten schrecklichen Zwischenfall mit dem Diener habe ich meinem Vater geschrieben, dass ich nach Hause kommen würde. Er aber schickte mir die Antwort, ich solle auf meinem Posten bleiben. Der Niederwurf einer aufsässigen, aber schlecht ausgestatteten Grenzfestung und einiger Räuberbanden scheinen mir nun eine weit weniger wichtige Lehre zu sein als das, was ich in derselben Zeit an Erfahrungen in Ostheim hätte sammeln können. Ich nehme an, mein Vater wollte mich aus dem Skandal heraushalten.«

Oder ihn womöglich vor schlimmeren und weniger offensichtlichen Dingen beschützen? Oder waren Einflüsterungen von ganz anderer Seite dafür verantwortlich, dass Biast während dieser Krise an der Grenze und aus dem Verkehr gezogen blieb? War auch hier irgendwo der Abdruck von Rossflutens Hufen zu finden?

Biast seufzte. »Ich hatte erwartet, die Krone aus den Händen meines Vaters noch zu Lebzeiten zu empfangen, wenn die Zeit gekommen ist, wie jeder andere Hirschendorn-König vor mir. Die Wahl und Krönung meines älteren Bruders Byza hatte er schon vor drei Jahren geplant, vor Byzas vorzeitigem Tod. Jetzt muss ich mit meinen eigenen Händen zupacken oder die Krone fallen lassen.«

»Byza starb an einer plötzlichen Krankheit, nicht wahr?« Ingrey war zu diesem Zeitpunkt nicht in Ostheim gewesen, sondern auf einem frühen Botengang für Hetwar zu den unteren Häfen unterwegs, und er hatte die königliche Bestattung versäumt. Biast hatte das Banner des Fürstmarschalls, das vor ihm seinem Bruder gehört hatte, nur wenige Wochen später empfangen. Hatte dieser Präzedenzfall bei Boleso allzu ungesunde Grübeleien ausgelöst?

»Wundstarrkrampf.« Biast erschauderte bei der Erinnerung. »Ich war zu dieser Zeit in Byzas Tross bei seinem Schiffslager in der Nähe von Remshaven. Er bereitete neue Schiffe für Manöver vor. Mehrere Männer wurden befallen. Die fünf Götter mögen mir ein solches Schicksal ersparen. Ich habe seitdem eine Abneigung gegen Sterbebetten. Wenn ich nur daran denke, dass ich bald an ein weiteres treten muss … Ich bete fünfmal am Tag für die Genesung meines Vaters.«

Ingrey hatte den sterbenden Geheiligten König vor einigen Wochen das letzte Mal persönlich gesehen, unmittelbar vor seinem Schlaganfall. Damals schon hatte er eine gelbliche Hautfarbe gehabt, einen aufgetriebenen Leib und eingefallene Wangen. Seine Bewegungen waren schwerfällig gewesen, seine Stimme leise und undeutlich. »Ich glaube, wir müssen für ihn nun andere Gnaden erbitten.«

Biast blickte beiseite, widersprach aber nicht. »Die Anschuldigung gegen Boleso, wenn es nicht nur eine Verleumdung von Cumril ist, lässt mich daran zweifeln, wem ich noch trauen kann.« Sein Blick, der zu Ingrey zurückkehrte, ließ in diesem ein eigenartiges Gefühl aufsteigen.

»Jedem, so weit es ihm gebührt.«

»Dies setzt aber die Fähigkeit voraus, Menschen richtig einzuschätzen, und damit wären wir wieder am Anfang. Habt Ihr schon die Einschätzung meines Schwagers abgeschlossen?«

»Nicht vollständig.«

»Ist er eine Gefahr wie Boleso?«

»Er ist … schlauer.« Und das galt auch für Biast, davon war Ingrey allmählich überzeugt. »Ohne jemanden kränken zu wollen«, fügte er in einem verspäteten Versuch der Höflichkeit hinzu.

Biast verzog das Gesicht. »Zumindest kann man wohl davon ausgehen, dass er nicht so verrückt ist.«

Schweigen.

»Darauf kann man sich doch verlassen, oder?«

»Ich verlasse mich auf niemanden«, wich Ingrey der Frage aus.

»Nicht einmal auf die Götter?«

»Auf die am wenigsten.«

»Hm.« Biast rieb sich den Nacken. »Nun, unter den gegebenen Umständen bereitet mir die anstehende Königswürde wenig Freude. Aber ich bin auch nicht bereit, sie über meine Leiche hinweg in die Hände von Ungeheuern fallen zu lassen.«

»Gut, Hoheit«, meinte Ingrey. »Das ist doch schon mal eine Richtschnur.«

Symark hatte dem Wortwechsel mit verschränkten Armen zugehört. Nun erhob er sich und ging zum Fenster hinüber, anscheinend um den Stand der Sonne zu prüfen, denn er wandte sich um und bedachte seinen Herrn mit einem fragenden Blick. Biast antwortete mit einem Nicken und stand mit einem müden Ächzer auf. Ingrey erhob sich ebenfalls.

Biast fuhr sich mit der Hand durchs Haar, in einer Geste, die er mit ziemlicher Sicherheit von Hetwar abgeschaut oder aufgeschnappt hatte. »Habt Ihr heute sonst noch einen Rat für mich, Lord Ingrey?«

Ingrey war nur ein oder zwei Jahre älter als Biast. Das konnte also nicht der Grund sein, warum der Prinz seinem Rat eine besondere Bedeutung zumaß. »In allen Fragen der Politik seid Ihr von Hetwar besser beraten, Hoheit.«

»Und in anderen Fragen?«

Ingrey zögerte. »Was politische Fragen der Kirche angeht, ist Fritine am besten informiert; aber behaltet im Auge, dass er stets auch im Sinne seiner Familie urteilt. Für … äh, angewandte Theologie solltet Ihr Lewko aufsuchen.«

Biast schien einen Augenblick über die beunruhigenden Implikationen dieses angewandt nachzugrübeln. »Warum?«

Ingrey streckte die Finger aus und tippte dann damit auf den Daumenballen. »Weil der Daumen alle vier anderen Finger berührt.« Diese Worte schienen aus dem Nichts über seine Lippen zu kommen und ließen ihn beinahe erschrocken zurückzucken.

Biast bedachte Ingrey mit einem seltsamen Blick und ballte unbewusst die Hand. »Das werde ich im Gedächtnis behalten. Passt auf meine Schwester auf.«

»Ich werde mein Bestes tun, Hoheit.«

Biast nickte ihm zu, bedeutete Symark, voranzugehen, und trat hinter ihm aus dem Gemach.


Ingrey erkundete das Anwesen und stellte fest, dass Fara sich wie erwartet in die Obhut ihrer Damen auf ihre Gemächer zurückgezogen hatte. Der Graf war fortgegangen und weilte im Palast des Geheiligten Königs. Was führte Wenzel dorthin und fesselte ihn mehr als die erwarteten Neuigkeiten von der Anhörung? Dass er seine Frau nicht in den Gerichtssaal begleitet hatte, war wenig überraschend: Wenzel mied den Tempelberg unauffällig, so beiläufig und gewohnheitsmäßig, dass niemand Verdacht schöpfte. Doch was für eine Gefahr der Graf auch darstellen mochte, er hatte vorher schon wochenlang am Bett seines kranken Schwiegervaters gewacht, ohne dass Ingrey ihn beaufsichtigt hatte. Ingrey zögerte, ihm dorthin zu folgen. Noch.

Die Lage schien eher Klugheit zu erfordern als einen kräftigen Schwertarm, doch wenn der Körper vernachlässigt wird, erlahmt auch der Geist. Daher begab Ingrey sich in die gräfliche Küche und organisierte eine Mahlzeit. Diese wurde ihm angerichtet — zusammen mit gewissen, versteckt vorgebrachten Beschwerden, woraufhin Ingrey erst einmal Tesko aufspürte und ihn nötigte, den Küchenknechten das Geld zurückzugeben, das er durch Betrügereien beim Würfelspiel gewonnen hatte. Nachdem sein Bursche gerade zeitweilig eingeschüchtert war, ließ Ingrey ihn auch die Nähte auf der Kopfhaut auftrennen und herausziehen, und anschließend die Schwerthand neu verbinden. Der lange, ausgefranste Riss in der verfärbten Haut schien sich fast geschlossen zu haben, war aber immer noch empfindlich. Ingrey drückte behutsam gegen den Verband, nachdem Tesko fertig war. Das hätte inzwischen schon verheilt sein sollen.

Eine herbstliche Abenddämmerung kroch durch die Fensteröffnung, während Ingrey auf seinem neuen Bett saß und nachdachte. Der bevorstehende Trauerfall der Prinzessin beschnitt jene Art des gesellschaftlichen Lebens, die Hetwars Palast zur Abendstunde erfüllt hatte und oftmals Ingreys Dienste als Eskorte für den Herrn oder die Herrin erforderte. Wenn der Graf von Rossfluten beschloss, ihn mit irgendeinem ungelegenen Botenauftrag fortzuschicken, wie konnte er dann noch dem prinzlichen Auftrag nachkommen, Fara zu beschützen, oder seiner selbstgewählten Aufgabe, Ijada zu retten? Konnte er einen von Hetwars Männern reiten lassen und selbst in Ostheim bleiben, um verstohlen zu spionieren? Ein solches Unternehmen schien voller möglicherweise verhängnisvoller Komplikationen zu stecken. Vor den Augen der Öffentlichkeit war Ingrey dem Grafen gegenüber zum Gehorsam verpflichtet, und das empfand er als eine Fallgrube, in die er jederzeit zu stolpern drohte. Er war nicht sicher, ob Hetwar die Sache sorgfältig genug durchdacht hatte.

Konnte er sich Rossfluten widersetzen? Anscheinend war jeder von ihnen mit vergleichbaren Kräften ausgestattet. Rossfluten war ungleich geübter, aber war er auch stärker? Und was bedeutete Stärke überhaupt, an jenem grenzenlosen spirituellen Ort, wo seine Visionen Gestalt annahmen?

Und wie übte man so etwas, und woran? Die Raserei, die Ingrey im Kampf erfasste, konnte nicht geübt werden. Sie kam nur, wenn sie nötig war, in einem Kampf auf Leben und Tod. Und die Zauberstimme — konnte man ihrem Einfluss widerstehen? Sich ihm entziehen? Ihn brechen? Klang er im Laufe der Zeit ab, wie Hallanas Dämonenmagie bei dem zum Schwein gewordenen Mann? Ingrey konnte sich nicht vorstellen, dass er leicht Freiwillige finden würde, um an ihnen seine Fähigkeiten zu erproben. Unvermittelt fiel ihm ein, dass Hallana eine solche Probe vermutlich begeistert befürworten würde, und Oswin würde sich dabei sorgfältig seine Notizen machen. Diese Vorstellung ließ ihn unwillkürlich lächeln.

Wie alt ist mein Wolf? Diese Frage beschäftigte ihn. Behutsam lenkte er seine Aufmerksamkeit nach innen, und wieder einmal fühlte es sich an, als versuche er, die eigenen Augen zu sehen. Die angesammelten Wolfsseelen mischten sich zu einer untrennbaren Einheit, als wären ihre Grenzen irgendwie durchlässig geworden. Wölfe wurden zu einem Wolf, auf eine Weise, die Graf Rossflutens Seelen auf ihrem gewaltsamen, kannibalistischen Marsch durch die Generationen seiner Abkömmlinge nicht erreicht hatten. Ingrey durchkämmte die lückenhaften Wolfserinnerungen, die er nacherlebt hatte, sowohl im ersten, furchtbaren Akt der Initiation wie auch in späteren Träumen. Die Perspektive war eigenartig, und an Gerüche schien er sich besser erinnern zu können als an das, was er gesehen hatte. Ein heruntergekommenes Dorf der Gegenwart war kaum von einer Stadt der alten Waldlande zu unterscheiden.

Aber plötzlich stieg eine sehr charakteristische Erinnerung an die Oberfläche, wie er mit Wolfswelpenzähnen an einem Stück gehärtetem Leder kaute, einem Brustharnisch, der beinahe größer war als er selbst. Die Bestrafung, nachdem er erwischt wurde, verringerte nicht die Befriedigung in seinem wunden Maul. Die Rüstung war noch ziemlich neu gewesen, in einen Winkel einer dämmrigen, rauchgeschwängerten Halle geschleppt. Die Machart war eindeutig zuzuordnen, die Verzierung auf der Brust noch deutlicher: Der Umriss eines Wolfskopfes mit weit aufgerissenen Kiefern, der mit glühendem Eisen dem Leder eingebrannt worden war. Mein Wolf ist so alt wie das alte Weald und noch ein bisschen älter.

So alt wie Wenzels Pferd? In gewisser Hinsicht sicher älter, denn sein Wolf war unterwegs gewesen, viele Male wiedergeboren, vierhundert Jahre lang bis zu seiner blutigen Ernte. Ein Teil dieser Zeit hatte sich hoch in den Bergen der Kantone abgespielt, den Erinnerungsbildern an verschneite Gipfel nach zu urteilen, die in seinem Geist fortlebten. Eine lange, glückliche Zeitspanne, mehrere gezähmte Wolfsleben in einem kleinen Weiler in einem vergessenen Tal, wo die Jahreszeiten und Generationen in langsamem Wechsel aufeinander folgten. Ein unglücklicher Zufall hätte diese Anhäufung von Wolfsseelen unterbrechen können, und doch war das nicht geschehen. Das legte nahe, dass jemand mit einer langen, langen Aufmerksamkeitsspanne diese Zufälle beeinflusst haben könnte. Beeinflusst haben musste, berichtigte er sich freudlos.

Wenn er dem Gott jemals wieder begegnete, konnte er ihn fragen, nahm Ingrey an. Ich könnte ihn jetzt fragen. Ich könnte beten. Aber er verspürte nicht das mindeste Bedürfnis. Ein Gebet wirkte ungefähr so verlockend auf ihn wie der Gedanke, die Hand ins Heilige Herdfeuer auf dem Sockel im Tempel zu stoßen und sie dort zu belassen. Das Gespräch mit den Göttern war sehr viel beruhigender gewesen, als er nicht mit einer Antwort hatte rechnen müssen.

Er legte sich auf den Rücken und suchte in seinem Innern nach der mühlbachartigen Verbindung zu Ijada. Deren ruhiges Fließen beruhigte ihn sofort. Sie litt zurzeit nicht unter Schmerzen und war auch nicht übermäßig erschöpft, abgesehen von einem zunehmenden Gefühl der Langeweile. Daraus folgte jedoch nicht, dass sie in Sicherheit war: Die äußerliche Behaglichkeit des schmalen Hauses konnte täuschen. Rossfluten hatte diese Verbindung als ungewolltes Überbleibsel seines mordlüsternen Bannes bezeichnet, und das mochte wohl sein. Kam es nicht von Zeit zu Zeit vor, dass man aus etwas Bösem noch etwas Gutes gewinnen konnte? Er musste einen Weg finden, sie wiederzusehen, insgeheim und bald. Und mit ihr zu reden. Konnte dieser verborgene Sinn füreinander auch für deutlichere Botschaften genutzt werden? Ein Zupfen für ja, zwei Zupfen für nein. Nun, so vielleicht nicht, aber irgendwie musste es gehen.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach sein Grübeln. Ein Page bestellte ihn zum Grafen. Ingrey legte die Waffen an, hob den langen Parademantel auf und begab sich zur Eingangshalle, wo er Rossfluten vorfand. Dieser konnte erst vor kurzem zurückgekehrt sein, bereitete sich aber bereits wieder zum Aufbruch vor.

Mit einigen geflüsterten Befehlen entließ der Graf einen besorgten Pferdeknecht und begrüßte Ingrey dann mit einem höflichen Nicken.

»Wohin des Weges, Herr?«

»Zur Halle des Geheiligten Königs.«

»Seid Ihr nicht gerade erst von dort gekommen?«

Wenzel nickte. »Es ist beinahe so weit. Ich glaube, der König wird diese Nacht nicht überleben. Seine Haut hat bereits diesen gewissen, wächsernen Schimmer angenommen«, Wenzel fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht, »der ein verlässlicher Bote für diese Art des Todes ist.«

Und Rossfluten sollte es wissen. Von beiden Seiten, wie Ingrey bemerkte. Kurz waren sie allein in der Halle, die Diener waren fortgeschickt worden, um Fara herbeizuholen. Ingrey senkte die Stimme. »Muss ich annehmen, dass Ihr in einen Mordanschlag mit übernatürlichen Mitteln verwickelt seid?«

Wenzel schüttelte den Kopf; er war anscheinend nicht im mindesten von diesem Verdacht gekränkt. »Sein Tod kommt auch, ohne dass irgendein Mensch nachhelfen müsste. Es gab mal eine Zeit — es ist sehr, sehr lange her —, da hätte ich womöglich versucht, ihn zu beschleunigen. Oder, mit noch geringerem Nutzen, ihn zu verzögern. Jetzt warte ich bloß ab. Nur ein kurzes Flimmern von Tagen, und es ist vorüber.« Er atmete langsam aus.

Der Tod, ein alter Vertrauter, beunruhigte Wenzel nicht, und doch kam Ingrey sein müder Gleichmut wie eine Maske vor. Rossfluten war angespannt in einer versteckten Erwartung, die nur dann kaum wahrnehmbar zum Vorschein kam, wenn er immer wieder auf der Treppe nach Fara Ausschau hielt. Endlich kam die Prinzessin herab: blass, kühl, in Schwarz gekleidet.

Ingrey trug eine Laterne und führte sie durch die dunkel werdenden Straßen der Königsstadt. Ihm fiel auf, dass er der einzige Gefolgsmann war, der zu dieser Pflicht abgestellt war. Die abendliche Luft war kalt und feucht; noch vor Mitternacht würden die Pflastersteine schlüpfrig vor Tau sein. Doch über ihnen schimmerten die ersten Sterne an einem wolkenlosen Himmel. Wenzel geleitete seine Frau am Arm, mit der makellosen, kühlen Höflichkeit, die ihm eine einstudierte Gewohnheit war. Ingrey ließ seine Sinne wandern, all seine Sinne, und fand doch keine neue Drohung in den Schatten lauern. Natürlich nicht. Wir sind die Bedrohung, Wenzel und ich.

Fackeln in Wandhaltern tauchten den Eingang zur Halle des Geheiligten Königs in ein unruhiges Licht. Nur der Name erinnerte noch an die Holzbauweise des Alten Weald, an Balken mit Strohdach. Heute war die Halle ein steinerner Palast wie jedes andere fürstliche Anwesen in Ostheim, das während der späten Tage darthacischer Herrlichkeit errichtet worden war. Wachsoldaten öffneten eilig die großen, schmiedeeisernen Torflügel und verbeugten sich ängstlich vor der Prinzessin und ihrem Gemahl. Die Posten wirkten ein wenig eingeschüchtert von der Tatsache, dass ihre Spieße und Klingen ihren Herrn doch nicht vor dem beschützen konnten, was ihn heute Nacht heimsuchte. So weit sie auch noch von den königlichen Gemächern entfernt waren, blieben die Stimmen der Diener doch gedämpft und bebend, während sie die Gruppe durch die düsteren und muffigen Räumlichkeiten geleiteten.

Vor ihnen fiel ein Licht in den Flur und spiegelte sich auf den polierten Dielenbrettern. Ingrey atmete tief durch und wandte sich dann um, um dem Grafen und der Prinzessin in das Gemach dahinter zu folgen.

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