Kapitel Vierzehn

Als Ingrey dort ankam, war der Tempelvorplatz bereits überfüllt von Trauergästen: solchen, die bei Hofe eine Rolle spielten, und solchen, die dort gerne eine Rolle gespielt hätten. Er konnte einige von Gescas Männern an den Rändern der Menge ausmachen, was darauf schließen ließ, dass Lord Hetwar sich bereits im Tempel aufhielt. Ingrey beschleunigte seine Schritte und bahnte sich mit den Schultern einen Weg durch das Treiben. Diejenigen, die ihn erkannten, gingen ihm eilig aus dem Weg.

Der Himmel war von einem klaren, herbstlichen Blau, und Ingrey ließ erleichtert die Schultern sinken, als er aus der Sonne in den Schatten des säulengetragenen Vordaches trat. Sein bestes Hofgewand war schwer und ein wenig zu warm, und der düstere, ärmellose Mantel wirbelte um die Knöchel und verfing sich immer wieder am Schwertgehänge. Die hellen Strahlen fielen auch in den offenen Innenhof, wo das heilige Herdfeuer hoch auf seinem Sockel brannte. Ingrey blinzelte, um seine Augen vom Hellen ins Dunkel und wieder ins Helle anzupassen.

Er erspähte Lady Hetwar, in Begleitung von Gesca und Hetwars ältestem Sohn. Ingrey trat zu ihr hin und verbeugte sich. Sie bedachte ihn mit einem grüßenden Nicken und einem wohlgefälligem Blick auf seine Kleidung. Dann rückte sie ein wenig beiseite, sodass er als Gefolgsmann den ihm gebührenden Platz neben Gesca einnehmen konnte. Gesca bedachte ihn mit einem beunruhigten Seitenblick, ließ aber keine weiteren verräterischen Regungen erkennen, die auf ihr letztes, angespanntes Zusammentreffen hindeuteten. Ingrey machte sich Hoffnungen, dass Gesca den unheimlichen Zwischenfall für sich behalten hatte.

Auf der anderen Seite des Sockels erspähte Ingrey den Ritter Ulkra sowie einige weitere von Prinz Bolesos höher gestellten Gefolgsleuten. Gut — der verbannte Haushalt war also wie befohlen in Ostheim eingetroffen. Ulkra nickte Ingrey höflich grüßend zu, doch die meisten Gefolgsleute, die mit ihm den Wagen des Prinzen begleitet hatten, wichen seinem Blick aus — ob sie sich nun seiner Verachtung bewusst waren oder ob seine Anwesenheit sie beunruhigte, vermochte Ingrey nicht zu sagen.

In einem Durchgang begann ein Tempelchor zu singen. Der Widerhall ließ die reinen, harmonischen Stimmen angemessen entrückt und klagend klingen. Gemessenen Schrittes traten die singenden Akolythen in den Hof: fünf mal fünf an der Zahl, ein Quintett für jeden der Götter, in blauen, grünen, roten, grauen und weißen Roben. Der Erzprälat von Ostheim folgte ihnen würdevoll. Hinter ihm trugen sechs der höchstgestellten Herren die Bahre mit Bolesos Leichnam. Hetwar war unter ihnen, dazu beide Keilerstritt-Brüder und drei weitere Kurgrafen.

Ingrey ging davon aus, dass Bolesos Leiche unter den parfümierten, edlen Gewändern noch fest mit mehreren Lagen kräutergefüllter Bandagen umwickelt war, auch wenn sein aufgequollenes Gesicht frei zutage lag. Die Verzögerung bei der Bestattung hatte die Verwesung so weit voranschreiten lassen, dass eigentlich ein geschlossener Sarg vorzuziehen gewesen wäre. Doch der Tod eines so hochgeborenen Prinzen erforderte Zeugen, je mehr, desto besser, damit später nicht Betrüger und Hochstapler das Land in Unruhe versetzen konnten.

Die engsten Angehörigen kamen als Nächstes. Der Fürstmarschall Biast, prachtvoll gekleidet, doch mit müdem Gesicht, wurde von Symark begleitet, der die Standarte des Fürstmarschalls mit sich führte. Der Wimpel war zum Zeichen der Trauer fest um den Schaft gewickelt worden. Dahinter stützte der Graf von Rossfluten seine Ehefrau, die Prinzessin Fara. Ihr dunkles Gewand war so schlicht, dass es schon streng wirkte; sie trug die braunen Haare zurückgebunden und bar jeglicher Juwelen oder Bänder, und ihr Gesicht war kreidebleich. Sie war nicht so groß wie ihr Bruder, und auch der vorspringende Kiefer der Hirschendorns war bei ihr nur in Ansätzen vorhanden. Sie war keine Schönheit, aber eine Prinzessin, und ihr stolzes Auftreten und ihre Ausstrahlung glichen für gewöhnlich aus, was ihr an anderer Stelle fehlen mochte. Aber heute wirkte sie einfach nur kränklich und verhärmt.

Rossflutens Geisterpferd schien so tief unter seinem Herzen zusammengepresst zu ruhen, dass man es für eine bloße düstere Stimmung hätte halten können. Ich muss herausfinden, wie Wenzel das anstellt. Ingrey verstand allmählich, wie Wenzel sich so lange den geringeren Sehenden hatte entziehen können, doch er fragte sich, was es Wenzel gekostet haben mochte.

Ingrey bemerkte mit Erleichterung, dass man den Geheiligten König nicht von seinem Krankenbett herbeigeschleift und auf irgendeiner Sänfte oder Trage bei der Bestattung seines Sohnes vorgeführt hatte. Das hätte zu sehr danach ausgesehen, als würde auf die eine Bahre noch eine weitere folgen.

Ingrey schloss sich Lady Hetwar an, als sie ihren Platz in der Prozession einnahm, die in den Schrein des Sohnes einrückte. Das große, gepflasterte Gewölbe füllte sich. Schaulustige versammelten sich und spähten durch den Torbogen vom Innenhof herein. Die hohen Herrschaften setzten die Bahre vor dem Altar ab, der Chor stimmte eine weitere Hymne an, und Erzprälat Fritine trat vor, um die Zeremonie zu Bolesos Abschied zu leiten. Ingrey stellte sich breitbeiniger hin, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und bereitete sich darauf vor, die Trauerfeier über sich ergehen zu lassen. Im Großen und Ganzen — und seiner Ansicht nach glücklicherweise — beschränkten die Redner sich auf kurze, förmliche Ansprachen. Niemand nahm auf die beschämenden Umstände Bezug, unter denen der Prinz zu Tode gekommen war, und selbst Hetwar beschränkte sich auf einige Floskeln über tragisch unterbrochene junge Leben.

Geraschel war vom Innenhof zu hören, als die Menge sich teilte und die heiligen Tiere hindurchließ. Drei der angespannt aussehenden Tierpfleger, die sie vorführten, kannte Ingrey nicht. Fafa, der eindrucksvolle Eisbär, war durch eine bemerkenswert kleine, langhaarige weiße Katze ersetzt worden, die sich friedlich in den Armen einer neuen Hüterin zusammenrollte. Der Junge mit dem kastanienbraunen Fohlen war allerdings derselbe wie gestern. Während er seine Aufmerksamkeit auf das Tier und den Erzprälaten gerichtet hielt, fiel sein Blick über Lady Hetwars Kopf hinweg auch auf Ingrey, und in erschrockenem Wiedererkennen riss er die Augen auf.

Mit äußerster Umsicht wurde jedes Tier an die Bahre geführt, um die Aufnahme von Bolesos Seele durch den betreffenden Gott, so weit gegeben, anzeigen zu können. Keiner erwartete ernsthaft ein solches Zeichen von der blauen Henne der Frühlingstochter oder dem grünen Vogel der Sommermutter, doch als das kastanienbraune Fohlen nach vorne geführt wurde, machte sich gespannte Erwartung breit. Die Reaktion des Pferdes war kaum merklich; Gleiches galt für den grauen Hund und die weiße Katze. Die Hüter der Heiligen Tiere blickten besorgt drein. Biast brütete verbissen, und Fara schien der Ohnmacht nahe.

War Bolesos Seele demnach verdammt und verloren? War sie zurückgewiesen vom Herbstsohn, der seine beste Hoffnung gewesen war? War sie selbst vom Bastard nicht gewünscht? War sie dazu verurteilt, als verblassender Geist dahinzutreiben? Oder war sie, verunreinigt von den Geistern der Tiere, die er geopfert und in sich aufgenommen hatte, zwischen der materiellen und der spirituellen Welt gefangen, in einer eisigen und ewigen Qual, wie Ingrey es einmal Ijada gegenüber beschrieben hatte?

Der Erzprälat winkte Biast, Hetwar und den Gelehrten Lewko zu sich — Letzterer hatte sich so unauffällig im Hintergrund gehalten, dass er Ingrey zuvor überhaupt nicht aufgefallen war. Nach einer geflüsterten Unterhaltung führten die Tierpfleger ihre Schützlinge erneut der Reihe nach vor die Bahre.

Die Hitze und Anspannung waren plötzlich zu viel für Ingrey. Der Saal schwankte und verschwamm vor seinen Augen. Seine Rechte pochte. So still er konnte, trat er an die Wand zurück, um die Schultern gegen den kalten Stein stützen zu können.

Doch es reichte nicht. Als das kastanienbraune Hengstfohlen erneut mit klappernden Hufen nach vorne schritt, verdrehte er die Augen und sank auf dem Pflaster zusammen, fast lautlos, nur begleitet vom schwachen Klirren seines Schwertgehänges.


Und dann fand er sich unvermittelt an jenem anderen Ort wieder, in jenem grenzenlosen Raum, den er schon einmal betreten hatte, um sich einem Kampf zu stellen. Nur schien es diesmal kein Kampf zu sein, zu dem er gerufen wurde. Er trug noch immer die höfischen Gewänder, und sein Kiefer blieb menschlich …

Aus einer Allee herbstduftender Bäume trat ein rothaariger Jüngling hervor. Er war hoch gewachsen und wie zur Jagd gekleidet, in Leder und eng anliegenden Hosen, mit Bogen und Köcher auf dem Rücken. Seine Augen glänzten und funkelten wie ein Fluss zwischen den Bäumen. Seine Nase war mit Sommersprossen gesprenkelt, der üppige Mund zu einem Lachen geöffnet. Sein Haupt war mit Herbstlaub gekrönt, braune Eiche, roter Ahorn, gelbliche Birke, und er schritt ausgreifend dahin. Er spitzte die Lippen zu einem Pfiff, und der scharfe Laut schnitt wie ein Pfeil durch Ingreys Geist.

Ein großer dunkler Wolf mit silbernen Fellspitzen löste sich aus dem Dunst und eilte an die Seite des jungen Mannes. Das Maul stand ihm offen, verwegen hing die Zunge heraus. Das große Tier kauerte sich zu Füßen des Jünglings zusammen und leckte ihm das Bein, rollte sich auf die Seite und ließ zu, dass der Rothaarige sich vorbeugte und ihm den Bauch tätschelte. Der Wolf trug ein Halsband aus Herbstblättern, ähnlich dem Schmuck des jungen Mannes. Auch der Wolf schien zu lachen, als der Jüngling sich wieder erhob und breitbeinig stehen blieb.

Deutlich würdevoller, aber immer noch von Eifer erfüllt, schritt der gefleckte Leopard herbei. Mit einem verwirrten Ausdruck schritt Ijada neben ihm her. Vom Hals des Leoparden hing eine Girlande aus Herbstblumen, purpurrot und von intensivem Gelb, und eine daraus geflochtene Kette reichte wie eine Leine bis zu Ijadas Handgelenk — doch wer hier wen an der Leine führte, war nicht so offensichtlich.

Ijada trug wieder das gefleckte gelbe Kleid, in dem Ingrey sie zuerst gesehen hatte — das Kleid, das sie auch in der albtraumhaften Nacht von Bolesos Tod getragen hatte. Doch die Blutflecken darauf waren frisch und rot und schimmerten wie aufgenähte Rubine über ihrer Brust. Beim Anblick des strahlenden Gesichtes des Jünglings änderte sich ihr Ausdruck von verwirrt zu verwundert, begeistert und erschrocken. Der Leopard rieb sich an den Beinen des jungen Mannes und brachte ihn beinahe zu Fall. Sein tiefes Schnurren schnitt durch die Luft wie ein Tremolo.

Der Jüngling wies in eine Richtung, und Ingrey und Ijada wandten den Kopf.

In qualvoller Erstarrung stand Prinz Boleso vor ihnen; er trug einen kurzen Mantel, seine wächserne Haut war mit einem Geschmier aus Farbe und Pulvern bedeckt wie in der Nacht seines Todes. Die gedämpften Farben verursachten Ingrey Kopfschmerzen. Sie harmonierten nicht und ließen Ingrey an einen Unwissenden denken, der die Worte einer fremden Sprache hörte und mit ähnlich klingenden, jedoch unsinnigen Silben antwortete; oder an ein Kind, das noch nicht schreiben kann, doch eifrig eine Seite mit sinnlosen Krakeleien füllt, um die Handschrift des älteren Bruders nachzuahmen.

Bolesos Haut wirkte auf Ingrey durchscheinend. Im Käfig seiner Rippen war eine wirbelnde Finsternis; sie bellte und jammerte, grunzte und winselte. Da war ein Eber und ein Hund, Wolf, Hirsch, Dachs, Fuchs, Falke und sogar eine verängstigte Hauskatze. Ein früher Versuch? Es steckte Macht in dieser Ansammlung, das schon; aber noch mehr Chaos und ein heilloses Krakeel. Er erinnerte sich an Ijadas Beschreibung: Sein Verstand war eine einzige heulende Menagerie.

Sanft sagte der Gott: »Er kann Meine Tore nicht durchschreiten, solange er diese dort in sich trägt.«

Ijada trat vor, die Hände in zaghaftem Flehen ausgestreckt. »Was wünscht Ihr von uns, Herr?«

Die Augen des Gottes ruhten auf ihnen beiden. »Befreit ihn, wenn es euch recht ist, damit er eintreten kann.«

»Ihr lasst uns über das Schicksal eines anderen entscheiden?«, fragte Ijada atemlos. »Nicht nur über sein Leben, sondern über seine Ewigkeit?«

Der Herbstsohn neigte leicht sein bekränztes Haupt. »Du hast schon einmal für ihn entschieden, nicht wahr?«

Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder, kniff ein wenig die Lippen zusammen in Furcht oder Ehrfurcht.

Auch er selbst hätte diese Ehrfurcht empfinden sollen, nahm Ingrey an. Hätte auf die Knie fallen sollen. Stattdessen fühlte er sich benommen und wütend. Mit einem Stich des Bedauerns beneidete er Ijada ebenso um ihre Begeisterung, wie er sich darüber ärgerte. Es war, als würde Ingrey die Sonne durch ein Nadelloch in einem Leinwandtuch betrachten, während Ijada in ihrem Glanz badete. Doch wenn ich mehr sähe, würde dieses Licht mich dann blind werden lassen?

»Ihr würdet … Ihr würdet Ihn in Eurem Himmel aufnehmen, Herr?«, fragte Ingrey verblüfft und entrüstet zugleich. »Er hat getötet … nicht, um sich zur Wehr zu setzen, sondern aus Bosheit und im Wahnsinn. Er hat versucht, sich Kräfte anzueignen, die ihm von Rechts wegen nicht zustehen. Und wenn ich richtig vermute, so hat er sogar den Tod des eigenen Bruders geplant. Er hätte Ijada vergewaltigt, wenn er es geschafft hätte, und erneut zu seinem Vergnügen getötet.«

Der Sohn hob die Hände. Sie schienen zu leuchten, als würde die herbstliche Sonne darauf spielen, zurückgeworfen von einer funkelnden Wasserfläche. »Meine Gnade fließt hiervon wie ein Strom, Wolfsherr. Willst du, dass ich so sparsam davon abmesse wie aus dem Tropfglas eines Apothekers und einem jeden Menschen nur nach seinen Verdiensten zuteile? Würdest du bis zu den Hüften in klarem Wasser stehen und es doch mit knappem Löffel abmessen für all jene, die verdurstend am trockenen Ufer liegen?«

Ingrey stand beschämt und schweigend da, doch Ijada hob den Kopf und sagte entschlossen: »Nein, Herr. Ich jedenfalls will das nicht. Gebt ihm von dem Fluss. Lasst ihn in Euren donnernden Wasserfall eintauchen. Sein Verlust wäre kein Gewinn für mich, noch vermag das düstere Schicksal, zu dem er sich verurteilt hat, mir Freude zu bereiten.«

Der Gott bedachte sie mit einem strahlenden Lächeln. Tränen liefen ihr wie Silberfäden übers Gesicht, wie Segnungen.

»Es ist ungerecht«, flüsterte Ingrey. »Ungerecht gegenüber all denen, die … die versuchen, es richtig zu machen.«

»Doch ich bin nicht der Gott der Gerechtigkeit«, murmelte der Sohn. »Würdest du lieber Meinem Vater gegenüberstehen?«

Ingrey schluckte nervös. Er war sich nicht sicher, ob es nur eine rhetorische Frage war oder was geschehen würde, wenn er darauf mit Ja antwortete. »Dann soll Ijada die Entscheidung treffen. Ich werde mich damit abfinden.«

»Ach, es wird mehr von dir gefordert sein, Wolfsherr, als nur dabeizustehen und es zu erdulden.« Der Gott wies auf Boleso. »Er kann nicht durch meine Tore treten, solange er mit all diesen verstümmelten Geistern beladen ist. Dieser Durchgang ist nicht für sie bestimmt. Löse sie von ihm, Ingrey.«

Ingrey blickte durch das Gitter von Bolesos Rippen hindurch. »Diesen Käfig hier aufräumen?«

»Wenn du diese Metapher vorziehst, ja.« Die kupferroten Brauen des Gottes zuckten, doch die Augen darunter funkelten in düsterer Belustigung. Der Wolf und die Leopardin saßen nun auf beiden Seiten der schlanken, bestiefelten Beine und musterten Ingrey stumm aus starren Augen.

Ingrey schluckte. »Wie?«

»Ruf sie heraus.«

»Ich … verstehe nicht.«

»Tu, was deine Ahnen füreinander getan haben, in den reinigenden Sterberiten des Alten Weald. Wusstest du das nicht? Während sie noch jeden Leichnam zur Bestattung gewaschen und verhüllten, haben die Schamanen der alten Sippen sich um die Seelen der Ihren gekümmert. Ein jeder half seinem Kampfgefährten am Ende seines Lebens durch Unsere Tore, ob es nun ein einfacher Totemkrieger war oder ein mächtiger Magier; und nahm selbst auch am Ende seines Lebens diese Dienste in Anspruch. Eine Kette von Hand zu Hand, von Stimme zu Stimme, geläuterte Seelen in einem endlosen Strom.« Der Stimme des Gottes wurde sanfter. »Ruf meine unglücklichen Geschöpfe heraus, Ingrey von Wolfengrund. Singe sie zur ihrer letzten Ruhe.«

Ingrey stand Boleso gegenüber. Die Augen des Prinzen waren weit und flehentlich aufgerissen. Ijadas Augen waren wohl auch weit und flehentlich aufgerissen in jener Nacht. Wie viel Mitleid hat sie von Euch empfangen, mein ruchloser Prinz?

Außerdem kann ich gar nicht singen.

Ijadas Blicke waren nun auf ihn gerichtet, wie Ingrey erkannte. Sie strahlten Hoffnung und Vertrauen aus.

Ich habe kein Erbarmen in mir, verehrte Dame. Also werde ich mir welches von Euch borgen.

Er holte tief Luft und griff tiefer in sein Innerstes als je zuvor. Halte es so einfach wie möglich. Er wählte mit dem Auge einen der Wirbel aus, streckte die Hand vor und befahl: »Komm.«

Der erste Tiergeist wirbelte durch seine Finger hindurch aus Boleso hervor, verwirrt und scheu, und huschte davon. Ingrey blickte den Gott an. »Wo …?«

Eine Geste dieser strahlenden Finger bestätigte ihn. »Es ist gut. Mach weiter.«

»Komm.«

Einer nach dem anderen strömten die dunklen Wirbel aus Boleso hervor und verschwanden in der Nacht. Dem Morgen. Was immer das hier war. Sie alle flossen in ein Jetzt irgendwo jenseits der Zeit. Und schließlich stand Boleso vor ihm, immer noch schweigend, doch von allen finsteren Schlieren befreit. Der rothaarige Gott schien nun auf dem kastanienbraunen Hengstfohlen zu reiten. Er streckte dem Prinzen die Hand entgegen. Boleso zuckte zusammen, blickte in Zweifel und Furcht empor, und Ijada hielt den Atem an. Dann aber saß er still hinten auf. Sein Gesicht zeigte tiefes Erstaunen, wenn auch wenig Freude.

»Ich denke, seine Seele ist noch immer verwundet, Herr«, stellte Ingrey fest, der mit einem Anflug von Verstehen zuschaute.

»Ah. Aber dort, wo wir hingehen, kenne ich einen hervorragenden Heilkundigen für ihn«, erwiderte der Gott mit sinnverwirrendem Lachen.

»Herr …«, setzte Ingrey an, als der Gott sich anschickte, das ungezäumte Pferd zu wenden.

»Ja?«

»Wenn ein jeder Schamane der Sippen den vorangegangenen hinausgeleitet hat, und vom nächsten geleitet wurde …« Er schluckte. »Was geschieht dann mit dem letzten aller Schamanen?«

Der Herr des Herbstes blickte mit einem rätselhaften Ausdruck auf ihn herab. Er streckte einen seiner strahlenden Finger aus und ließ ihn dicht vor Ingreys Stirn verharren. Einen Augenblick lang glaubte Ingrey, er würde nicht antworten, dann aber flüsterte er: »Das müssen wir erst noch herausfinden.«

Er drückte die Fersen in die Flanken des jungen, kastanienbraunen Hengstes und war fort.


Ingrey blinzelte.

Er lag auf dem harten Pflaster, den Körper halb ausgestreckt, und starrte zu der Kuppel über dem Schrein des Sohnes empor — auf einen Ring erschrockener Gesichter, die ihrerseits zu ihm herunterstarrten: Gesca, eine besorgte Lady Hetwar, einige Männer, die er nicht kannte.

»Was ist geschehen?«, fragte Ingrey.

»Ihr seid umgekippt«, stellte Gesca mit einem Stirnrunzeln fest.

»Nein — was geschah an der Bahre? Gerade eben?«

»Der Herr des Herbstes hat Prinz Boleso aufgenommen«, erklärte Lady Hetwar mit einem Blick über die Schulter. »Dieses hübsche rote Hengstfohlen hat ihn von oben bis unten mit der Schnauze liebkost. Es war sehr eindeutig, zu jedermanns Erleichterung.«

»Ja. Die Hälfte meiner Bekannten haben darauf gewettet, dass er zum Bastard gehen würde.« Ein schiefes Grinsen erschien auf Gescas Gesicht.

Lady Hetwar warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Das ist kein schicklicher Anlass für Wetten, Gesca.«

»Nein, Herrin«, stimmte Gesca zu und verkniff sich pflichtschuldigst sein Grinsen.

Ingrey schob sich hoch, bis er mit dem Rücken gegen die Wand dasaß. Nach dieser Anstrengung drehte sich ihm der Raum erneut vor Augen. Er presste die Lider zusammen und öffnete sie wieder. Während seiner Vision hatte er sich körperlos gefühlt und jegliches Empfinden verloren; jetzt aber lief ein Schaudern durch seinen Leib, obwohl ihm nicht kalt war. Es war, als hätte sein Körper einen Schock erlitten, nicht aber sein Geist.

Lady Hetwar beugte sich vor und drückte fürsorglich die Hand gegen seine feuchte Stirn. »Seid Ihr krank, Lord Ingrey? Eure Haut fühlt sich sehr warm an.«

»Ich …« Er wollte gerade jede Schwäche entschieden abstreiten, besann sich dann aber eines Besseren. Er wünschte sich nichts mehr, als diesem überladenen Ort so rasch wie möglich zu entfliehen. »Ich fürchte ja, Herrin. Wenn Ihr mich bitte entschuldigen wollt, auch bei Eurem Herrn Gemahl.« Ich muss Ijada aufsuchen. Unsicher erhob er sich und ertastete sich den Weg die Wand entlang. »Ich will nur ungern hier im Tempel mein Frühstück wieder hervorwürgen und inmitten dieser Zeremonie.«

»Allerdings nicht«, pflichtete sie inbrünstig bei. »Geht, rasch. Gesca, helft ihm.« Sie wartete gerade lang genug, um sich zu vergewissern, dass Gesca nach seinem Arm griff. Dann wandte sie sich wieder ihrem Sohn zu.

Drüben am Altar hatte der Chor seinen Gesang wieder aufgenommen. Er formierte sich erneut, um die Prozession nach draußen anzuführen, und die Leute nahmen raschelnd ihre Plätze ein. Ingrey war dankbar, dass er in dieser Geräuschkulisse untertauchen konnte. Er vermeinte, auf der anderen Seite der Menge den Gelehrten Lewko zu erkennen, der den Hals reckte und versuchte, die Ursache der Störung auszumachen, doch er wich dem Blick des Geistlichen aus. Dicht an der Wand entlang — halb zur Stütze, halb um dem Gedränge auszuweichen — floh er aus der Halle. Als er den Säulengang verließ, zog er Gesca schon hinter sich her.

»Lasst mich allein«, keuchte er und schüttelte Gescas Hand ab.

»Aber Ingrey, Lady Hetwar meinte …«

Es bedurfte nicht einmal der Zauberstimme: Sein finsterer Blick reichte aus, um Gesca zurückweichen zu lassen. Verwirrt blieb er stehen, während Ingrey sich über den belebten Platz schlängelte.

Als Ingrey die Treppen zur Königsstadt erreichte, bewegte er sich beinahe im Laufschritt. Er stürmte die endlosen Stufen hinunter, nahm immer zwei oder drei auf einmal, auch auf die Gefahr hin, kopfüber in die Tiefe zu stürzen. Als er den übermauerten Bach erreicht hatte, rannte er. Sein langer Mantel flatterte ihm um die Fersen. Als er an die Tür des schmalen Hauses hämmerte, die Hände auf die Knie gestützt und keuchend, hatte er die Lüge gegenüber Lady Hetwar fast zur Wahrheit gemacht: Sein Atem ging schwer, und ihn quälte eine würgende Übelkeit. Er stolperte durch die Tür, als der überraschte Pförtner sie öffnete.

»Lady Ijada … wo ist sie?«

Bevor der Pförtner etwas sagen konnte, beantwortete ein Poltern auf der Treppe seine Frage. Ijada eilte zu ihnen herab, und die Zofe hinter ihr rief: »Herrin, Ihr solltet nicht … kommt zurück und legt Euch wieder hin!«

Ingrey richtete sich auf und griff nach ihren Händen wie sie nach den seinen. »Hast du …«

»Ich habe gesehen …«

»Komm!« Er zog sie mit sich in den Salon. »Lasst uns allein!«, rief er über die Schulter zurück. Der Pförtner, sein Junge, Zofe und Dienstmädchen — sie alle stoben davon wie Blätter vor einem Windstoß. Ingrey schlug die Tür zu.

Sie fielen einander in die Arme, doch sie waren mehr von Grauen erfüllt als von einem Gefühle der Romantik. Ingrey wusste nicht, wer von ihnen beiden heftiger zitterte. »Was hast du gesehen?«

»Ich habe Ihn gesehen, Ingrey, ich habe Ihn gehört. Kein Traum diesmal, nicht nur ein Duft in der Dunkelheit … eine klare Vision im hellen Tageslicht.« Sie schob ihn von sich und blickte ihm ins Gesicht. »Und ich habe dich gesehen.« Ihr Gesicht nahm einen ungläubigen Ausdruck an, auch wenn dieser Unglaube offensichtlich nicht der Vision galt. »Du hast einem Gott von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, und dir ist nichts Besseres eingefallen, als mit Ihm zu streiten!« Sie packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »Ingrey!«

»Er hat Boleso …«

»Ich habe es gesehen! Ach, dank der Gnade des Sohnes wurde meine Sünde von mir genommen.« Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Auch durch deine Gnade, Ingrey. Ach, solch eine Tat …« Sie küsste sein Wangen, seine heiße Stirn, seine Lider.

Er rückte ein wenig von ihr ab und stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »So etwas tue ich nicht. Solche Dinge geschehen mir nicht!«

Sie starrte ihn an. »Sie geschehen dir ziemlich häufig, würde ich sagen.«

»Nein! Ja … Götter! Ich fühle mich wie ein spiritueller Blitzableiter in der Mitte eines Gewitters. Wunder … ich muss mich von den Wundern der Bestattungszeremonien fern halten. Sie ducken sich von ihren Zielen fort und fallen über mich her. Ich bin nicht, ich kann nicht …«

Sie drückte mit der linken Hand seine Rechte und blickte nach unten. »Oh!«

Sein Verband war wieder einmal blutdurchtränkt. Wortlos wandte sie sich der Anrichte zu, stöberte kurz in einer Schublade und brachte eine Leinenbandage zum Vorschein. »Komm, setz dich.« Sie führte ihn zum Tisch, entfernte den roten Fetzen von der Hand und umwickelte sie straffer.

»Du solltest einen Heilkundigen einen Blick darauf werfen lassen«, stellte sie fest und verknotete den Verband. »Das ist nicht in Ordnung so.«

»Da kann ich dir nicht widersprechen.«

Sie beugte sich vor und wischte eine schweißgetränkte Haarsträhne aus seiner Stirn. Ihr Blick suchte etwas in seinem Gesicht, doch er wusste nicht was. Ihre Züge wurden weicher. »Ich habe Boleso vielleicht ermordet …«

»Nein, nur getötet.«

»Aber dank deiner Hilfe habe ich zumindest nicht die Verdammnis seiner Seele auf mich geladen. Das ist doch etwas. Und nichts Geringes.«

»Nun ja, wenn du meinst.« Für sie, zumindest. Wenn seine Taten Ijada etwas bedeuteten, hatte es sich vielleicht doch gelohnt. Ijada und der Sohn. »Das war es also. Der Grund, aus dem wir hierher gejagt wurden. Bolesos unverdiente Erlösung. Wir haben dem Willen des Gottes Genüge getan, und nun ist es vorbei. Wir sind wieder unserem eigenen Schicksal überlassen.«

Ihre Mundwinkel hoben sich. »Das ist wieder typisch Ingrey. Immer nur das Schlechte sehen.«

»Irgendwer muss doch vernünftig bleiben inmitten all dieses Wahnsinns.«

Nun hob sie auch noch die Brauen. Sie lachte ihn aus! »Vollkommene Düsternis und Trostlosigkeit ist nicht eben das Ergebnis von Vernunft. Auch die anderen Farben sind wirklich. Es war auch meine unverdiente Erlösung.«

Eigentlich hätte er sich gekränkt fühlen sollen und nicht von ihrem Lachen getragen, wie bei einem Bad in einer heißen, sprudelnden Quelle.

Sie atmete durch. »Ingrey! Wenn schon die Gefangenschaft einer einzigen Seele, die von einem Tiergeist in der materiellen Welt festgehalten wird, den Göttern so viel Schmerz bereitet, dass sie ein Wunder formen, mit so unwahrscheinlichen Helfern wie uns — was müssen viertausend solcher Seelen dann für sie bedeuten?«

»Du denkst an den Wehen Wald? An deinen Traum?«

»Ich glaube nicht, dass wir schon fertig sind. Ich glaube, wir haben noch nicht einmal richtig angefangen

Ingrey befeuchtete sich die Lippen. Er konnte ihrem Gedankengang folgen, o ja. Er wünschte, es würde ihm nicht so leicht fallen. Wenn schon die Befreiung einer einzigen solchen Seele für ihn eine so entsetzliche Erfahrung gewesen war … »Und das werden wir auch nicht, wenn ich verbrannt werde und du aufgehängt. Ich will nicht sagen, dass du Unrecht hast. Aber immer schön der Reihe nach!«

In leidenschaftlichem Widerspruch schüttelte sie den Kopf. »Ich verstehe immer noch nicht, was von mir gewünscht wird. Aber ich habe gesehen, was von dir erwünscht ist! Wenn dein erhabener Wolf dich zu einem wahren Schamanen des Weald macht, den allerletzten — und das hat die Stimme des Gottes selbst so verkündet —, bist du allerdings ihre letzte Hoffnung. Die Seelen der Männer, die auf dem Blutfeld fielen, wurden niemals geläutert, niemals von ihren Tiergeistern befreit Wir müssen dorthin.«

Er drückte ihre Hände. »Leider stehen dem noch einige Hindernisse entgegen. Du wurdest in Gewahrsam genommen und stehst vor einem Prozess, und ich bin für deinen Verbleib verantwortlich.«

»Du hattest mir vorher schon angeboten, mir bei der Flucht zu helfen. Und jetzt weiß ich, wohin ich mich wenden muss! Verstehst du das nicht?« Ihre Augen loderten.

»Und was dann? Man würde uns verfolgen und zurückschaffen, bevor wir irgendetwas erreichen können. Dein Fall stünde noch schlechter als zuvor, und ich wäre von dir getrennt. Wir sollten zuerst unsere Probleme in Ostheim klären und dann aufbrechen. Wenn deine Krieger schon seit vierhundert Jahren auf dich warten, können sie gewiss auch noch ein wenig länger ausharren.«

»Können sie das?« Nachdenklich kniff sie die Augenbrauen zusammen. »Weißt du das? Woher?«

»Wir müssen uns immer nur ein einziges Problem vornehmen, und das drängendste zuerst.«

Sie legte die Rechte auf ihr Herz. »Für mich fühlt sich das sehr drängend an.«

Ingrey biss die Zähne zusammen. Nur weil sie leidenschaftlich, schön und liebevoll war — und von den Götter berührt —, hieß das noch lange nicht, dass sie immer Recht hatte.

Mehr als nur von den Göttern berührt. Durch wundersames göttliches Eingreifen erlöst. Kein Wunder, dass sie in diesem Augenblick förmlich in Flammen zu stehen schien. In ihrem Glanz drohte er dahinzuschmelzen.

Doch erlöst war nur ihre Seele von ihren Sünden. Ihr Leib und ihr Verbrechen waren noch immer der Welt der Materie und der Politik von Ostheim ausgeliefert. Wozu immer er ausersehen war — gewiss sollte er ihr nicht bei jedem törichten Einfall hinterherlaufen.

Er holte Atem. »Ich habe deinen Traum von den Wäldern nicht geträumt. Ich habe nur deine lebhafte Beschreibung dieses Vorgangs als Anleitung. Geister schwinden dahin, wenn sie nicht mehr von ihren früheren, lebenden Leibern zehren können. Warum ist das bei diesen hier nicht der Fall? Glaubst du, dass sie seit vierhundert Jahren in diesen verdammten Bäumen feststecken?«

Er hatte es halb als Scherz gemeint, doch sie nahm es vollkommen ernst. »Ich glaube schon. Oder etwas in der Art. Irgendetwas Lebendiges muss sie in der materiellen Welt unterhalten. Erinnerst du dich, was Wenzel erzählt hat? Über das große Ritual, das von Audar unterbrochen wurde?«

»Ich habe kein großes Vertrauen in Wenzels Worte.«

Sie bedachte ihn mit einem zweifelnden Blick. »Er ist dein Vetter.«

Ingrey wusste nicht, ob dies als Argument für oder gegen den Grafen gemeint war.

»Ich verstehe Wenzel nicht«, fuhr Ijada fort. »Aber es hörte sich für mich nach der Wahrheit an. Es hallte in meinem Innersten wider. Ein großes Ritual, bei dem die Totemkrieger an das Weald selbst gebunden wurden, um von dessen Lebenskraft zu zehren, bis der Sieg errungen war.« Ein erschütterter und erschütternder Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. »Aber sie errangen niemals den Sieg, nicht wahr? Und das Weald, das schließlich zurückkehrte, war nicht mehr das, welches sie verloren hatten, sondern etwas Neues. Wenzel nannte es einen Verrat, obwohl ich es nicht so sehen kann. Es war nicht mehr ihre Welt, und es stand ihnen nicht mehr zu, diese Wahl zu treffen.«

Ein Klopfen erklang an der Eingangstür des schmalen Hauses. Ingrey zuckte überrascht zusammen. Die schleppenden Schritte des Pförtners waren zu hören, dann geflüsterte Stimmen. Die Worte waren durch die Wände hindurch nicht zu verstehen, doch der Tonfall klang protestierend. Ingreys Zähne schmerzten, so fest biss er sie aus Ärger über diese ungelegene Störung zusammen. Was nun?

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