Kapitel Drei

Als sie wieder den Wagen erreichten, der am gegenüberliegenden Ufer auf sie wartete, war die Sonne bereits hinter den Baumwipfeln verschwunden. Im Licht der letzten, orangeroten Strahlen, die beinahe waagerecht zwischen den Zweigen einfielen, schlüpften Ingrey und seine Gefangene wieder in trockene Sachen und stiegen auf ihre Pferde, die man in der Zwischenzeit eingefangen hatte. Ingreys Kopf war notdürftig verbunden und pochte unter den darumgewickelten Stofffetzen. Seine Schulter wurde steif, aber er wollte nicht einmal über die Möglichkeit nachdenken, oben auf dem Wagen mitzufahren und auf Bolesos Sarg zu sitzen. Der Leichenzug stieg aus dem bewaldeten Tal empor und bewegte sich durch die zunehmende Dämmerung.

Von den Feldern und Wassergräben rings um sie erhob sich ein feuchter Dunst. Gerade wollte Ingrey die vordersten Reiter anweisen, Fackeln zu entzünden und den Weg zu beleuchten, da wurde auf der Straße vor ihnen ein fernes Leuchten sichtbar und zog sich schon bald zu einer langen Reihe munter dreinhüpfender Laternen auseinander. Kurz darauf ließ sich ein besorgtes »Hallo?« über verhaltenem Hufschlag vernehmen, und der Mann, den Ingrey am Morgen vorgeschickt hatte, um in Riedenswooge für Quartiere zu sorgen, löste sich aus der Gruppe der Neuankömmlinge und begrüßte ihn. Er hatte nicht nur Tempeldiener mit Lichtern mitgebracht, sondern auch ein frisches Gespann Pferde, fertig im Geschirr, mitsamt einem Stellmacher und entsprechenden Werkzeugen.

Ingrey sprach dem umsichtigen Krieger ein Lob aus, das aufrichtig von Herzen kam; kurze Zeit später setzte der Zug sich mit deutlich gesteigerter Geschwindigkeit wieder in Bewegung. Nach einigen Meilen sahen sie die Lichter von Riedenswooge vor sich, die über die Mauerkronen schimmerten und ihnen den Weg zu dem für sie offen gehaltenen Stadttor wiesen.

Riedenswooge war kein Dorf, sondern eine Stadt mit mehreren tausend Einwohnern und das Verwaltungszentrum eines Kirchenbezirks. Der Tempel am Markt war zwar groß, aber immer noch von einem sehr ländlichen Stil geprägt: eine fünfseitige hölzerne Halle, die innen wie außen mit kunstvoll verflochtenem Schnitzwerk verziert war, mit Pflanzen und Tieren und Szenen aus dem Leben von Heiligen. Das Dach war mit Holzschindeln gedeckt und wirkte neu — ohne Zweifel hatte es erst vor kurzem ein schlichteres Strohdach ersetzt. In jedem Fall aber war das Bauwerk mehr als ausreichend, um eine Nacht lang als Lagerhalle für Bolesos Sarg zu dienen.

Der amtierende Dechant von Riedenswooge eilte besorgt herbei, in Begleitung der meisten Mitglieder seines bürgerlichen Stadtrats, um die Aufbahrung des Sarges persönlich zu überwachen und mit Gebeten zu begleiten. Ein Haufen neugieriger Städter hatte sich dem Anlass entsprechend in festliche Gewänder gekleidet und gab einen recht passablen Chor zu seiner Begleitung ab. Einige der höher gestellten Bürger waren angetreten, um dem Sarg ihre Ehrerbietung zu erweisen. Ingrey bemerkte eine leichte Enttäuschung unter den Versammelten angesichts der Tatsache, dass der Sarg verschlossen war. Er nutzte seinen Verband als Entschuldigung und entfernte sich von den Feierlichkeiten.

Die Nebengebäude des Tempels bestanden in der Hauptsache aus schlichten Stadthäusern, die irgendwann einmal einer neuen Bestimmung zugeführt worden waren. Der Sitz des Dechanten teilte sich ein Gebäude mit der Notariatskanzlei des Kirchenbezirks. Bibliothek und Schreibstube befanden sich unter einem Dach mit der städtischen Mädchenschule, die von der Kirche der Frühlingstochter geführt wurde. Das Siechenhaus der Mutter war in den Hinterzimmern der städtischen Apotheke untergebracht.

Unter Ingreys Aufsicht wurde die Gefangene in die Obhut einer streng dreinblickenden Tempeldienerin übergeben; dann reichte er dem Stellmacher einige Münzen für seine Dienste. Er versicherte sich, dass Ställe für die Pferde bereitstanden und Quartiere für seine Männer, er bezahlte den Freisassen, der den Wagen gelenkt hatte, und seine Frau, und er besorgte auch den beiden und ihren Pferden eine Unterkunft für die Nacht. Als das alles getan war, begab er sich zu den Heilern und ließ sich die Kopfwunde nähen.

Zu seiner Erleichterung stellte Ingrey fest, dass die Heilkundige der Mutter in Riedenswooge nicht nur eine einfache Näherin oder Hebamme war: Sie trug auf der Schulter ihrer grünen Robe die Tresse einer ausgebildeten Schwester. Mit zielstrebiger Effizienz entzündete sie die Kerzen, wusch ihm den Kopf mit einer starken Seife und vernähte die Kopfhaut.

Ingrey saß auf ihrer Bank, starrte auf die Knie hinab und versuchte, unter den Stichen der Nadel und dem Zug des Garns nicht allzu sehr zusammenzuzucken. »Sagt mir«, meinte er, »gibt es irgendwelche Tempelzauberer in Riedenswooge? Oder Heilige? Oder mindere Heilige? Oder … oder auch nur irgendwelche Gelehrte?«

Sie lachte. »Aber doch nicht hier, Herr! Vor drei Jahren brachte ein kirchlicher Ermittler mal einen Zauberer hierher. Man hatte eine Frau aus der Gegend wegen dämonischer Magie angeklagt, aber der Ermittler fand keine Hinweise. Er hat den Klagestellern danach sehr deutlich die Meinung gesagt und ihnen die Reisekosten auferlegt. Ich muss sagen, der Zauberer war gar nicht so, wie ich mir einen solchen Mann vorgestellt hätte. Ein ältlicher und mürrischer Bursche im Weiß des Bastards — er wirkte nicht sonderlich angetan davon, dass man ihn im Winter hier hinaus aufs Land zitiert hatte. An meiner früheren Schule gab es auch einen minderen Heiligen der Mutter …« Sie seufzte bei der Erinnerung. »Ich wünschte, ich würde auch nur halb so viel von der Heilkunst verstehen wie er, mal ganz abgesehen von den weiteren Fähigkeiten, die ihm die Göttin verliehen hat. Was Gelehrte betrifft, so ist Maraya wohl das Beste, das wir zu bieten haben — abgesehen vielleicht vom Dechanten selbst. Sie leitet die Mädchenschule.«

Ingrey war enttäuscht, aber nicht überrascht. Aber ob Zauberer oder Heiligen oder wen auch immer — er musste jemanden finden, der mit der Gabe des zweiten Gesichts gesegnet war und Lady Ijadas beunruhigende Behauptungen bestätigen oder widerlegen konnte. Und zwar bald.

»So«, stellte die Schwester mit einer gewissen Befriedigung fest und zupfte ein wenig an ihrem letzten Knoten. Ingrey biss die Zähne zusammen und ächzte nur leise. Das Schnippen einer Schere zeigte an, dass sein kleines Martyrium vorüber war, und mit einiger Mühe richtete er sich wieder auf.

An der Hintertür wurden Schritte und Stimmen laut, und die Schwester blickte sich um. Zwei Tempeldienerinnen, einer der Ratsherren, Lady Ijada und Ritter Gesca marschierten herein. Die Diener trugen große Stapel mit Bettzeug.

»Was soll das denn bedeuten?«, fragte die heilkundige Schwester mit einem misstrauischen Blick auf Lady Ijada.

»Wenn Ihr gestattet, Schwester«, erklärte der Ratsherr, »soll diese Frau heute Nacht hier untergebracht werden, da Ihr zurzeit ja keine Kranken beherbergt. Ihre Zofen und Aufpasserinnen werden im selben Gemach mit ihr schlafen, und ich nächtige im Vorraum vor der Tür. Dieser Mann hier«, er wies auf Ingreys Truppführer, »wird eine Wache abstellen, die in der Nacht von Zeit zu Zeit nach dem Rechten sieht.«

Die Schwester wirkte nicht sonderlich erbaut von diesen Aussichten. Die Ijada zugewiesenen Dienerinnen wirkten regelrecht verbissen.

Ingrey schaute sich um. Die Räumlichkeiten waren sauber genug, das gewiss, aber … »Hier?«

Lady Ijada lupfte ironisch die Augenbrauen. »Eurem Befehl nach soll ich nicht im Verlies verwahrt werden, wofür ich Euch sehr dankbar bin. Das Gästezimmer des Dechanten ist für Euch reserviert. Das Gasthaus ist voll mit Euren Männern und der Tempel angefüllt mit Bolesos Gefolge, die ihre Totenwache wohl eher durchschlafen als halten, würde ich sagen. Obwohl man bei einigen wohl eher von durchtrinken reden könnte. Aus irgendwelchen Gründen hat sich keine der ehrbaren Frauen von Riedenswooge bereit erklärt, mir Unterkunft zu gewähren. So bin ich also auf die Gastfreundschaft der Göttin angewiesen.« Ihr Lächeln wirkte wie eingefroren.

»Oh«, bemerkte Ingrey nach einem kurzen, nachdenklichen Augenblick. »Ich verstehe.«

Die Menschen hier kannten Boleso nicht. Für sie war er allenfalls in Gerüchten lebendig gewesen, ein strahlender Märchenprinz. Ijada musste ihnen … kaum wie eine Heldin vorkommen. Sie galt nicht nur selbst als gefährliche Mörderin, sondern ließ den Schatten eines Verrats auch auf jeden fallen, der ihr offen Hilfe zuteil werden ließ. Und das wird noch schlimmer werden, je näher wir an Ostheim herankommen.

Da Ingrey auch keine bessere Lösung anzubieten hatte, konnte er sich nur mit einem verlegenen Nicken von Ijada verabschieden. Die heilkundige Schwester geleitete ihn zur Tür.

»Und jetzt schlaft aber, Herr«, merkte sie noch an. Sie stellte sich auf Zehenspitzen, um einen letzten Blick auf ihre Arbeit werfen zu können, was ihre getrübte Laune offenbar wieder besser werden ließ. »Nach diesem Schlag auf den Kopf solltet Ihr lieber ein oder zwei Tage das Bett hüten.«

»Das werden meine Pflichten leider nicht zulassen.« Er verbeugte sich steif und ging über den Platz davon, um zumindest die erste Hälfte ihres Rates zu befolgen.

Der Dechant, nachdem er seine Gebete für Prinz Boleso abgeschlossen hatte, wartete schon auf ihn. Der Mann wollte über das weitere Zeremoniell mit ihm sprechen und anschließend die jüngsten Neuigkeiten aus der Hauptstadt erfahren. Er machte sich Sorgen wegen der schweren Krankheit des Geheiligten Königs. Ingrey, der selbst schon seit vier Tagen nichts Neues mehr mitbekommen hatte, entschied sich, beruhigend aufzutreten, in seinen Äußerungen jedoch vage zu bleiben.

Ingrey schätzte den Dechanten als einen eher bodenständigen Mann ein; einen aufrechten Hirten seiner Gläubigen und das Rückgrat dieses ländlichen Tempelbezirks. Aber er wirkte weder gelehrt noch scharfsinnig. Kein Mann, dem man Lady Ijadas derzeitige spirituelle Befindlichkeit anvertrauen konnte.

Oder die meine. Ingrey betraute den Geistlichen stattdessen mit den praktischen Fragen ihrer morgigen Abreise, entschuldigte sich mit einem Hinweis auf seine Verletzungen und floh in seine Schlafkammer.

Diese war klein, lag aber segensreicherweise ruhig und abgeschieden im Obergeschoss. Ingrey öffnete das Fenster und ließ die kühle Nachtluft gerade lange genug herein, um einen Blick auf die trüben Öllampen zu werfen, die auf einem eisernen Gestell unter ihm brannten und den düsteren Platz erhellten; dann blickte er zu den Sternen, die über ihm sehr viel strahlender glänzten. Schließlich zog er das Nachthemd an, das der Dechant für ihn hatte bereitlegen lassen. Behutsam ließ er den Kopf aufs Kissen sinken. Trotz seiner Schmerzen und aller drückenden Sorgen kam der Schlaf rasch.


Ingrey träumte von Wölfen.

Er hätte erwartet, dass die finsterste Stunde um Mitternacht die rechte Zeit für ein solches Ritual wäre, doch es war gerade Nachmittag, als sein Vater ihn in den Rittersaal der Burg bestellte. Trübes Licht sickerte durch die Fensterschlitze, die auf den plätschernden Birkbach hinausgingen, der 60 Fuß unter ihnen dahinfloss. Bienenwachskerzen brannten in den Wandleuchtern; ihr warmer, goldgelber Glanz vermischte sich mit dem grauen Tageslicht.

Lord Ingalef von Wolfengrund wirkte ganz ruhig, wenn auch beladen von der Anspannung, die ihn seit einiger Zeit umtrieb. Er begrüßte seinen Sohn mit einem beruhigenden Nicken und einem kurzen Lächeln, wie man es in letzter Zeit selten bei ihm gesehen hatte. Der junge Ingrey war aufgeregt, und die Angst schnürte ihm beinahe die Kehle zu. Der Tempelzauberer Cumril war ihm erst am gestrigen Abend vorgestellt worden. Jetzt stand er da, nackt bis auf einen Lendenschurz und die bloße Haut mit altertümlichen Symbolen beschmiert. Damals hatte Ingrey den Zauberer für alt gehalten, doch im Traum erkannte er, dass Cumril in Wahrheit noch ein junger Mann gewesen war.

Mit dem Wissen um das Kommende, das sein Albtraum ihm verlieh, versuchte Ingrey, das Gesicht des Zauberers zu lesen: Plante er den kommenden Verrat? Oder war er einfach nur überfordert? Die Sorge in seinen Augen konnte sowohl das eine wie auch das andere andeuten, sogar beides zugleich.

Dann nahmen die Tiere die Aufmerksamkeit des jungen Ingrey gefangen, die schönen, gefährlichen Tiere, und er konnte danach kaum noch auf etwas anderes achten. Der grauhaarige Jäger, der sich um sie kümmerte, würde drei Tage nach Ingreys Vater ebenfalls an Tollwut zugrunde gehen.

Der alte Wolf war riesig, wild und stark. Muskeln spielten unter seinem dichten, grauen Fell, das von alten Narben und frischeren Verletzungen gezeichnet war. An einigen Stellen war sein Pelz noch blutverkrustet. Das Tier war unruhig. Es winselte und sträubte sich gegen die Leine des Jägers.

Es hatte Fieber, doch das wusste zu diesem Zeitpunkt keiner der Menschen. In ein paar Tagen hätte der Wolf schaumigen Speichel auf den Lefzen gehabt, und seine Krankheit wäre unübersehbar gewesen, doch im Augenblick war nur sein Unbehagen spürbar. Der alte Wolf versuchte, sich zu lecken, doch die Lederriemen um seine Schnauze behinderten ihn. Er knurrte dumpf unter seinen Fesseln.

Der junge Wolf war kaum mehr als ein Welpe. Er scharrte aufgeregt mit den Pfoten über den Steinboden und versuchte in offensichtlicher Furcht, sich so weit wie möglich von seinem größeren Artgenossen fern zu halten. Der Jäger hielt den Welpen für ängstlich, doch Ingrey würde später zu dem Schluss kommen, dass er die Krankheit gespürt hatte.

Davon abgesehen wirkte der junge Wolf überraschend zahm. Er reagierte so aufmerksam auf die Menschen wie ein gut abgerichteter Hund. Sein Fell war dunkel und wunderbar dicht, und die glänzenden Augen richteten sich sofort auf Ingrey. Er strebte schnüffelnd auf ihn zu und blickte in offenkundiger Bewunderung zu ihm auf. Ingrey mochte das Tier auf Anhieb. Er sehnte sich danach, mit den Händen durch das dunkle Fell mit den silberweißen Spitzen zu fahren.

Der Zauberer wies Ingrey und seinen Vater an, sich bis zur Hüfte zu entkleiden und einige Schritt voneinander entfernt und einander gegenüber auf dem kalten Boden niederzuknien. Er rezitierte einige Sätze in der Sprache des Alten Weald, mit sorgfältiger Betonung und vielen verstohlenen Blicken auf ein zerknittertes Stück Papier, das er unter seinem Gürtel hervorgeholt hatte. Quälenderweise schien der Sinn dieser Worte dicht an den Rändern von Ingreys Verständnis zu lauern und sich dem Zugriff seines Verstandes zu entziehen.

Auf Cumrils Zeichen hin zerrte der Jäger den alten Wolf zu Lord Ingalefs Arm. Dabei ließ er die Leine des jungen Wolfes los, und das Tier huschte sogleich auf Ingreys Schoß. Ingrey hielt den warmen, weichen Welpen an sich gedrückt, während dieser sich wand und eifrig versuchte, Ingreys Gesicht zu lecken. Er grub seine Finger in das Fell, streichelte und liebkoste das Tier. Das Geschöpf gab ein leises, zufriedenes Winseln von sich und stieß mit der Schnauze gegen Ingreys Ohr. Die raue Zunge des Welpen kitzelte auf der Haut, und Ingrey musste ein Lachen unterdrücken, das nicht zu diesem Anlass gepasst hätte.

Nach einem kurzen Murmeln über der Klinge reichte der Zauberer das geweihte Messer an Lord Ingalef weiter und trat hastig zurück, als der unruhige Wolf nach ihm schnappte. Das Tier setzte sich gegen Lord Ingalefs kräftigen Griff zur Wehr, und Ingreys Vater verlor den Halt. Der Maulkorb aus Lederriemen löste sich, und das Tier versenkte seine Zähne in Ingalefs Unterarm, zerrte und schüttelte den Kopf und riss an dem Fleisch. Mit einem unterdrückten Fluch und dem Einsatz seiner Knie und des massigen Körpers gewann Lord Ingalef wieder ein wenig Halt über das Tier. Die Klinge blitzte auf und grub sich durch Fell und Fleisch. Rotes Blut spritzte hervor. Das Knurren erstarb, die Kiefer lösten sich. Der Wolf glitt als schlaffes, haariges Bündel zu Boden. Augenblicke später erstarben seine letzten Lebenszeichen.

Lord Ingalef setzte sich auf und ließ Messer und Kadaver los. Die Klinge klirrte auf den Steinen.

»Oh«, sagte er, die Augen weit aufgerissen und mit einem merkwürdigen Blick. »Es ist geglückt. Wie … überaus eigentümlich sich das anfühlt …«

Cumril warf ihm einen besorgten Blick zu. Der Jäger eilte herbei und verband ihm den zerfleischten Arm.

»Herr, wollt Ihr nicht …«, setzte Cumril an.

Lord Ingalef schüttelte entschieden den Kopf. Er hob die gesunde Hand und bedeutete ihnen in einer unsicheren Geste fortzufahren. »Es geht! Macht weiter!«

Der Zauberer hob eine zweite Klinge von einem Kissen, auf dem sie bis dahin gelegen hatte, und trat erneut mit einem Murmeln nach vorne. Das Messer schimmerte wie frisch geschmiedet. Er drückte es Ingrey in die Hand und trat wieder zurück.

Ingrey umklammerte unglücklich den Griff und schaute seinem Wolf in die strahlenden Augen. Ich möchte dich nicht töten. Du bist viel zu schön. Ich möchte dich behalten. Das Tier öffnete die Schnauze und entblößte strahlend weiße Fänge. Cumril schnappte nach Luft. Aber der Wolf ließ einfach nur die Zunge heraushängen und leckte Ingrey die Hand. Die kühle, schwarze Nase stieß gegen die Faust, die das Messer hielt, und Ingrey blinzelte die Tränen aus den Augen. Der Wolf setzte sich zwischen Ingreys Knien auf, hob den Kopf und blickte vertrauensvoll in das Gesicht seines Mörders.

Er durfte es nicht verpfuschen, durfte dem Tier keine unnötigen Qualen bereiten, indem er womöglich mehrere Male zustechen musste. Ingrey tastete mit den Händen über den Hals des Jungtieres, folgte den festen Muskeln und dem leichten Pochen der Venen und Arterien. Den Saal um sich her nahm er nur noch silbern verschwommen wahr. Der junge Wolf schmiegte sich an ihn, als Ingrey die Klinge ansetzte. Er holte aus, stieß zu und schnitt mit aller Kraft. Er fühlte, wie das Fleisch sich unter dem Stahl teilte, spürte das heiße Blut auf seinen Händen und im weichen Fell. Er fühlte, wie der Körper in seinen Armen schlaff wurde.

Ein düsterer Strom ertränkte seinen Geist wie eine Flut von Blut. Wolfsleben, Leben um Leben, Hütten und Herdfeuer, Burgen und Schlachten, Ställe und Pferde, Feuer und Stahl; Jagd über Jagd, Beute über Beute — aber stets in Begleitung von Menschen, niemals im Wolfsrudel. Weiter ging es zurück, noch hinter die Erinnerungen an Feuer, zurück in endlose Wälder und verharschten Schnee im Mondlicht. Da waren zu viele, viel zu viele, zu viele Jahre … sein Blick wurde leer.

Aufgeregte Rufe; die Stimme seines Vaters: »Da ist was schief gelaufen! Verdammt, Cumril, fang ihn auf!«

»Er zittert in Krämpfen — er hat sich auf die Zunge gebissen, Herr!«

Zeit und Raum verzerrten sich, und dann war sein Wolf gebunden — nein, er war gebunden! Rotsilberne Stricke flüsterten und wisperten um ihn her, wanden sich und senkten ihre Wurzeln wie Ranken in Ingreys Geist. Sein Wolf schnappte nach ihnen, schloss die weißen Zähne um sie und zerrte daran. Doch die Ranken wuchsen mit beängstigender Geschwindigkeit nach. Sie umwickelten seinen Kopf und zogen sich schmerzhaft zusammen.

Dann vernahm er fremde Stimmen in seinem Traum. Sein Wolf huschte davon. Die albtraumhaften Erinnerungen gerieten ins Stocken und versickerten wie Wasser.

»Er kann gar nicht schlafen. Seine Augen sind halb geöffnet — seht Ihr den Schimmer?«

»Nein, weckt ihn nicht! Ich weiß, was man bei Schlafwandlern tun muss! Man muss sie ruhig wieder zurück in ihr Bett führen. Sonst … ich weiß nicht, sonst werden sie wild oder so!«

»Dann fass ich ihn bestimmt nicht an, solange er das Schwert da in der Hand hält!«

»Nun, was dann?«

»Wir brauchen mehr Licht, Weib. Oh, den fünf Göttern sei Dank — da kommt ja einer von seinen eigenen Leuten!«

Es folgte ein kurzer Moment der Stille, und dann eine Stimme: »Lord Ingrey? Lord Ingrey!«

Das Kerzenlicht schimmerte heller, dann noch heller. Ingrey blinzelte, schnappte nach Luft, und langsam klärte sich sein Geist. Sein Kopf schmerzte schrecklich. Er versuchte aufzustehen, und der Schreck brachte ihn vollends zur Besinnung.

Erneut stand er im Siechenhaus des Tempels, wenn man diese Einrichtung in den Hinterzimmern der Apotheke so nennen konnte. Er trug noch immer das Nachthemd des Dechanten, doch es war halb in die Hose gesteckt. Unter den bloßen Füßen spürte er die Dielenbretter, und in der Rechten hielt er sein gezücktes Schwert.

Er war umringt von dem Ratsherrn, einer von Ijadas Zofen und dem Posten, den Gesca für die Nacht abgestellt hatte. Der Ratsherr und die Zofe starrten ihn aus weit aufgerissenen Augen an, und der Posten verharrte unschlüssig auf der Schwelle der Hintertür.

»Ich …« Er musste sich unterbrechen, schlucken, die Lippen befeuchten. »Ich bin wieder wach.« Was tue ich hier? Wie bin ich überhaupt hierher gekommen?

Anscheinend war er schlafgewandelt. Er hatte schon von so etwas gehört, aber nie zuvor bei sich selbst erlebt. Und es war doch ein wenig mehr als bloßes Umherstolpern in der Dunkelheit: Er hatte sich teilweise angezogen, seine Waffe hervorgeholt, hatte es irgendwie geschafft, unbemerkt eine Treppe hinabzuschleichen, eine Tür zu öffnen — die gewiss verschlossen gewesen war, also hatte er sogar einen Schlüssel herumgedreht! — einen gepflasterten Platz zu überqueren und in dieses andere Gebäude einzudringen.

Wo Lady Ijada schläft. Fünf Götter, bitte lasst sie immer noch schlafen! Die Tür zu ihrer Kammer war geschlossen — jetzt. In plötzlichem Grauen blickte er auf seine Klinge, doch sie schimmerte unberührt. Kein Blut tropfte davon herab. Diesmal nicht.

Mit einem misstrauischen Blick auf das Schwert trat der Wachsoldat zu ihm und fasste ihn am linken Arm. »Alles in Ordnung mit Euch, Herr?«

»Ich habe mir heute den Kopf angeschlagen«, murmelte Ingrey, »und hatte ein paar seltsame Träume nach der Medizin der heilkundigen Schwester. Tut mir Leid …«

»Soll ich … äh, Euch wieder zu Bett bringen, Herr?«

»Ja«, sagte Ingrey dankbar. »Ja …« Das selten gebrauchte Wort kam nur mühsam über seine steifen Lippen: »Bitte.« Er erschauderte, und das lag nicht nur an der Kälte.

Ingrey ließ sich von dem Krieger durch die Tür führen, um die Apotheke herum und zurück über den menschenleeren, düsteren Platz ins Haus des Dechanten. Ein Diener, der Ingreys Aufbruch verschlafen hatte, wurde bei ihrer Rückkehr wach und trat besorgt in die Vorhalle. Ingrey nuschelte noch weitere Entschuldigungen über die Arzneien der Schwester, die den Pförtner offenbar hinreichend besänftigten — was wohl vor allem daran lag, dass er selbst schlaftrunken war.

Ingrey ließ sich von dem Krieger den ganzen Weg zu Bett begleiten und dann sogar noch zudecken. Anschließend zog der Mann sich zurück, in ungeschickt schleichendem Schritt auf Zehenspitzen, bei dem seine Waffen klirrten und die Dielenbretter knarrten. Er zog die Tür hinter sich zu.

Ingrey wartete, bis die Schritte sich über den Platz unten entfernt hatten. Dann kroch er wieder unter der Decke hervor, tastete nach der Zunderdose und entzündete mit zitternden Fingern eine Kerze. Anschließend blieb er ein paar Minuten auf der Bettkante sitzen und erholte sich wieder, ehe er aufstand und sich einen kurzen Überblick über sein Zimmer verschaffte.

Die Tür ließ sich nur von innen verschließen, was bedeutete, dass er sie ebenso leicht wieder aufbekommen konnte — es sei denn, er warf den Schlüssel aus dem Fenster oder schob ihn unter dem Türspalt hindurch in den Flur, was morgen früh peinliche Verzögerungen und Nachfragen zur Folge haben würde. Er bedauerte kurz, dass er sich von dem Wachsoldaten nicht hatte einschließen lassen, obwohl auch das vermutlich ein paar unangenehme Erklärungen erfordert hätte — oder ein paar schlaue Lügen, und im Augenblick fühlte Ingrey sich überhaupt nicht schlau.

Schließlich verstaute er Schwert und Messer in einer Truhe mit überschüssiger Bettwäsche; auf dem Deckel türmte er ein paar Gegenstände auf, darunter die Blechschale vom Waschtisch, die er in einer gewollt wackligen Konstruktion ganz oben platzierte.

Dann blies er die Kerze aus und legte sich wieder ins Bett. Längere Zeit lag er verkrampft da; dann stand er erneut auf und durchwühlte in der Finsternis die Satteltaschen nach einer Seilrolle. Er wickelte sich das eine Ende fest um den Knöchel, rollte ein weiteres Stück Seil ab und band den Rest um den unteren Teil eines Bettpfostens. Schwerfällig wickelte er sich erneut in seine Decken.

Er hatte ein Pochen im Kopf, und Schmerz pulsierte in seiner Schulter wie glühende Kohle unter der Haut. Er zappelte, wälzte sich im Bett und fühlte sich plötzlich von dem Seil zurückgehalten. Nun, zumindest funktionierte das. Er drehte sich wieder auf den Rücken und starrte mit zusammengebissenen Zähnen in die Dunkelheit empor. Seine Augen fühlten sich an, als hätte er sie mit Sand ausgespült.

Besser als zu träumen. Zum ersten Mal seit Monaten hatte er wieder den Wolfstraum gehabt, auch wenn er sich jetzt nur noch bruchstückhaft daran erinnerte. Anscheinend gab es mehr als einen Grund, das Einschlafen zu fürchten.

Wie bin ich bloß in diese Lage geraten? Vor einer Woche noch war er ein glücklicher Mann gewesen, oder zumindest hinreichend zufrieden. Dank der Großzügigkeit seines Dienstherrn besaß er eine behagliche Kammer in Hetwars Palast, einen persönlichen Burschen, ein Pferd, Kleidung und Waffen — dazu eine Besoldung, die für seine Vergnügungen ausreichte. Er wohnte in der Hauptstadt des Geheiligten Königs, wo das Leben brodelte. Und was das Beste war: Er hatte eine Stellung im Haushalt des Siegelbewahrers inne und genoss den Ruf eines treuen Vertrauten. Nicht nur ein gedungener Schurke, nicht eben ein Schreiber, sondern ein Mann, dem man ungewöhnliche Aufgaben anvertraute, die diskret erledigt werden mussten.

Als Hetwars bedeutsamster Bote überbrachte er wertvolle Sendungen sicher dem Empfänger und beförderte Drohungen mit angemessenen Feingefühl für den richtigen Tonfall. Er glaubte nicht, das er eine besondere Unbestechlichkeit zur Schau stellte wie manch anderer; vielleicht hatte er einfach schon zu viel verloren, um sich von irgendwelchem Tand in Versuchung führen zu lassen. Diese Gleichgültigkeit war ein angemessener Ersatz für Ehrlichkeit, und mitunter diente sie Hetwars Zwecken noch weitaus besser. Seine liebste Belohnung war für gewöhnlich, wenn er seine Neugier befriedigen konnte.

Bei der Hölle des Bastards — noch vor drei Tagen hatte er sich vergleichsweise unbeschwert gefühlt. Bolesos Leichnam und seinen Mörder herbeizuschaffen, klang nach einer unerfreulichen, aber unkomplizierten Aufgabe. Ganz im Rahmen seiner Fähigkeiten als erfahrener, nüchterner, findiger und vor allem nicht im mindesten von einem Wolf heimgesuchten Diener des königlichen Hauses.

Wieder zupfte das Seil an seinem Knöchel. Bei der Erinnerung an das Gefühl des Schwertgriffes krampfte seine Rechte sich zusammen. Verflucht sei dieses Leopardenmädchen! Wäre sie einfach unter Boleso liegen geblieben wie jedes andere eigennützige Frauenzimmer, hätte sie einfach die Beine breit gemacht bei dem Gedanken an die kostbaren Kleider und Juwelen, die sie unzweifelhaft erhalten hätte, dann hätte das alles nicht geschehen müssen. Dann würde Ingrey nun nicht hier liegen, mit einem blutigen Stickwerk, das zwischen seinen Haaren juckte, ans Bett gefesselt und mit Schmerzen in der Hälfte all seiner Muskeln — unfähig, etwas anderes zu tun, als starr und steif die graue Morgendämmerung abzuwarten.

Und an seiner geistigen Gesundheit zu zweifeln.

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