Kapitel Dreiundzwanzig

Hinkend und auf ihren Speer gestützt ging die Wache ihnen voran. Rossfluten führte immer noch Faras Pferd am Zaumzeug, und sie umklammerte krampfhaft den Schaft der Standarte. Das Zittern der Stange und das Schaukeln des Pferdes waren die einzigen Bewegungen, die das schlaff herabhängende Banner in diesem atemlosen Zwielicht in Bewegung versetzte. Ingreys Pferd schnaubte und brach seitlich aus, und das Tier, das er hinter sich herführte, zerrte am Zügel und stemmte mit rollenden Augen die Hufe in den Boden. Ingrey gefiel es nicht, beide Hände voll zu haben, mit den Zügeln seines eigenen Pferdes und denen des anderen. Er stieg ab und ließ die Tiere frei. Sie fuhren herum und jagten wieder zurück vor den Baum; dann, zu müde, um weiterzulaufen, ließen sie die Köpfe sinken und rupften am zähen Gras. Ingrey wandte sich ab und lief hinter dem Banner des Geheiligten Königs her.

Als sie den Waldrand erreichten, traten noch mehr Geister aus den Bäumen. Sie waren ebenso übel zugerichtet wie ihr Wachposten, oder noch schlimmer. Die meisten waren enthauptet worden und trugen ihre Köpfe auf andere Weise bei sich, teilweise immer noch in den Helmen: Manchmal waren sie mit Riemen oder den Haaren an den Gürtel gebunden, manchmal unter den Arm geklemmt oder in behelfsmäßigen Tragetaschen aus Seilen oder Lumpen über der Schulter getragen. Ingrey brauchte eine Weile, bis er den Blick von den Wunden lösen und auch andere Einzelheiten wahrnehmen konnte: Zierrat, Waffen oder Kleidung, die auch die Zugehörigkeit zur Sippe verriet. Schau die Dinge, die ich mir ausgesucht habe; daran kannst du mich erkennen, riefen sie stumm, all die Gürtel, Halsketten, Felle und Schädel und Pelz über Pelz von all den Totemtieren, deren Stärke sie sich nutzbar zu machen hofften. Überall stachen verblasste Stickereien hervor, an Kragen, Wehrgehängen, an Mantelsäumen oder bestickten Armbändern. Meine Frau hat das gemacht, meine Tochter, meine Schwester, meine Mutter. Sieh die aufwendigen Muster, die ineinander greifenden Farben. Einst war ich geliebt.

Ein hoch gewachsener Krieger, dessen Kopf immer noch am halb durchtrennten und von einer dunklen Blutkruste umsäumten Hals hing, schob sich dicht neben Ingrey. Er trug ein dichtes Wolfsfell über der Schulter und starrte Ingrey mit einer solchen Verwunderung an, als wäre dieser der Geist und er selbst der Lebende. Er streckte eine Hand aus, und Ingrey zuckte im ersten Moment zurück. Dann aber biss er die Zähne zusammen und erduldete den Kontakt. Es war mehr als nur ein Lufthauch, aber weniger als eine fleischliche Berührung und ließ eine feuchte Kälte auf der Haut zurück.

Weitere Krieger in Wolfsfellen versammelten sich um Ingrey; auch eine Frau erschien, grauhaarig und untersetzt, deren zerfetztes Kleid mit umeinander geschlungenen Streifen aus grauem Pelz verziert war. Die goldenen Reifen, die sie um die Arme trug, liefen an den Enden in zierlichen kleinen Wolfsköpfen mit Granataugen aus. Einige dieser Krieger könnten meine eigenen Ahnen sein, erkannte Ingrey. Und das traf nicht nur auf die Angehörigen der Wolfengrund-Sippe zu: In seinen Adern floss auch das Blut vieler Mütter, die aus anderen Sippen eingeheiratet hatten. Der Gedanke, der Eindringling auf einem Friedhof zu sein, hatte ihn beunruhigt. Doch der Verdacht, dass diese geisterhaften Krieger die Aufregung von Großeltern zeigten, die zum ersten Mal ein Kind erblickten, das sie nie zu sehen gehofft hätten, schmetterte ihn schier zu Boden. O Ihr fünf Götter, helft mir, helft mir, helft mir … wobei?

Er blinzelte überrascht, als sich auch ein halbes Dutzend dunkelhaarige, von grausamen Wunden entstellte Männer in den Wappenröcken darthacischer Bogenschützen aus Audars Tagen dem Aufmarsch anschlossen. Sie machten einen großen Bogen um Rossfluten, drängten sich allerdings dicht an Ingrey heran. Die anderen Wiedergänger schienen sich nicht an ihrer Anwesenheit zu stören. Nachdem der Tod sie nun schon seit vier Jahrhunderten gleich machte, hatten sie womöglich ihren eigenen Frieden geschlossen. Ingrey hatte gehört, Audar habe die eigenen Toten wieder fortgebracht, um sie nicht in diesem verfluchten Boden beerdigen zu müssen, abgeschlossen von den Menschen und den Göttern. Aber die Schlacht war gewaltig gewesen, und sie wurde größtenteils im Dunkel ausgefochten. Es war nicht weiter verwunderlich, dass man einige Leichen übersehen hatte.

Die Krieger folgten dem königlichen Banner wie ein Trauerzug; ein Fluss des Leidens, ein flüsterndes Flehen.

Mit der sinkenden Sonne hatten sich die scharfen Schlagschatten im Talgrund aufgelöst, doch der Himmel über ihnen war immer noch blass erhellt. Das Geäst der Eichen über ihren Köpfen war verwoben wie verfilzte, schwarze Spinnennetze. Rossfluten schien vage auf die Mitte des Waldes zuzuhalten, jedoch nicht in gerader Linie. Er wirkte wie einer, der nach etwas suchte — und ein leises Aaah verriet Ingrey, dass er es gefunden hatte.

Das Dach aus Baumwipfeln über ihnen wurde dünner und öffnete sich dann um einen lang gezogenen, niedrigen Hügel, auf dem keine Bäume wuchsen. Rossfluten machte davor halt und zog Fara von ihrem unruhigen Pferd. Er half ihr den Hang hinauf und ließ sie dann den Schaft der Standarte neben ihren Füßen in den Boden rammen.

Das frei gelassene Pferd entfernte sich ängstlich zwischen den Bäumen und vermied es dabei, irgendjemanden aus der wachsenden Schar der neugierigen Geister zu berühren. Mehr als neugierig, erkannte Ingrey — aufgeregt! Ihre Unruhe brachte auch sein Blut in Wallung. Immer mehr versammelten sich in dichten Haufen um sie herum, und Ingrey spürte allmählich in seinem Innersten, was für eine ungeheure Anzahl viertausend dahingeschlachtete Männer waren. Er versuchte, sie zu zählen — einzelne Reihen zu zählen und dann malzunehmen. Doch immer wieder verlor er den Anschluss und gab es schließlich auf.

Es half ohnehin nicht, seinen heftig angegriffenen Verstand wieder zu ordnen.

Rossfluten kniete oben auf dem Hügel nieder, schob eine dünne Decke aus kränklichem Bewuchs beiseite und fuhr mit den Fingern durch das dunkle Erdreich. »In dieser Grube wurde ich begraben«, ließ er Ingrey im Plauderton wissen. »Ich und viele andere. Auch wenn ich niemals im wörtlichen Sinne mein Blut Am Heiligen Baum vergossen habe. Darauf hat Audar sehr sorgfältig geachtet. Das ist ein Versäumnis, das heute nachgeholt werden soll.« Müde richtete er sich wieder auf. »Alles soll heute nachgeholt werden.« Er nickte in Richtung der Geister, die sich unruhig regten.

An den äußeren Rändern des Kreises wimmelten noch Neuankömmlinge umher. Die wenigen, die noch dazu in der Lage waren, reckten die Hälse. Es machte den Anschein, als sprächen die Toten miteinander, doch Ingrey hörte ihre Stimmen nur schwach und verschwommen, etwa so, wie man Menschen am Ufer rufen oder streiten hört, während man selbst unter Wasser ist. Ingrey berührte den schmutzigen Verband an der Rechten, der kaum mehr war als ein Lumpen, notdürftig um die Hand gewickelt, damit keine Stöße auf dem zarten Gewebe der frisch verheilten Wunde schmerzen konnten. Zumindest blutete es nicht wieder. Noch nicht.

Mit einiger Mühe brachte Ingrey ein Räuspern zustande. »Majestät, wozu sind wir hier?«

Rossfluten lächelte schwach. »Wir bringen es zu Ende, Ingrey. Falls du deine Aufgabe erfüllst, heißt das, und die Bannerträgerin die ihre. Dann bringen wir das alles zu einem Ende.«

»Wollt Ihr uns dann nicht erklären, was wir zu tun haben?«

»Ja«, seufzte Rossfluten. »Es ist an der Zeit.« Er blickte zum Himmel. »Ohne Sonne, Mond oder Sterne als Zeugen, in einer Stunde, die weder Tag ist noch Nacht. Was könnte es für einen würdigeren Augenblick geben? Lang waren die Vorbereitungen, lang und mühsam. Aber die Tat … ah. Die Tat ist einfach und rasch vollbracht.« Er zog das Messer aus dem Gürtel, dasselbe, mit dem er auch die Kehle von Ijadas Stute durchtrennt hatte. Ingrey spannte sich an. Ob königliches Charisma oder nicht: Wenn Rossfluten sich gegen Fara wendete, würde Ingrey versuchen müssen … Er wollte die Hand zum Schwertgriff führen, doch sie war mit einem Mal schwer geworden und wollte ihm nicht mehr gehorchen. Sein Herz schlug schneller vor Bestürzung über diese unerwartete Beschränkung.

Rossfluten allerdings drückte stattdessen den Messergriff in Faras schlaffe Finger; dann nahm er ihr die Standarte ab und drückte den Schaft noch tiefer in den Boden, sodass er von selbst aufrecht stehen blieb, wenn auch ein wenig geneigt. »Am besten macht man es im Knien«, sinnierte er. »Diese Frau ist schwach.«

Er wandte sich wieder Ingrey zu. »Fara«, er nickte in Richtung seiner Frau, die ihn aus weit aufgerissenen Augen anstarrte, »wird mir gleich die Kehle durchschneiden. Als meine Bannerträgerin wird sie, zumindest für einen Augenblick, meine Seele und mein Königtum hier festhalten. Solange ihr Griff hält — keinen Augenblick länger — hast du Zeit, mich von meinem Pferdegeist zu reinigen. Wenn du scheiterst, wirst du als Nächster, wenn auch nicht als Erster, erfahren können, was es heißt, mein Erbe zu sein. Was dann geschieht, kann nicht einmal ich voraussagen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es nichts Angenehmes sein wird. Und es wird ewig so weitergehen. Also scheitere nicht, mein königlicher Schamane!«

Ingreys Herzschlag pochte in seinen Ohren, und sein Magen verkrampfte sich. »Ich dachte, Ihr könntet nicht sterben. Ihr sagtet, der Zauber würde Euch an die materielle Welt binden.«

»Dann schreite diesen Kreis einmal ganz ab, Ingrey. Die Bäume und die Summe allen Lebens am Heiligen Baum sind an die Seelen meiner Krieger gebunden und sorgen dafür, dass sie in der materiellen Welt bestehen bleiben. Diese hier«, er wies mit einer ausladenden Geste auf die versammelten Geister, »bringen mein geheiligtes Königtum hervor, das sie an mich bindet. Mein Pferdegeist«, er legte die Hand auf die Brust, »meine Macht als Schamane, bindet die Bäume an die Männer.

Wenn ich mich recht entsinne, habe ich dir bereits gesagt, dass der Geheiligte König die Nabe des Zaubers war, der Unbesiegbarkeit verleihen sollte. Wenn diese Verbindung an einer Stelle durchtrennt wird, bricht auch der Kreis auseinander. Und dies ist die Verbindung, an der du ansetzen kannst.«

Und Ihr selbst könnt das nicht? Nein … das konnte er nicht. Rossfluten war in seinen eigenen Zauber eingebunden, wie ein Schlüssel im Innern der verschlossenen Truhe. »Darum also ging es die ganze Zeit? Ein besonders kunstvoller Selbstmord?«, stellte Ingrey entrüstet fest. Er versuchte erneut, sich in Bewegung zu setzen, seinen materiellen Körper unter seine Herrschaft zu zwingen, doch er brachte nur ein leichtes Zittern zustande.

»Ich nehme an, so könnte man es nennen.«

»Wie viele Menschen habt Ihr ermordet, um das in die Wege zu leiten?« So achtlos, wie Ihr mich auf Ijada angesetzt habt?

»Nicht so viele, wie du glaubst. Sie sterben ganz von selbst.« Rossfluten kräuselte die Lippen. »Und wenn ich jetzt sage, dass ich lieber sterben würde als all das noch einmal zu tun, kommt das der Wahrheit ebenso nahe, wie es sie vollkommen verfehlt.«

Ingreys Verstand tat einen Sprung. »Und das würde den Zauber lösen.«

»Ja. Eines hängt am anderen.«

»Und was geschieht dann mit diesen da?« Ingrey wies auf die herandrängenden Geister. »Werden sie auch zu den Göttern gehen?«

»Götter, Ingrey? Hier gibt es keine Götter.«

Das stimmt, erkannte Ingrey. War es das, was ihn an diesem Ort so tief beunruhigte? Die ineinander greifenden Bestandteile des Zaubers, der Wille dieses unheiligen Geheiligten Königs, schlossen die Götter aus. Anscheinend schon seit Jahrhunderten. Rossflutens Krieg mit den Göttern verharrte so lange schon in einem Patt, während Rossflutens Heerschar allmählich zu seiner Geisel geworden war.

Rossfluten drückte Fara auf die Knie; dann kniete er sich vor sie, das Gesicht von ihr abgewandt. Er zog ihre Hand mit dem Messer über seine rechte Schulter und küsste kurz ihre weiß gewordenen Knöchel. Eine Erinnerung blitzte in Ingreys Gedanken auf; sie galt dem Wolf, der sein Ohr geleckt hatte, bevor er ihm die Kehle durchschnitten hatte.

Die Aufhebung dieses pervertierten Zaubers, die so lange hinausgezögerte Läuterung des Blutfeldes, schien an sich keine Sünde zu sein, von Wenzels Selbstmord einmal abgesehen. Und doch hatten sich fünf Götter diesem Ereignis entgegengestellt, ohne dass Ingrey den Grund dafür wusste. Bis jetzt.

Von den Leiden der materiellen Welt erlöst, verzehrten sich die Seelen nach den Göttern wie Liebende, so sagten es die Geistlichen — abgesehen von jenen wenigen Seelen, die sich von den Göttern abwandten und ein allmähliches, einsames Vergehen wählten. Und die Götter sehnten sich in gleicher Weise nach den Seelen. Aber das hier war kein gemeinschaftlicher, einvernehmlicher Selbstmord von Rossfluten und seinen Geister-Kriegern. Selbst jetzt noch, wo seine endgültige Niederlage offenbar wurde, wollte er seine unsterblichen Geiseln mit sich nehmen. Eine ewige Rache, ein Tod jenseits des Todes und die vollkommene Verweigerung.

»Ihr werdet verloren sein? Wartet … ihr werdet alle verloren sein?«

»Du stellst zu viele Fragen.«

Nicht genug. Reichlich verspätet fiel Ingrey noch eine weitere Frage ein: Ijada hatte erzählt, dass sie die Hälfte ihres Herzens diesen Wiedergängern überlassen hatte. Und diese Hälfte hatten sie immer noch hier, irgendwo, irgendwie. Was würde mit jenem Teil ihrer Seele geschehen, den sie als Unterpfand hinterlassen hatte, wenn diese verlorenen Krieger sich in Rauch auflösten? Konnte eine Frau mit einem halben Herzen leben? »Wartet«, sagte Ingrey und griff tiefer in sein Inneres: »Wartet!«

Ein Kräuseln durchlief die Menge der Geister, als brächte ein Erdstoß sie zum Wanken. Fara schnappte nach Luft und blickte auf.

»Und du hast stets zu viel einzuwenden!«, erklärte Rossfluten und zog Faras Hand mitsamt dem Messer über seine Kehle.

Drei Herzschläge lang pulste das Blut hervor, während Rossfluten ruhig nach vorn blickte. Dann entspannten sich seine Lippen in einem Ausdruck der Erleichterung, und er kippte aus Faras Griff heraus. Sie umklammerte das Banner, damit es nicht über ihn fiel. Ihr Mund bewegte sich zu einem lautlosen Schrei.

In diesem Augenblick löste sich die magische Welt von der Welt der Materie; die Übereinstimmung platzte auseinander, und Ingrey sah plötzlich wieder zwei Orte zugleich, wie seinerzeit in Rottwall. Wenzels Körper lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Hügel, und Fara kniete an der Grenze zur Ohnmacht darüber. Das blutige Messer war ihrem Griff entfallen. Aber auf dem Hügel erhob sich …

Ein schwarzer Hengst, so schwarz wie Pech, wie Ruß, wie eine mondlose Nacht bei einem Sturm. Feuer loderte aus seinen Nüstern, und orangerote Funken stoben bei jeder Bewegung von Mähne und Schweif. Es scharrte mit dem Huf über den Hügel, ein einziges Mal, und ein Ring aus Feuer schlug um den Hufabdruck empor und verging wieder. Auf seinem Rücken saß rittlings ein Schatten in menschlicher Gestalt, und seine Beine krümmten sich in die Rippen des Pferdes und waren mit ihnen verwachsen.

Diese grausame, uralte Macht besaß keine Ähnlichkeit mit Bolesos dürftiger, armseliger Menagerie. Ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Und diesmal, an diesem Ort, habe ich keinen Gott an meiner Seite. Raserei brodelte in Ingrey empor und verwandelte seinen Entsetzensschrei in ein herausforderndes Heulen. Er sprang aus seinem wie erstarrt dastehenden Leib hervor und landete zu seiner Überraschung auf allen vier Pfoten. Seine großen Klauen rissen Brocken aus dem Boden. Er vollzog eine Verwandlung, die er beim letzten Mal nur zur Hälfte, zu einem Wolfsmenschen, hatte bewirken können.

Der Hengst schnaubte. Ingrey hob die schwarz gesäumten Lefzen an seinen langen Kiefern, entblößte die scharfen Zähne und antwortete mit einem Knurren. Seine Zunge schob sich hervor und kostete einen übel riechenden Schmauch in der Luft, wie modriges, brennendes Haar; Speichel flog ihm vom Maul, als er den giftigen Brodem abschüttelte.

Der Hengst trat vom Hügel herab und umkreiste Ingrey. Kleine Flammen markierten seine Spur.

Wenn ich diesen Kampf verliere, werde nicht ich es sein, der in meinen Körper zurückkehrt. Es wäre Rossfluten, aber ein neu erschaffener Rossfluten. Bei diesem Einsatz war es kein Wunder, dass Wenzel sich gar nicht erst die Mühe gemacht hatte, ihn mit weiteren Zaubern gefügig zu machen. Ingrey kämpfte um mehr als nur sein Leben.

Ingrey umkreiste seinerseits den Hengst, mit gesenktem Haupt und gesträubtem Fell. Er fühlte die Erde, kalt und feucht unter seinen Ballen. Herabgefallenes Laub knisterte unter seinen Schritten wie wirkliche Blätter, und der stechende Modergeruch kitzelte ihn in der Nase. Der Hengst wirbelte herum, und seine Hinterbeine peitschten Ingrey entgegen.

Ingrey duckte sich, aber zu spät. Mit einem dumpfen Laut traf ihn ein Huf in die pelzige Flanke, und winselnd rollte er über den Boden. Wie konnte es einem imaginären Leib den Atem verschlagen? Er durfte sich hier ebenso wenig eine Unaufmerksamkeit leisten wie bei einem Schwertkampf, nur dass er nun auf vier Waffen Acht geben musste statt auf eine. Wie tötet man ein Pferd allein mit den Zähnen? Er versuchte, sich an Hundekämpfe zu erinnern, die er schon einmal miterlebt hatte, an die Sauhatz, den Höhepunkt einer Jagd.

So gut man kann.

Er raffte sich wieder auf und sprang nach dem Bauch des Pferdes, verdrehte die weit aufgerissenen Kiefer in einem unmöglichen Winkel. Er zog einen langen Riss über die glatte Oberfläche und schaffte es kaum, den rachsüchtig trampelnden Hufen zu entkommen. Das … kein Blut, sondern ein unheimliches Sekret, eine tintenschwarze Flüssigkeit verätzte ihm den Mund wie die roten Schlangen in Rottwall. Noch schlimmer. Schaumiger Speichel füllte seine Schnauze in einer krampfhaften Reaktion auf den Schmerz.

Die Geister versammelten sich um sie herum, als würden sie tatsächlich einer Sauhatz zusehen. Auf welches der Tiere wetteten sie wohl, welches feuerten sie an? Nicht ihre Leben standen auf dem Spiel, sondern ihre Seelen, und sie waren es nicht, die diesen Einsatz getätigt hatten. Es war bedauerlich, dass Rossfluten selbst die Auslöschung suchte, aber nicht einmal die Götter selbst konnten den freien Willen eines Menschen in dieser Sache übergehen. Doch dass sein Wille über den aller anderen hinweggehen wollte, schien die schlimmere Sünde zu sein. Ijada würde darüber weinen, dachte Ingrey düster, als er den Zähnen des Hengstes auswich, die an einem plötzlich schlangenhaften Hals auf ihn zuschwangen. Und: fünf Waffen … Ich muss auf fünf Waffen Acht geben!

Das läuft nicht gut. Er war zu klein, und der Hengst war zu groß. Richtige Wölfe jagten eine Beute dieser Größe im Rudel, nicht allein. Wo kann ich mehr von mir finden? In der materiellen Welt konnte nichts Spirituelles bestehen, solange es nicht … Er betrachtete seinen menschlichen Körper, der zitternd und geistlos am Rande der Lichtung stand. Tölpel. Einfaltspinsel. Nutzloser Sohn. Alles oder nichts, also. Alles.

Er zog Kraft aus seinem Körper, so viel er nur konnte. Die leere Hülle wankte und brach auf einem Gestöber toter Blätter zusammen. Alle Geschehnisse auf der Lichtung schienen sich zu verlangsamen, und Ingreys bereits geschärfte Wahrnehmung loderte grell auf. Sein Wolfsleib fühlte sich zugleich so schwer an wie die Vergangenheit und so flüchtig wie die Zukunft. Ja, diesen Zustand kenne ich. Diesen Weg bin ich schon einmal gegangen.

Mit einem Mal wuchs er zur halben Größe des Pferdes an, und dieses scheute vor ihm zurück. Doch es bewegte sich so langsam, als schwämme es in Öl. In Muße bereitete er seinen Angriff vor, maß den bevorstehenden Sprung ab. Doch seine geraubte Stärke konnte nicht von Dauer sein. Keine Zeit. Jetzt.

Er stürzte vor und grub die Zähne in den Hals des Pferdes, zerrte heftig den Kopf hin und her. Er konnte das Pferd nicht so schütteln wie ein Hund ein Kaninchen, und doch brach es unter seinem Gewicht und seinem Zerren zusammen. Etwas riss auseinander, und etwas spritzte hervor. Um sie herum stoben die Geister beiseite, als würden sie einem Spritzer aus einem unreinen Pfuhl ausweichen.

Das Ding zwischen seinen Kiefern wurde schlaff. Dann schmolz es dahin und rann über seine Lippen wie nach einem Biss in einen Eiszapfen im Winter. Er spuckte aus und trat zurück. Die Pferdegestalt verlor ihre Form, wurde zu einem Hügel, einer Lache, zu einer Schwärze, die im Boden versickerte wie verschüttete Tinte. Und war fort.

Wenzel erhob sich, endlich von seinem düsteren Reittier befreit. Auf zwei gekrümmten Beinen. Seine Gestalt wirkte wieder menschlich, aber sein Gesicht …

»Ich bin froh, dass ich es nicht mit diesem Hirsch probiert habe«, merkte er aus einem seiner Münder an. »Er wäre nicht stark genug für diese Aufgabe gewesen.« Ein anderer Mund grinste. »Braver Hund, Ingrey.«

Ingrey wich knurrend zurück. Überall an Rossflutens Kopf kräuselten sich Gesichter, stiegen auf und versanken wieder wie Leichen in einem Fluss. Wahllos folgte eines aufs andere, all die Grafen von Rossfluten über vier Jahrhunderte hinweg und noch länger. Junge Männer, alte Männer, wütende und traurige Männer; glatt rasiert und bärtig und narbig. Verrückt. Wie ein verirrtes Kind trieb der junge Wenzel vorüber; sein dümmlicher Blick hellte sich auf, als er Ingrey erkannte, und nahm einen flehenden Ausdruck an — auch wenn Ingrey nicht zu sagen wusste, worum er bat.

Der Körper war noch schlimmer: Schnitte und Narben und grausame, klaffende Wunden trieben über die Haut, jede tödliche Verletzung, die Rossfluten je erlitten hatte. Am erschreckendsten waren die Verbrennungen, große, gerötete Flächen, nässende Blasen, gesottenes und verkohltes Fleisch. Der Gestank stieg in Ingreys empfindliche Wolfsnase, und er nieste und wich zurück, winselte kurz und wischte sich mit der Pranke über die Schnauze wie ein Hund. Das war Rossfluten, von innen nach außen gekehrt. So war Rossfluten schon die ganze Zeit gewesen, verborgen hinter der glatten, spöttischen Maske, dem trügerischen Esprit, dem plötzlichen Aufbrausen, der scheinbaren Gelassenheit. Zu jeder Stunde, an jedem Tag, Sonnenuntergänge, die mit der Wucht eines Vorschlaghammers auf ihn niederfuhren, Zeit ohne Ende.

Am schlimmsten aber waren die Augen.

Wachsam pirschte Ingrey am Rande der Lichtung einher und hielt Abstand von dem Hügel und der Ansammlung von Rossfluten, bis er schließlich den eigenen, hingestreckten Körper erreichte. Auf beunruhigende Weise wirkte der noch bleicher und toter als die kopflosen Geister, die sich ringsum versammelt hatten. Ingrey stupste ihn an, stieß mit den Pfoten und winselte ängstlich, doch er regte sich nicht. Atmete er überhaupt noch? Ingrey konnte es nicht feststellen. In seiner wölfischen Gestalt besaß er keine Stimme — und deshalb auch keine Zauberstimme. Ein bedeutsamer Teil seiner Fähigkeit war ihm damit anscheinend genommen worden. Konnte er überhaupt in seinen Körper zurückkehren. O ihr Fünf Götter — was, wenn nicht?

Hatte Rossfluten all das ebenfalls geplant? Ohne seinen Wolf und nachdem er einen Großteil seiner Seele ebenfalls daraus entfernt hatte, blieb Ingreys stille Hülle so leer zurück wie ein verlassenes Haus und stand jedem Vorübergehenden zum Einzug offen. Wäre das Lösen des Zaubers gescheitert, stünde Rossfluten immer noch ein Körper als Erbe offen, und zwar ohne die Schwierigkeiten, die er eingangs befürchtet hatte. Ingrey blickte zu dem gequälten Ding auf, das von Rossfluten verblieben war. Nein, das war kein Ergebnis, das Rossfluten sich gewünscht hätte. Aber hätte er das alles tatsächlich noch einmal durchlaufen müssen — nun, er wäre dazu imstande gewesen. Und der Ruhe nach zu urteilen, mit der er Ingrey beobachtete, wusste er das auch. Ingrey erschauderte und stieß seinen reglosen Leib erneut an.

Hufschläge und ein verängstigter Pferdeschrei hallten durch den Wald. Ingrey fuhr herum. War der Pferde-Spuk etwa wiederbelebt worden …? Nein. Es war ein wirkliches Pferd. Er fühlte den Boden unter den Tritten erbeben, wie es beim feurigen Schritt des anderen Tieres nie der Fall gewesen war. Die Hufschläge hielten inne, scharrten zwischen dem herabgefallenen Laub; dann raschelten sie plötzlich leichter und entfernten sich.

Die Geister traten beiseite und öffneten eine Gasse, und viele von ihnen hoben die Arme zu ungeschickten Grüßen. Und Segnungen oder aufgeregtem Flehen. Das Schlagen der Heiligen Geste machte sich merkwürdig aus, wenn der Kopf am Gürtel hing und die Hand zum Nabel und zu den Lenden nur seitwärts wanderte und sich erst dann zu einem stillen Herzen erhob. Ingrey, der Wolf, hob den Kopf und schnupperte. Ich kenne diesen glückseligen Duft wie Sonnenlicht auf trockenem Gras …

Durch die Lücke zwischen den Geistern lief Ijada auf ihn zu. Sie trug ihr dunkelbraunes Reitkleid; die Jacke war mit Schweißflecken bedeckt, die geteilten Röcke schlammbespritzt. Überall an der Kleidung hatte sie feine Risse, als wäre sie geradenwegs durch eine Dornenhecke galoppiert. Dunkle Haarsträhnen klebten in ihrem geröteten Gesicht. Abrupt kam sie zum Stehen, und aus ihrem Keuchen wurde ein Schrei. Langsam wankte sie dorthin, wo Ingreys Körper am Boden lag, und sank daneben auf die Knie. Ihr Gesicht war kreidebleich geworden.

»Nein, o nein …« Sie drehte den Leib herum und barg seinen Kopf in ihrem Schoß. Bestürzt starrte sie auf die leblose Gestalt und die blassen Lippen. »Zu spät!«

Sie kann mich nicht sehen, erkannte Ingrey, der Wolf. Sie kann keinen von uns sehen. Abgesehen von der körperlich anwesenden Fara, die immer noch neben Wenzels Leiche kauerte. Ijada warf dem Paar einen flüchtigen, entsetzten Blick zu, biss die Zähne zusammen und wandte sich wieder Ingrey zu.

»Oh, Liebster …« Sie hob sein Gesicht zu ihrem tränenüberströmten Antlitz und drückte die Lippen gegen die seinen. Enttäuscht tänzelte Ingrey, der Wolf, um sie herum, denn er konnte ihre warmen Lippen nicht spüren und schmeckte nicht ihren verschwendeten, honigsüßen Atem. Außer sich zupfte er mit den Pfoten an ihrem Ärmel und leckte ihr dann übers Gesicht.

Scharf sog sie die Luft ein. Dann hob sie die Hand zur Wange und blickte sich um. Hatte sie eine verwirrende, feuchte Kühle verspürt, wie er selbst bei der Berührung des Geistes? Er leckte ihr Ohr, und Ijada stieß den Atem aus mit einem Laut, der unter anderen Umständen vielleicht ein Lachen hätte sein können. Sie kratzte sich am Ohr, als hätte man sie dort gekitzelt, legte Ingreys Leib auf den Rücken, tastete darüber — oh, könnte ich diese Berührung doch nur fühlen! — und runzelte die Stirn. »Ingrey, was haben sie dir angetan …?«

Sein Körper trug keine sichtbaren Wunden, und nirgendwo verriet eine Krümmung einen gebrochenen Knochen. Allerdings war der Lumpen um seine Rechte wieder von Blut durchtränkt, wie er feststellte, und sein ganzes Lederwams war damit verschmiert. Ijadas Blick wurde noch düsterer, als sie seine blutige Hand gegen ihre Brust drückte. Wenn ich doch nur einen dieser Finger rühren könnte … »Oder du mit dir selbst?«, fügte sie scharfsichtig hinzu. »Du hast etwas sehr Tapferes und Dummes versucht, nicht wahr?« Wieder schaute sie zu Wenzels Leichnam und zu Fara empor.

Rossfluten schnaubte, und Ingrey fuhr knurrend herum. Wenzels gegenwärtiges Gesicht blickte in einer Mischung aus Erstaunen und Abscheu zu Ijada. »Du tauchst aber auch immer da auf, wo man dich nicht haben will, nicht wahr, Mädchen?«, sagte er in die leere Luft, oder vielleicht auch zu Ingrey. Ijada jedenfalls konnte ihn anscheinend nicht hören. »Immer ahnungslos, aber hält dich das auf? Dann koste nun vom Verrat der Götter. Ich speise schon seit Jahrhunderten davon.«

Er wandte sich ab und schaute über die versammelten Geister hinweg. »Es sind alle da«, hauchte er. Seine entsetzlichen Augen wirkten nun abwesend, entrückt, von einer unerbittlichen Ruhe erfüllt. »Aber nicht mehr lange, das verspreche ich Euch, meine teuren Krieger.«

Die Blicke, die die Widergänger ihm zuwarfen, waren alles andere als liebevoll, befand Ingrey, sondern bestürzt und enttäuscht. Sie wirkten schwach durchscheinend, als würden sie sich bereits auflösen. Der Geist eines frisch Verstorbenen, der nicht sogleich durch die von seinem Tod aufgestoßenen Tore bei den Göttern einging, mochte durch die göttliche Gegenwart bei den Wundern der Bestattungszeremonie vor der Verdammnis bewahrt werden, wie es Boleso zuteil geworden war. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt. Doch irgendwann war eine Seele unwiderruflich verloren, und durch ihre Verweigerung gegenüber den Göttern verdammte sie sich selbst zum Dahinschwinden. Die Spanne des unsicheren Verharrens war für diese Geister hier verlängert worden, nicht nur für Tage oder Wochen, sondern für Jahrhunderte. Da ihre Verbindung zum Wehen Wald nun gelöst worden war, würden sie nicht mehr lange bestehen können. Wie viel länger noch? Stunden? Minuten?

Ijada erhob sich, um zu Fara zu gehen, dann aber keuchte sie auf und sank zurück auf die Knie. Sie griff sich mit der Hand an die rechte Brust, dann an die Stirn. Überrascht bewegte sie die Lippen, presste sie dann schmerzerfüllt zusammen. Ingrey winselte lauter.

Die Masse der Geister machte erneut eine Gasse frei, und ein kräftiger Krieger trat nach vorn. Er trug einen breiten, goldbesetzten Gürtel und ein Banner mit Eisenspitze. Die aufgerollte Fahne daran zeigte die Farben Grün, Weiß und Blau. Der Geist hatte seinen Kopf am goldenen Gürtel hängen, befestigt mit den eigenen, grau-blonden Zöpfen. Unruhig wanderte der Blick des ergrauten Hauptes zu Rossfluten empor, der in überraschtem Wiedererkennen auffuhr und die Hand hob, um einen Gruß zu erwidern, der gar nicht gegeben worden war. Die Geste erstarb, als Rossfluten sich einen Augenblick zu spät dieses Umstandes bewusst wurde. Der Krieger kniete neben Ijada nieder und beugte sich besorgt über sie.

Ingrey sprang unruhig um die beiden herum und senkte das Wolfshaupt bis auf Augenhöhe mit dem Krieger. Dieser blickte in einer stummen Frage zu ihm hin. Ijada bog das Rückgrat durch, und ihr Griff um Ingreys blutige Hand erschlaffte, bis die Finger ihr entglitten und die Hand zu Boden sank. »Oh«, hauchte sie. Ihre Augen waren dunkel und weit aufgerissen. Sie wurde noch bleicher, beinahe grün im Gesicht. Als Ingrey, der Wolf, wiederum ihr Gesicht leckte, reagierte sie nicht.

Ingrey wich zurück und schaute auf. Dann erhob er sich auf die Hinterbeine und stützte sich mit einer Vorderpfote auf die Schulter des Kriegers, um das Gleichgewicht zu halten. Der Mann spannte sich an, um ihn stützen zu können. Dort oben auf der weidenblattförmigen Speerspitze war etwas aufgespießt. Ein Herz … nein, ein halbes Herz, dessen Pochen schwächer wurde.

Er verbeugte sich tief, erinnerte Ingrey sich an Ijadas Worte, und legte mein Herz auf einen Steinblock. Dann durchtrennte er es mit der verbliebenen Klinge seines geborstenen Schwertes … Die andere Hälfte steckte er auf seine Standarte. Ich habe nicht verstanden, ob es eine Bitte war, ein Opfer oder ein Pfand …

Alles drei zugleich, dachte Ingrey, alles drei.

Er wusste nicht, was seine Handlungen an diesem unheimlichen Ort genau bedeuteten. Doch auch ohne Stimme war er nicht gänzlich ohne Macht. Ich habe Rossflutens Pferd niedergerungen, und nun ist es fort. Vielleicht kann ich noch mehr tun. Rossfluten ging offenbar davon aus, dass Ingrey verbraucht und seine Aufgabe vollbracht war. Möglicherweise wollte er Ingrey in dieser Trennung von Körper und Geist zurückzulassen, ihn sterben lassen, wenn die Geister und all ihre Magie dahingeschwunden waren. Und so weit es Ingrey selbst betraf, als einsamen Wolf, lag Rossfluten vermutlich gar nicht mal verkehrt. Aber ich bin hier nicht allein, nicht wahr? Diesmal nicht. Sie hat es gesagt, also muss es so sein. Wahrsagerin. Wann habe ich gelernt, die Wahrheit so sehr zu schätzen?

»Soll ich nun an gebrochenem Herzen sterben?«, murmelte Ijada, während sie auf Ingreys Brust niedersank. »Ich dachte stets, das wäre nur eine Redewendung. Wir sterben also gemeinsam? Nein! Mein Herr des Herbstes, in dieser Deiner Jahreszeit, steh uns bei …!«

Hier gibt es keine Götter.

Aber Ingrey war hier. Versuch etwas anderes. Versuch irgendetwas! Vielleicht verfügte auch dieser Hauptmann der Untoten über irgendeine Macht. Immerhin trug er ein Banner, im Alten Weald das heilige Symbol für die Rettung über den Tod und das Ende aller anderen Hoffnungen hinaus. Ingrey winselte und umkreiste den Mann. Er kratzte mit der Pfote an dessen Stiefel, kauerte sich zusammen und stieß immer wieder mit der Schnauze gegen die Schwertscheide, die gegenüber vom Kopf am Gürtel hing. Würde der Geist seine Bitte verstehen?

Der Mann drehte die Hüften, um ihn anschauen zu können. Seine sandfarbenen Brauen hoben sich vor Erstaunen. Er stand auf und zog das zerbrochene Schwert aus der Scheide. Ja! Ingrey stieß ein weiteres Mal die Hand des Geistes an und wandte den Kopf, um nach der eigenen Flanke zu schnappen.

Der Mann konnte nicht nicken, deutete jedoch eine Verbeugung an. Dann kniete er nieder, und Ingrey legte sich vor ihm auf den Boden. Seine Pfoten schlugen in lächerlicher Weise durch die Luft, und sein Bauch lag schutzlos nach oben. Wenn ich sie damit retten kann … Der scharfe Splitter, der noch von der Klinge stehen geblieben war, fuhr ihm in einem langen Schnitt durch die Brust.

Ijada hat nie davon gesprochen, dass es wehgetan hat! Ingrey unterdrückte ein Jaulen und zwang sich, still zu halten. Die geisterhafte Hand griff in die klaffende Wunde in der Wolfsbrust und kam rot tropfend wieder zum Vorschein. Dann schnitt die Schneide des Klingenstumpfs über ein glitschiges Ding auf der Handfläche des Kriegers, und schließlich schleuderte der Krieger etwas nach oben. Dann fuhr die blutige Faust wieder herab, und Ingreys Wolfsleib konnte wieder atmen, als die Hand leer zum Vorschein kam und der Schnitt sich zu einer langen roten Linie schloss. Ingrey kämpfte sich auf die Pfoten.

Hoch auf der Speerspitze schlug nun ein vollständiges Herz und begann gleichmäßig zu schlagen.

Ijada holte tief Luft und setzte sich auf. Blinzelnd schaute sie sich um. Ihr Blick kreuzte sich mit dem von Ingrey, dem Wolf, und sie riss erstaunt die Augen auf, als sie ihn erkannte. »Hier bist du also!« Ihr Kopf fuhr hin und her, als sie über die Menge der aufgeregten Geister blickte, die sich um diesen merkwürdigen Eingriff herum versammelt hatten. »Hier seid ihr alle. Ihr!« Taumelnd erhob sie sich und machte einen Knicks vor dem Bannerträger. »Nach Euch habe ich gesucht, mein Marschall, aber ich konnte Euch nicht sehen.«

Der Geist erwiderte die Verbeugung in tiefster Ehrerbietung. Ijada schob die Finger in das dichte Fell an Ingreys Nacken, hielt ihn fest und streichelte ihn. Er drängte sich den Liebkosungen entgegen. Sie blickte zu ihm hinab — nicht sehr tief, denn sein großer Kopf verweilte beinahe auf Höhe ihrer Brust. »Warum hast du dich so entzweigeteilt? Was geht hier vor?« Ihr Blick wanderte über die Lichtung, bis sie den vielgesichtigen Rossfluten entdeckte. »Oh.« Sie zuckte zusammen, straffte sich dann aber wieder. »So seht Ihr also unverhüllt aus. Was macht Ihr hier auf meinem Land?«

Rossfluten war inzwischen ruhig geworden und hatte eine Haltung größter Gleichgültigkeit eingenommen. Doch die letzte Bemerkung ließ ihn zornig auffahren. »Euer Land? Das ist der Ort Am heiligen Baum!«

»Ich weiß«, versetzte Ijada kühl. »Und es ist mein Erbe. Denn Ihr seid fertig damit, nicht wahr?«

Rossflutens Gestalt erstarrte, und sein zu einem spöttischen Ausdruck verzogener Mund flüsterte: »Das ist wahr, wir gehen. Leider werdet Ihr feststellen, dass Ihr Euer Erbe … nur sehr kurz genießen werdet.« Der Mund grinste boshaft, und Ingrey konnte ein Knurren nicht unterdrücken. Ijadas Hand krallte sich fester in sein Fell.

»Und was ist mit ihnen?« Ijada schaute zu dem Marschall mit dem goldenen Gürtel hinüber und wies dann auf die versammelten Geister.

»Ich bin ihr letzter, wahrer Geheiligter König. Sie müssen mir folgen.«

»In die Verdammnis?«, stellte sie ihn entrüstet zur Rede. »Sollen sie ein zweites Mal für Euch sterben? Was für ein König seid Ihr eigentlich?«

»Ich schulde Euch gar nichts. Nicht einmal eine Erklärung.«

»Ihnen schuldet Ihr alles!«

Er konnte sich nicht von ihr abwenden, solange seine Gesichter rings um den Schädel durcheinander jagten, aber zumindest drehte er die Schultern von ihr fort. »Es ist vorbei. Es ist schon lange vorbei.«

»Ist es nicht

Er fuhr wieder herum und stieß wütend hervor: »Sie werden mir in die Dunkelheit folgen, und den Göttern, die sich mir verweigert haben, werden auch wir uns verweigern. Verdammnis und Rache. Sie haben mich zu dem gemacht, der ich bin — und Ihr könnt es nicht ungeschehen machen.«

»Ich nicht …« Sie zögerte und wies dann auf das Banner, an dem der Marschall sich festhielt und zuhörte. Dann hob sie den Kopf und zeigte auf den Hügel, wo Wenzels Körper zusammengesunken lag und Fara schweigend und mit großen Augen daneben kniete. »Ihr seid gestorben, würde ich sagen. Der Tod beendet die Königswürde, wie auch alles andere zurückbleibt, was man in der materiellen Welt angesammelt hat. Wir alle gehen nackt und gleich zu den Göttern, wie bei jeder anderen Geburt, nur mit unseren Seelen und dem, was wir daraus gemacht haben. Und dann kürt die Versammlung der Sippen den neuen König.« Herausfordernd blickte sie die Geister an. »Oder nicht?«

Ein sonderbares Rascheln lief durch die Reihen der Wiedergänger. Der Marschall verfolgte die Szene mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck, einer Mischung aus Kummer und ruchloser Freude. Ingrey wurde sich bewusst, dass dieser Mann Rossflutens erster königlicher Bannerträger gewesen sein musste, der an der Seite seines Herrn auf dem Blutfeld gefallen war. Ohne Zweifel lag sein Körper unter demselben Hügel begraben, denn Rossfluten hatte berichtet, dass man sein Banner zerbrochen und hinter ihm in die Grube geworfen hatte. Und dieser Krieger hätte es niemals aufgegeben, solange noch Leben in ihm war. Der königliche Bannerträger hätte das geheiligte Königtum in Gewahrsam nehmen sollen, um es zur nächsten Versammlung zu bringen und an den nächsten König zu übergeben — aber der große, unterbrochene Zauber hatte das Königtum stattdessen bis in diese ferne, unfreundliche Zukunft getragen.

»Ihr seid gestorben«, beharrte Ijada. »Dies hier ist eine Versammlung der Sippen des Alten Weald, die letzte, die es jemals geben wird. Sie können einen anderen König küren, einen, der sie nicht über den Tod hinaus verraten wird.«

Rossfluten schnaubte. »Es gibt keinen anderen.«

Das Rascheln wurde lauter und lief wie ein Feuer ringsum durch die Menge, bis es wieder am Ausgangspunkt anlangte. Der Marschall richtete sich auf und grüßte dann Ijada mit dieser eigenartig verschlungenen heiligen Geste. Ein Lächeln legte sich auf seine geisterhaften Lippen. Er ließ das Banner fallen. Ijada fing es auf und hielt es fest.

Augenblick, dachte Ingrey. Wir Lebenden können diese geisterhaften Erscheinung nicht berühren. Sie fließen wie Wasser durch unsere Finger …

Ijada packte die Standarte mit beiden Händen und schüttelte sie mit einem heftigen Ruck. Über ihrem Kopf entfaltete sich das Banner und breitete sich in der windstillen Luft aus. Ein Wolfskopf fletschte darauf die Zähne, das Zeichen der Wolfengrunds in Schwarz auf Rot.

Ingrey blinzelte aus seinen menschlichen Augen zu dem Banner empor und kam benommen auf die Füße. Er war wieder zurück in seinem Körper, und es fühlte sich verblüffend an. Er atmete ein. Sein Wolf war fort … Nein! Er berührte seine Brust. Er ist hier drin. Heulte freudig durch seine Adern. Und da war noch etwas anderes … Eine Verbindung verlief zwischen ihm und Rossfluten: Jener Kanal zwischen Ingrey und Ijada, den Rossfluten geschaffen, gebrochen und dann wieder an sein Königtum gebunden hatte. Nun schien eine Anspannung durch diesen Kanal zu laufen, wurde vor- und zurückgeschleudert und nahm mit jedem Mal an Kraft zu. Der Zug zwischen ihnen war gewaltig, erschöpfend.

Rossfluten griff nach unten und zerrte Fara auf die Füße. Dann schloss er ihre Finger fester um den Schaft seiner Standarte. »Halt fest!« Sie starrte ihn verängstigt an und umklammerte das Banner, als hinge ihr Leben davon ab. Auf diesem Fundament, diesem Hügel aus Tod und Leid, entfaltete das alte Königtum eine ungeheure Kraft.

Ingrey befeuchtete sich die Lippen und räusperte sich. Er tastete nach seiner Zauberstimme: »Was hast du zu sagen, Fora?«

Er konnte spüren, wie Rossflutens Schweigebann von ihrem Gesicht fortsprang und davonwirbelte wie eine losgelassene Metallfeder. Fara holte tief Luft.

Rossfluten wandte sich ihr zu, und zum ersten Mal kam Wenzels Gesicht gänzlich an die Oberfläche. Er streckte eine Hand nach ihr aus. »Fara …?« Seine jugendliche Stimme zitterte. »Meine Gemahlin …?«

Fara zuckte zusammen, wie von einem Armbrustbolzen getroffen. Schmerzerfüllt schloss sie die Augen. Öffnete sie wieder. Blickte Ijada an, dann Ingrey. Schließlich den gespenstischen Wiedergänger vor ihr. »Ich habe versucht, dir eine Gemahlin zu sein«, flüsterte sie. »Aber du hast niemals versucht, mir ein Gemahl zu sein.«

Und sie senkte die Spitze der Standarte zu Boden, sodass das graue Tuch sich wie eine Lache ausbreitete. Dann setzte sie den Fuß auf das morsche Holz und brach es entzwei.

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