Kapitel Vier

Am nächsten Morgen musste Ingrey es noch länger in Riedenswooge aushalten, als er gehofft hatte. Dafür war der Dechant verantwortlich, der unbedingt eine regelrechte Zeremonie abhalten wollte, als man Bolesos Sarg auf einen neuen Wagen verlud. Zumindest war dieser neue Wagen passabel: robust gebaut und mit einigen düsteren Behängen, die seine helle Lackierung verbargen — wenn auch nicht den ausgeprägten Geruch nach Bier, der das Gefährt umgab.

Als Gespann dienten sechs stämmige, lohfarbene Gäule mit massigen Schultern, schweren Schenkeln und breiten Hufen. Ihre Mähnen und die hoch gebundenen Schwänze waren mit Bändern in Orange und Schwarz geschmückt, und die Glöckchen am glänzenden Geschirr hatte man mit schwarzem Flanell gedämpft. Ingrey, dessen Kopf immer noch vom gestrigen Schlag pochte, war sehr dankbar dafür. Unter normalen Umständen hatte das Gespann ganz andere Lasten zu ziehen. Man konnte also davon ausgehen, dass es den Leichnam des Prinzen mühelos über steile Hänge und durch tiefsten Morast befördern würde.

Ritter Gesca kam heran, um Ingrey beim Aufsitzen zu helfen, doch als er seinen Anführer aus der Nähe erblickte, zuckte er erschrocken zurück. Auf Ingreys finsteren Blick hin verkniff er sich jeden Kommentar. Ingrey hatte sich zwar rasiert, und die Dienstboten des Dechanten hatten die Reitkleidung trocken, poliert und gefettet zurückgebracht, doch an den blutunterlaufenen Augen und dem aschgrauen, angeschwollenen Gesicht ließ sich nicht das Mindeste ändern.

Ingrey biss die Zähne zusammen und rückte den schmerzenden Leib ein wenig bequemer im Sattel zurecht. Dann erduldete er die langsame Prozession die Stadttore hinaus, begleitet vom Klingen von Glöckchen, Gesängen und Schwaden von Räucherwerk, was Riedenswooge offenbar als angemessenen Abschied für einen Prinzen ansah.

Ingrey wartete, bis die Stadt außer Sicht gekommen war. Dann wies er den neuen Fuhrmann an, die Tiere zu einem schwerfälligen Trab anzutreiben. Die Brauereipferde schienen die einzig fröhlichen Mitglieder des Trupps zu sein. Ausgeruht und von einer gewissen behäbigen Ausgelassenheit beseelt, betrachteten sie diese Fahrt offenbar als eine Art Feiertagsausflug für Pferde.

Lady Ijada war so adrett wie am Morgen zuvor, nur dass sie heute ein noch eleganteres, graublaues Reitkleid mit silbernem Saum trug. Sie hatte in dieser Nacht offenbar gut geschlafen. Ingreys Stimmung schwankte irgendwo zwischen Neid und Erleichterung, während seine Kopfschmerzen an- und abschwollen. Nach etwa einer Stunde Ritt durch den hellen Morgen fühlte er sich so erholt, wie er es heute vermutlich erwarten konnte. Beinahe wieder wie ein Mensch. Bei diesem bitteren Scherz biss er die Zähne zusammen und machte sich daran, prüfend die Kolonne abzureiten.

Ijadas neue Zofe reiste im Wagen mit. Es war eine der Tempeldienerinnen aus Riedenswooge, eine Frau mittleren Alters, die sie für diese Fahrt in Dienst genommen hatten. Sie behielt ihre Schutzbefohlene ständig im Auge und trat deutlich unterkühlter auf als die Landfrau aus Keilerkopf, die Boleso noch besser gekannt hatte. Allerdings schien sie Ingrey mit noch größerer Wachsamkeit zu beobachten, und dieser fragte sich, ob sie Ijada wohl von seinem nächtlichen Ausflug erzählt hatte.

Bolesos Gefolgsleute wirkten an diesem Tag ebenfalls reizbarer als zuvor. Ostheim rückte immer näher und damit auch eine mögliche Strafe, weil sie ihren verbannten Prinzen nicht am Leben gehalten hatten. Manch einer von ihnen warf Bolesos Opfer-und-Mörderin hasserfüllte Blicke zu, und Ingrey beschloss, diese Männer sowohl von berauschenden Getränken wie auch von der Gefangenen fern zu halten, bis er den ganzen Haufen mitsamt ihrem toten Anführer jemand anderem anvertrauen konnte.

Gestern Abend noch hatte er einen Botenreiter des Tempels zu Siegelbewahrer Hetwar geschickt, mitsamt dem voraussichtlichen Reiseplan des Leichenzuges. Ingrey wusste nicht, wen Hetwar schicken würde, um den Zug zu übernehmen, aber er wollte gewiss nicht wählerisch sein. Und wenn der Siegelbewahrer den weiteren Verlauf in Ingreys Händen beließ, so war dieser entschlossen, Boleso am besten im Galopp zu seiner Beerdigung zu schaffen.

Wenn die schweren Pferde auch nicht gerade galoppierten, so zogen sie Boleso doch stetig und hurtigen Schrittes durch eine Landschaft, die allmählich sanftere Züge annahm: Die Straßen wurden breiter und waren in besserem Zustand; karge Weiden inmitten ausgedehnter, wilder Wälder wichen vereinzelten, bewaldeten Hügelkuppen, umgeben von ausgedehnten Ackerflächen. Mitunter konnte man gleich mehrere Dörfer auf einmal am Horizont ausmachen.

Auch der Verkehr nahm zu, nicht nur Bauernkarren, sondern auch gut gekleidete Reiter und Händler mit hoch beladenen Maultieren, die ihnen alle eilig aus dem Weg gingen.

Eine Ausnahme bildete eine Herde schlanker, schwarzer Schweine, auf die sie in einem Eichenwald stießen. Der Schweinehüter und sein Gehilfe, die auf dieser Straße nicht mit einem königlichen Leichenzug gerechnet hatten, verloren die Herrschaft über die halbwilden Tiere, und Ingreys und Bolesos Männer mussten — belustigt und verärgert zugleich — dabei helfen, den Weg wieder freizumachen. Mit lautem Johlen, Flüchen und durch Schläge mit der flachen Seite ihrer in den Scheiden steckenden Schwerter trieben sie die Tiere beiseite.

Ingrey überprüfte seine eigenen Reaktionen. Diese quiekende Beute schien ihn nicht über Gebühr in Erregung zu versetzen, und das war sehr beruhigend. Reglos und grimmig saß er auf dem Pferd, bis die Schweine wieder im dichten Gehölz verschwunden waren. Er stellte fest, dass Lady Ijada gleichfalls still im Sattel saß und abwartete, ebenfalls mit einem eigentümlichen, nach innen gekehrten Ausdruck auf dem Gesicht.

Während des Rittes versuchte er nicht, mit ihr zu reden. Seinem Befehl gemäß hielten seine eigenen Krieger sich in Ijadas Nähe auf, solange sie auf dem Pferd saß. Wenn sie während einer Rast abstieg, folgte die Tempeldienerin pflichtbewusst jedem ihrer Schritte. Allerdings blickte Ingrey immer wieder in Ijadas Richtung und stellte allzu oft fest, dass sie ihn ebenfalls beäugte. Es war kein angstvoller Blick, viel eher wirkte sie besorgt. Als wäre er ihrer Obhut anvertraut!

Das war überaus irritierend, und er fühlte sich an zwei Jagdhunde erinnert, die gemeinsam an einer Koppelleine hingen. Es kostete ihn alle Kraft, sie nicht anzusprechen und möglichst auch nicht anzusehen, und schließlich fühlte er sich völlig erschöpft von dieser Anstrengung.

Nach einem langen und ermüdenden Tag gelangten sie endlich in die freie Reichsstadt Rottwall. Dank ihres Status unterstand diese Stadt weder dem örtlichen Grafen noch einem Dechanten, sondern wurde gemäß eines königlichen Privilegs von einem eigenen Stadtrat regiert. Dies führte leider keineswegs zu irgendwelchen Abstrichen am Zeremoniell, und so musste Ingrey eine langwierige Prozedur über sich ergehen lassen, als ihre Gastgeber Boleso zur Nacht im Tempel aufbahrten — ein großes Steingebäude in darthacischem Stil, mit fünf runden und kuppelüberwölbten Gebäudeflügeln.

Das zentral gelegene Gasthaus war zugleich das sauberste. Ingrey selbst geleitete Lady Ijada und ihre Zofe ins Obergeschoss, wo sich das Schlafgemach und die persönliche Stube befanden. Er untersuchte sämtliche Zugänge. Die Fenster gingen zur Straße hinaus, waren sehr klein und konnten vom Boden aus nur schwer erreicht werden. Die Türen waren aus solider Eiche gezimmert. Gut.

Er holte die Zimmerschlüssel aus der Gürteltasche und reichte sie Lady Ijada. Deren Zofe und Aufpasserin musterte ihn mit einem Ausdruck neugieriger Missbilligung, wagte allerdings nicht, irgendwelche Einwände zu erheben.

»Haltet die Türen die ganze Nacht verschlossen«, wies Ingrey Lady Ijada an. »Verriegelt sie am besten noch zusätzlich.«

Sie kniff ein wenig die Augenbrauen zusammen und sah sich in den friedlich wirkenden Räumlichkeiten um. »Muss ich an diesem Ort denn irgendetwas fürchten?«

Nur das, was wir selbst hierhin gebracht haben. »Letzte Nacht bin ich schlafgewandelt«, räumte er widerstrebend ein. »Ich stand vor Eurer Tür, als ich geweckt wurde.«

Sie nickte langsam und warf ihm einen weiteren dieser Blicke zu. Er biss die Zähne zusammen und erklärte: »Ich werde in einem der anderen Gasthäuser Unterkunft nehmen. Ich weiß, dass Ihr mir Euer Wort gegeben habt, aber ich möchte Euch noch einmal bitten, diese Räumlichkeiten nicht zu verlassen und Euch möglichst nicht sehen zu lassen. Nicht einmal zum Essen. Ich werde dafür sorgen, dass Euch das Abendessen hier aufs Zimmer gebracht wird.«

»Ich danke Euch, Lord Ingrey«, erwiderte sie schlicht.

Mit einem knappen Nicken entfernte er sich.

Ingrey ging zunächst zur Schankstube hinunter, um alles zu regeln, dass seine Gefangene ihre Mahlzeiten bekam. Dieser Raum war über ein kurzes, schmales Flurstück vom Treppenhaus und der Eingangshalle her zu erreichen. Zwei von Bolesos Leuten hielten sich dort bereits auf, zusammen mit einem von Ingreys eigenen Männern. Die drei widmeten sich ihren Bierkrügen.

Ingrey musterte die Gefolgsleute des Prinzen: »Ihr seid hier untergebracht?«

»Wir sind überall untergebracht, Herr«, erwiderte einer der Männer. »Die anderen Gasthäuser sind schon voll von unseren Leuten.«

»Besser als ein Lager auf den Fliesen des Tempels«, warf Ingreys Krieger ein.

»O ja«, pflichtete der erste Sprecher ihm bei und nahm einen tiefen Schluck. Sein stämmig gebauter Kamerad grunzte irgendetwas, das man als Zustimmung deuten konnte.

Lärm und ein kurzer, erschrockener Ruf von draußen erregten Ingreys Aufmerksamkeit. Er trat an die Fenster der Gaststube und blickte auf die Straße hinaus. Dort war ein offener Wagen in der Abenddämmerung vorgefahren, gezogen von zwei robusten, verschwitzten Pferden. Unmittelbar vor dem Gasthaus war ein Rad von der Achse gesprungen und lag nun auf dem Pflaster. Daneben hing der Wagen in einer wackelig wirkenden Schräglage; Laternen schaukelten an den Stangen an seiner Stirnseite und zeichneten auf- und abwogende Schatten auf die umliegenden Hauswände. Eine muntere Frauenstimme verkündete: »Mach dir nichts draus, Liebe. Bernan bringt das in Ordnung. Deshalb habe ich …«

»… gesagt, ich soll meine Werkzeugtruhe mitnehmen, ja«, führte eine müde Männerstimme hinten aus dem Wagen den Satz zu Ende. »Ich kümmere mich darum. Gleich.«

Der Diener sprang aus dem Wagen und stellte einen Holztritt neben den zurzeit geneigten Ausstieg. Dann halfen er und eine weitere Dienstbotin einer kurzen, untersetzten, in einen Kapuzenmantel gehüllten Gestalt beim Aussteigen.

Ingrey wandte sich ab und dachte bei sich, dass die Neuankömmlinge es schwer finden mochten, heute Abend in Rottwall noch ein Zimmer zu bekommen. Der stämmige Gefolgsmann leerte seinen Krug, rülpste und fragte den Schankkellner, wo der Abtritt sei. Dann schlurfte er an Ingrey vorbei zum Flur.

Dort war inzwischen auch die untersetzte Frau im Kapuzenmantel angekommen. Ihre Dienstmagd stand hinter ihr, zu Boden gebeugt, murmelte Verwünschungen und versperrte den Durchgang. Der weite Mantel war schmutzig und fadenscheinig und hatte offenbar schon bessere Tage erlebt.

Der stämmige Gefolgsmann stieß einen Fluch aus und knurrte: »Pack dich aus dem Weg, du fette Sau!«

Aus den Tiefen des Mantels kam ein entrüstetes »Hä?«; dann warf die Frau die Kapuze zurück und funkelte zornig zu dem Mann auf. Sie war weder jung noch alt, besaß aber etwas Matronenhaftes. Ihr lockiges, rotblondes Haar hatte sich teilweise aus den Zöpfen seitlich am Kopf gelöst und zeichnete eine schwache, wilde Aureole um ihr Gesicht, das entweder von der Beleidigung, von der abendlichen Kühle oder von beidem gerötet war. Ingrey, der über die Schulter des Kriegers blickte, spannte sich an: Bolesos Leute waren es gewiss nicht gewohnt, von gewöhnlichem Volk herausgefordert zu werden. Aber dieses törichte Frauenzimmer ließ sich anscheinend weder von dem Schwert noch von der Rüstung des Mannes einschüchtern. Und auch nicht von seiner Größe oder Trunkenheit.

Die Frau löste die Fibel vor ihrem Hals und ließ den Mantel herabgleiten; darunter trug sie das Grün der Kirche der Mutter. Sie war nicht fett, sondern hochschwanger. Wenn sie eine Hebamme war, würde sie bald ihrer eigenen Dienste bedürfen, befand Ingrey. Die Frau langte über den vorspringenden Bauch hinweg, berührte ihre linke Schulter und räusperte sich bedeutungsschwer. »Siehst du das, junger Mann? Oder bist du schon zu besoffen, um noch klar sehen zu können?«

»Was sehen?«, fragte der stämmige Krieger zurück. Er ließ sich von einer Hebamme anscheinend noch weniger beeindrucken als von einer gewöhnlichen, schwangeren Frau.

Sie folgte seinem Blick zu ihrer Schulter, wo nichts weiter zu sehen war als abgewetztes grünes Tuch. Verdrossen schürzte sie die Lippen. »Oh, verflixt. Hergi!« Sie fuhr zu der Dienerin herum, die sich inzwischen wieder aufgerichtet hatte. »Sie sind schon wieder heruntergefallen. Ich hoffe, ich habe sie nicht unterwegs auf der Straße verloren.«

»Ich habe sie gerade wieder aufgehoben, Herrin«, keuchte die geplagte Dienstbotin. »Ich stecke sie gleich an. Wieder mal.«

Sie hielt nicht nur eine kirchliche Amtstresse in der Hand, sondern gleich zwei davon. Diese brachte sie nun wieder an den ihnen gebührenden Stellen an, die Zunge vor Eifer zwischen die Zähne geklemmt. Die erste Schnur war aus dunkelgrünen, strohgelben und glänzend goldenen Fäden geflochten und kennzeichnete eine Geistliche und ausgebildete Heilerin aus der Kirche der Mutter. Die zweite Tresse — in Weiß, Beige und Silber — wies sie als Tempelzauberin der Kirche des Bastards aus. Das erste Amtszeichen rief selbst bei Bolesos Gefolgsmann wenn schon nicht Respekt, so doch eine gewisse Achtsamkeit hervor. Das zweite Zeichen aber ließ ihn kreidebleich werden.

Ingreys Mundwinkel zuckten hoch. Es war das erste Mal, dass er an diesem Tag einen Grund zum Lächeln fand. Er legte dem Mann die Hand auf die Schulter. »Ich würde sagen, du solltest dich bei der gelehrten Dame entschuldigen und sie dann vorbeilassen.«

Der Gefolgsmann blickte finster. »Die sind nicht echt!«

Ganz offensichtlich war ihm das Blut nicht nur aus dem Gesicht gewichen, sondern auch aus dem Hirn. Wer einen Fehler nicht eingestehen kann, wird ihn zwangsläufig wiederholen? Vorsorglich wich Ingrey einige Schritte zurück, auch weil es ihm einen besseren Blick auf den weiteren Gang der Ereignisse verschaffte.

»Ich habe wirklich keine Zeit mehr für dich«, stellte die Zauberin verärgert fest. »Wenn du dich schon unbedingt so aufführen willst wie in einem Stall, sollst du auch gleich selbst ein Schwein werden. Zumindest, bis du ein wenig Benehmen gelernt hast.« Sie machte einen Wink in Richtung des Gefolgsmannes, und Ingrey unterdrückte das Verlangen, in Deckung zu gehen. Es überraschte ihn nicht, als der Krieger vor ihm plötzlich auf alle viere kippte und sein entsetztes Keuchen in ein Grunzen überging.

Die Zauberin rümpfte die Nase, raffte ihre Kleidung und stieg geziert über ihn hinweg. Die Dienerin kam kopfschüttelnd hinterher; sie trug eine Ledertasche mit sich und hob unterwegs auch noch den Mantel auf. Ingrey verneigte sich höflich vor den Frauen, als sie an ihm vorbei in die Gaststube traten, und folgte ihnen dann. Das heftige Schnaufen vom Boden hinter ihm versuchte er zu ignorieren. Die beiden anderen Krieger drückten sich an den Wänden der Gaststube entlang bis zu dem Durchgang und blickten besorgt in den Flur.

»Ich bitte um Verzeihung, Hochwürden«, sagte Ingrey liebenswürdig, »aber wird Eure heilsame Lehre lange von Bestand sein? Ich frage nur, weil der Mann morgen wieder in der Lage sein muss, auf ein Pferd zu steigen.«

Die rotblonde Frau wandte sich ihm zu und musterte ihn finster. Ihre gelösten Haarsträhnen schienen inzwischen in alle Richtungen zugleich von ihr fortstreben zu wollen. »Gehört er zu Euch?«

»Eigentlich nicht. Aber wenn ich auch für seine Taten nicht verantwortlich bin, so bin ich doch dafür verantwortlich, dass er an seinem Zielort eintrifft.«

»Oh. Nun, ich werde ihn wieder in seinen ursprünglichen Zustand bringen, bevor ich abreise. Andernfalls würde der Wahn ohnehin in einigen Stunden von selbst abklingen. In der Zwischenzeit soll er den anderen als Beispiel dienen … Ich bin jedenfalls sehr in Eile: Heute Abend soll ein großer Leichenzug in Rottwall eingetroffen sein, von Prinz Boleso, der angeblich ermordet worden ist. Habt Ihr ihn gesehen? Ich suche nach dem Befehlshaber.«

Wieder deutete Ingrey eine Verbeugung an. »Ihr habt ihn gefunden. Ingrey von Wolfengrund, Euch und Euren Göttern zu Diensten, Hochwürden.«

Sie musterte ihn für einen beunruhigend langen Augenblick. Dann stellte sie fest: »Allerdings, das seid Ihr. Nun. Diese junge Frau, Ijada dy Castos. Wisst Ihr, was aus ihr geworden ist?«

»Sie ist meiner Obhut unterstellt.«

»Ist sie das?« Ihr Blick wurde noch eindringlicher. »Wo hält sie sich auf?«

»Sie ist in Gemächern im Obergeschoss dieses Gasthauses untergebracht.«

Die Dienstbotin schnaufte erleichtert, und die Zauberin warf ihr einen triumphierenden Blick zu. »Aller guten Dinge sind drei«, murmelte sie. »Habe ich es nicht gesagt?«

»Diese Stadt hat nur drei Gasthäuser«, hielt die Begleiterin ihr vor.

»Hat die Kirche Euch geschickt«, erkundigte Ingrey sich hoffnungsfroh, »damit Ihr Lady Ijada unter Eure Verantwortung nehmt?« Und aus der meinen?

»Eigentlich nicht. Nein. Aber ich muss mit ihr sprechen.«

Ingrey zögerte. »Wie steht Ihr zu ihr?« Oder sie zu Euch?

»Wir sind alte Freunde, wenn sie sich überhaupt noch an mich erinnert. Ich bin die Gelehrte Hallana. Ich habe von ihrer Bedrängnis gehört, als die Nachricht mein Seminar in Neresblatt erreichte. Besser gesagt, wir haben von Bolesos Tod gehört und erfahren, wer dieser Tat verdächtigt wird, und ich habe daraus geschlossen, dass sie in Bedrängnis ist.« Die Art, wie sie ihn anstarrte, brachte Ingrey noch immer aus der Fassung. »Wir waren uns sicher, dass der Leichenzug hier durchkommen würde. Aber ich hatte schon befürchtet, wir müssten ihm hinterherjagen.«

Das Seminar der Mutter in Neresblatt lag etwa 25 Meilen südlich von Rottwall. Es war in der ganzen Gegend bekannt für die Ausbildung von Heilkundigen — auch die Schwester, die am Abend zuvor Ingreys Kopfwunde genäht hatte, hatte ihr Handwerk dort gelernt.

Selbst wenn Ingrey sämtliche umliegenden Grafschaften nach einem Tempelzauberer durchsucht hätte, wäre er womöglich nie auf den Gedanken gekommen, in Neresblatt nachzuschauen. Stattdessen hatte sie nun ihn gefunden …

Spürte sie seinen Wolf? Ein Tempelzauberer hatte die Seele des Tiers auf ihn übertragen, und später hatte ein Geistlicher ihm dabei geholfen, den Wolf zu beherrschen. War diese Frau vielleicht ausgesandt worden — vom wem oder was, wagte Ingrey nicht einmal zu raten —, um bei Ijadas Leopard dieselbe Hilfe zu leisten? So unbegreiflich die Anwesenheit dieser Zauberin hier war, schien sie kein Zufall zu sein. Dieser Gedanke ließ ihm einen Schauder den Rücken hinablaufen und die Nackenhaare zu Berge stehen. Ein Zufall wäre Ingrey lieber gewesen.

Er holte tief Luft. »Ich fürchte, Lady Ijada hat derzeit nur noch wenige Freunde. Sie wird sich über Eure Anwesenheit freuen. Darf ich Euch zu Ihr geleiten, Hochwürden?«

Die Frau bedachte ihn mit einem knappen, zustimmenden Nicken. »Ja, bitte, Lord Ingrey.«

Er ging vor den Frauen her in den Flur und wies auf die Treppen zur Linken. In der entgegengesetzten Richtung kroch der Gefolgsmann, der unter dem Schweinezauber stand, noch immer auf dem Boden umher, stieß den Kopf gegen die Tür und grunzte.

»Herr, was sollen wir mit ihm anfangen?«, fragte sein ratloser Kamerad.

Ingrey wandte sich um und schaute sich die Szene einen Augenblick an. »Pass auf, dass ihm nichts zustößt, bis diese Lektion endet.«

Der andere Soldat sah an Ingrey vorbei der Zauberin hinterher und schluckte. »Jawohl, Herr. Äh … sonst noch was?«

»Du kannst ihm ja ein paar Eicheln suchen.«

Die Zauberin stieg gerade die Treppen empor, die Hand auf dem Geländer, ihre Dienerin dicht hinter sich. Bei Ingreys Worten wandte sie sich kurz um, und ihre Mundwinkel zuckten. Dann ging sie weiter, und Ingrey eilte hinterher.

Zufrieden stellte er fest, dass die Tür zu Lady Ijadas Wohnstube fest verschlossen war. Er klopfte an.

»Wer ist da?«, meldete sich ihre Stimme von innen.

»Ingrey.«

Eine kurze Pause. »Seid Ihr wach?«

Er verzog das Gesicht. »Ja. Hier ist Besuch für Euch.«

Es folgte ein kurzes, verwundertes Schweigen; dann hörte man einen Schlüssel im Schloss klirren und das Kratzen eines Riegels. Die Zofe öffnete die Tür und blinzelte verwirrt, als die Zauberin und ihre Dienstbotin in das Gemach rauschten. Ingrey kam hinterher.

Lady Ijada stand auf der anderen Seite des Raumes und blickte einen Augenblick fassungslos drein.

»Ijada?«, sagte die Zauberin und klang überrascht. »Meine Güte, Kind! Wie groß du geworden bist.«

Ijadas Gesicht strahlte in solcher Freude auf, wie Ingrey es nie zuvor bei ihr gesehen hatte. »Hallana!«, rief sie und eilte zu der Geistlichen.

Mit Lauten des Entzückens fielen die beiden Frauen einander in die Arme. Schließlich trat Ijada zurück, die Hände auf die Schultern der kleineren Frau gelegt. »Was führt dich denn hierher?«

»Die Kunde von deinem Missgeschick erreichte auch das Seminar der Mutter in Neresblatt. Ich unterrichte inzwischen dort, weißt du. Und dann waren da noch die Träume.«

»Und was hat dich nach Neresblatt verschlagen? Du musst mir alles berichten, was seit … oh, Lord Ingrey.« Ijada wandte sich ihm zu. »Das ist die Freundin, von der ich Euch bereits erzählt hatte. Sie war als heilkundige Missionarin auf der Burg meines Vaters in den westlichen Marschen und zugleich eine Scholarin der Kirche des Bastards. Dort folgte sie ihren beiden Berufungen gleichzeitig: Sie studierte die Legendenlieder der Sumpfleute und behandelte deren Kranke, so weit es in ihrer Macht stand. Auf diese Weise wollte sie sie zur Burg und zu den quintarischen Predigten locken. Natürlich war sie damals noch jünger. Und ich … ich war gewiss das schlaksigste und aufdringlichste Kind, das man sich vorstellen kann. Hallana, ich weiß immer noch nicht, warum du es erduldet hast, dass ich den ganzen Tag hinter dir hergelaufen bin. Aber ich habe dich dafür angebetet.«

»Nun, für Anbetung bin ich nicht ganz unempfänglich, was schon dazu geführt hat, dass ich mir so manche Gedanken über die Götter gemacht habe. Außerdem hast du dich nützlich gemacht. Du hattest keine Angst vor den Sümpfen, dem Wald, den Tieren oder den Sumpfleuten. Es hat dir auch nichts ausgemacht, schmutzig zu werden oder dich ausschimpfen zu lassen.«

Ijada lachte. »Ich denke immer noch daran, wie du mit diesem schrecklich eingebildeten Geistlichen während der Mahlzeiten über theologische Fragen gestritten hast. Der Gelehrte Oswin wurde immer so wütend, dass er danach regelrecht auskeilte! Wäre ich älter gewesen und weniger mit mir selbst beschäftigt, hätte ich mir sicher Sorgen um seine Verdauung gemacht. Armer, hagerer Bursche.«

Die Zauberin grinste. »Das hat ihm gut getan. Oswin war der vollkommene Anhänger des Vaters: Ständig wollte er die genauen Regeln herausfinden und sich selbst auf die rechte Seite dieser Regeln stellen. Oder die Regeln auf seine linke Seite schieben. Dieser Vorwurf ärgerte ihn immer besonders.«

»Oh, aber nun sieh dich mal an — du musst dich erst einmal hinsetzen.« Lady Ijada und die Dienstmagd Hergi schlossen sich kurz zusammen und begaben sich auf die Suche nach dem besten Stuhl, polsterten ihn mit Kissen aus und drängten die Gelehrte Hallana, darauf Platz zu nehmen. Diese ließ sich dankbar niedersinken, atmete erleichtert auf und schob den Bauch auf ihrem Schoß zurecht. Die Dienerin rückte eilig einen Schemel unter ihre Füße.

Lady Ijada schob für sich selbst einen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches zurecht, und Ingrey zog sich auf einen Platz am Fenster zurück, das in dem kleinen Raum nicht weit vom Tisch entfernt war und von wo er beide Frauen gut im Blick hatte. Ijadas zeitweilige Zofe und Wärterin hielt sich vorsichtig und respektvoll im Hintergrund.

»Eure zweifache Berufung ist eine sehr ungewöhnliche Verknüpfung, Hochwürden«, warf Ingrey ein und nickte in Richtung ihrer Schultertressen. Die Nadeln, mit denen sie befestigt waren, lösten sich bereits, und die Bänder waren schon wieder bedenklich weit herabgerutscht.

»Oh, allerdings. Ich bin ganz zufällig dazu gekommen, wenn es denn ein Zufall war.« Sie zuckte die Achseln und sandte die Tressen damit endgültig zu Boden. Die Dienstmagd seufzte, hob sie wortlos wieder auf und steckte sie erneut fest. »Ich habe als Heilkundige angefangen, wie schon meine Mutter und meine Großmutter vor mir. Meine Lehrzeit war fast abgeschlossen, und ich praktizierte bereits im Siechenhaus der Mutter in Remshaven. Dort wurde ich eines Tages zu einem sterbenden Zauberer gerufen.« Sie hielt inne und warf Ingrey einen prüfenden Blick zu. »Ihr wisst, wie Tempelzauberer geschaffen werden? Oder auch abtrünnige Zauberer? Was die Entstehung betrifft, gibt es da keinen großen Unterschied.«

Er runzelte die Stirn. »Eine Person gelangt in den Besitz eines Dämons des Chaos, der es irgendwo geschafft hat, sich dem Zugriff des Bastards zu entziehen und in die Welt der Materie zu fliehen. Der Zauberer nimmt den Dämon in seine Seele auf — oder in ihre Seele, was die Zauberinnen betrifft«, ergänzte er hastig, »und nährt ihn dort. Im Gegenzug gibt der Dämon von seiner Macht ab. Ein Dämon macht einen Menschen zum Zauberer, genau wie ein Pferd einen Menschen zum Reiter macht. So jedenfalls hat man es mir beigebracht.«

»So ist es auch.« Hallana nickte bestätigend. »Und natürlich macht es einen Menschen nicht notwendigerweise zu einem guten Reiter. Man muss erst lernen, damit umzugehen. Weniger bekannt ist, dass Tempelzauberer ihren Dämon oft der Kirche vermachen, wo er dann mitsamt all seinem erworbenen Wissen an die nächste Generation weitergereicht wird. Wenn nämlich ein Zauberer bei seinem Tod den Dämon nicht mit zurück zu seinem Gott trägt, springt er in das nächste lebende Geschöpf im Umkreis über. Er braucht einen lebenden Wirt, um in der stofflichen Welt bestehen zu können, und es ist nicht sehr klug, wenn man einen mächtigen Dämon in einen streunenden Hund fahren lässt. Lächelt nicht, solche Dinge sind schon geschehen. Aber wenn man alles richtig macht, lässt sich ein ausgebildeter Dämon dazu bewegen, auf einen auserwählten Nachfolger überzugehen, ohne dabei die Seele, die er verlässt, in Stücke zu reißen.«

Ijada beugte sich vor, um kein Wort dieser Erklärungen zu versäumen. »Ich habe nie daran gedacht, dich zu fragen, wie du zu dem geworden bist, was du bist. Ich hatte es immer für selbstverständlich gehalten.«

»Du warst zehn Jahre alt. In diesem Alter ist die ganze Welt ein einziges Rätsel.« Mühsam rutschte sie im Stuhl umher und suchte offenbar nach einer etwas bequemeren Haltung. »Die Kirche des Bastards in Remshaven hatte mit größter Sorgfalt diesen Geistlichen vorbereitet, einen überaus gelehrsamen jungen Burschen, damit er die Kräfte seines Mentors in sich aufnimmt. Alles schien ganz nach Plan zu verlaufen. Der alte Zauberer — was war das zu diesem Zeitpunkt schon für eine gebrechliche Gestalt! — tat ganz friedlich seinen letzten Atemzug, und alle Vorbereitungen waren getroffen. Sein Nachfolger hielt den Sterbenden bei der Hand und betete. Und dieser dumme Dämon sprang einfach über ihn hinweg und auf mich über!

Das hatte niemand erwartet, am allerwenigsten dieser hochmütige junge Geistliche. Er war außer sich vor Wut. Ich war verzweifelt. Wie sollte ich weiter als Heilkundige tätig sein, wenn ich von einem Dämon des Chaos befallen war? Eine ganze Zeit lang habe ich versucht, den Dämon loszuwerden. Ich habe sogar eine Pilgerfahrt zu einem Heiligen unternommen, dem angeblich der Bastard selbst Macht über Seine umherstreunenden Elementargeister verliehen hat.«

»In Darthaca?«, fragte Ingrey.

Sie blickte auf. »Woher wisst Ihr das?«

»Gut geraten.«

Mit einem Schnauben machte sie deutlich, was sie von dieser Erklärung hielt. »Nun, wie auch immer. Wir vollzogen gemeinsam die notwendige Zeremonie, aber der Gott wollte Seinen Dämon nicht zurücknehmen.«

»Darthaca«, bestätigte Ingrey verdrießlich. »Ich denke, ich bin mal mit demselben Burschen zusammengetroffen. Zu nichts zu gebrauchen.«

»Ach?« Wieder musterte sie ihn prüfend. »Nun ja, da ich dieses Geschöpf nun mal am Hals hatte, musste ich lernen, darauf zu reiten — wenn ich nicht selbst zum Reittier werden wollte. Ich habe also eine weitere Lehrzeit angetreten, beim fünften der Götter. Zu jener Zeit, da ich in die Grenzlande gezogen bin, war ich zutiefst unglücklich und hatte eine Zeit lang versucht, ein einfacheres Leben zu führen. Ich hatte meine Berufung verloren und hoffte, sie so wiederzufinden. Ach, Ijada, ich war so traurig, als ich später vom Tod deines Vaters erfuhr. Er war ein so edler Mann, in jeder Hinsicht.«

Lady Ijada nickte kurz, und ihr Antlitz verdüsterte sich. »Die Mauern unserer Burg waren aus gutem Grund so stark befestigt. Dumme und wütende Menschen, und ein unbesonnener Ritt, um es mit Vernunft zu versuchen, während die Gefühle allzu hoch brodelten … Ich hatte bis dahin nur die schöne Seite der Feuchtmarschen kennen gelernt, und die Sanftmut der Sumpfleute. Aber letztendlich waren auch sie nur Menschen.«

»Was ist mit dir und deiner Frau Mutter geschehen, nachdem er getötet worden war?«

»Sie kehrte wieder zu ihrer eigenen Familie zurück — zu meiner eigenen Familie, im nördlichen Weald. Ein Jahr später heiratete sie erneut, wieder einen Mann der Kirche, wenn auch diesmal keinen Krieger. Ihr Bruder machte darüber schon ein paar Scherze. Sie liebte meinen Stiefvater nicht auf dieselbe Weise wie meinen Vater, aber er war zärtlich, und sie suchte Trost. Stattdessen fand sie den Tod, als … äh.« Ijada verstummte, blickte auf Hallanas Leib und biss sich auf die Lippe.

»Ich bin selbst auch eine Heilkundige«, erinnerte Hallana sie. »Sie starb im Kindbett.«

»Nach vier Tagen. Sie wurde von einem Fieber befallen.«

Die Zofe, die ein wenig zu neugierig lauschte, schlug mitfühlend das heilige Zeichen, bemerkte, wie Ingrey auf sie aufmerksam wurde, und verhielt sich wieder still.

»Hm«, sagte Hallana. »Ich frage mich, ob … egal. Es ist zu spät. Und dein …?«

»Mein kleiner Bruder. Er hat überlebt. Mein Stiefvater ist ganz vernarrt in ihn. Aber er war auch der Grund, aus dem mein Stiefvater so schnell wieder geheiratet hat.«

Ingrey hörte zum ersten Mal, dass Lady Ijada noch lebende Geschwister hatte. Aber ich habe auch nicht daran gedacht, danach zu fragen.

»Und plötzlich lebtest du mit Menschen zusammen, die du dir nicht ausgesucht hattest«, sinnierte Hallana. »Und umgekehrt. Konntest du dich in der Familie deines Stiefvaters wohlfühlen?«

Ijada zuckte die Achseln. »Sie waren nicht unfreundlich zu mir. Und meine Stiefmutter ist gut zu meinem Bruder.«

»Und sie ist, hm, wie viele Jahre älter als du?«

Ein Lächeln spielte um Ijadas Mundwinkel. »Drei.«

Hallana schnaubte. »Und als für dich dann die Gelegenheit zum Auszug kam, ließ sie dich mit größtem Wohlwollen ziehen.«

»Nun, es war wohlwollend. Genau genommen war es die Frau meines Dachswall-Onkels, die mir die Stellung bei Prinzessin Fara verschaffte. In ihren Augen war die Familie meines Stiefvaters furchtbar gewöhnlich, und sie war der Ansicht, dass ich von dort fortkommen sollte, ehe ich mich an das bäuerische Leben gewöhnt hätte.«

Diesmal schnaubte Hallana noch abfälliger. Ingrey wurde sich bewusst, dass die überaus gelehrte Geistliche bei ihrer Vorstellung kein »von« in ihrem Namen genannt hatte.

»Aber Hallana«, fuhr Ijada fort, »ob Heilkundige oder nicht, ich verstehe nicht, wie du gleichzeitig ein Kind und einen Dämon in dir tragen kannst, ohne dass dabei Schaden entsteht. Ich dachte immer, Dämonen wären für Schwangere furchtbar gefährlich.«

»Das sind sie.« Die Gelehrte Hallana verzog das Gesicht. »Dämonen verbreiten Chaos, und zwar ständig. Es ist der Quell ihrer Macht in der grobmateriellen Welt. Die Entstehung eines Kindes, wobei die Welt der Materie eine gänzlich neue Seele entstehen lässt, ist der bedeutsamste und aufwendigste Prozess der Ordnung überhaupt, abgesehen vielleicht von der Existenz der Götter selbst. Wenn man bedenkt, was dabei schon ohne einen Dämon alles schief gehen kann, vermag man sich vorzustellen, wie wichtig es ist, das werdende Kind und den Dämon voneinander getrennt zu halten. Wie wichtig — und wie schwierig!

Eben diese Schwierigkeit ist der Grund, weshalb manche Geistliche weiblichen Zauberern grundsätzlich davon abraten, ein Kind zu bekommen, oder Frauen allgemein, sich mit einer solchen Macht einzulassen, ehe sie nicht ohnehin zu alt für eine Schwangerschaft geworden sind. Nun, andere Geistliche, die solche Ratschläge erteilen, tun das nur deshalb, weil sie selbstgefällige Dummköpfe sind, aber das ist ein ganz anderes Thema.

Aber weißt du, das ist ja alles schön und gut — ich war allerdings nicht bereit, mein ganzes Leben aufzugeben, nur weil irgendwelche Leute sich irgendwelche Theorien ausgedacht haben. Die Gefahren einer Schwangerschaft sind für mich nicht größer als für jede andere Frau, wenn meine Fähigkeiten nur den Herausforderungen gewachsen sind. Hm, abgesehen natürlich von der Möglichkeit, dass der Dämon in das Kind überwechseln könnte, wenn ich während der Geburt abgelenkt bin. Und kleine Kinder sind auch so schon dämonisch genug …

Wie sich herausstellte, lag das Geheimnis meiner Sicherheit in, hm … wie soll ich es ausdrücken? Darin, ein Übermaß an Chaos zu verbreiten. Indem ich ständig kleine Mengen von Chaos um mich verstreue, halte ich meinen Dämon beschäftigt und das Kind geschützt.« Ein mütterliches Lächeln ließ ihre Augen aufleuchten. »Ach, leider ist das wohl ein wenig mühevoll für jeden, der sich während der entsprechenden Monate in meiner Nähe aufhält. Ich habe mir eine kleine Einsiedelei eingerichtet, ganz am Rand der Ländereien des Seminars, wohin ich mich dann zurückziehe.«

»Oh. Ist das nicht sehr einsam für dich?«, warf Lady Ijada ein.

»Keineswegs. Mein lieber Ehemann besucht mich jeden Tag mit den beiden älteren Kindern. Und manchmal des Abends auch noch ohne die Kinder. Außerdem finde ich Zeit, zu lesen und meine Studien auf den neuesten Stand zu bringen — es ist die beste Klausur, die man sich vorstellen kann. Ich wäre nur allzu gern bereit, es noch häufiger zu wiederholen. Aber ich fürchte, ein Dutzend Kinder wären nicht ratsam, und außerdem glaube ich, dass mein Ehemann ohnehin schon sehr viel früher eine Grenze ziehen würde.«

Hergi, die Dienstmagd, die zu Füßen ihrer Herrin still zugehört hatte, kicherte auf bemerkenswert wenig unterwürfige Weise.

»Weißt du, im Grunde ist es nicht viel anders als die meditative Selbstbeherrschung, die jeder Tempelzauberer ohnehin praktizieren muss. Stets nur das Chaos zu nutzen, niemals versuchen, diese Macht gegen ihre Natur zu beugen, und dabei doch Gutes zu wirken … Ruhe, Sorgfalt und niemals der Versuchung einfacher Abkürzungen zu erliegen. Das rettete schließlich meine Berufung — nachdem ein gewisser scharfsinniger Denker mich darauf hinwies, dass auch die Chirurgie etwas beschädigt, um zu heilen. Da erkannte ich, wie ich die mir verliehene Macht in angemessener Weise nutzen und doch damit erreichen konnte, was mir am Herzen lag. Ich war so überglücklich, dass ich ihn gleich geheiratet habe.«

Ijada lachte. »Das freut mich für dich! Du verdienst alles Gute!«

»Was wir verdienen, weiß nur der Vater allein.« Die Zauberin blickte plötzlich wieder ernst. »Aber nun, Liebes, erzähl mir doch, was auf dieser von den Göttern verlassenen Burg tatsächlich geschehen ist.«

Загрузка...