Kapitel Sieben

Nachdem er sich im Gemeinschaftsraum seines Gasthauses eine Mahlzeit gesichert hatte, kehrte Ingrey auf sein Gemach zurück und ließ sich aufs Bett fallen. Er war nun schon anderthalb Tage zu spät dran, wenn er dem Rat der heilkundigen Schwester von Riedenswooge folgen und seinem Kopf nach dem schmerzhaften Schlag Ruhe gönnen wollte. Stumm und demütig leistete er ihr Abbitte. Aber trotz all seiner Erschöpfung konnte er an diesem sonnigen Nachmittag nicht einschlafen.

Es brachte wenig, geheime Vorbereitungen für Ijadas nächtliche Flucht zu treffen, wenn sie sich weigerte, aufzusteigen und loszureiten. Er musste einen Weg finden, sie zu überreden. Wenn ihr verborgenes Tier entdeckt wurde, würde man sie dann verbrennen? Er sah vor sich, wie die Flammen an ihrem Leib emporzüngelten, bösartige, orange lodernde Zärtlichkeiten, die den ölgetränkten Kittel in Brand setzten, den man solchen Gefangenen anzog.

Und er stellte sich vor, wie sie an einem Hanfseil von einem Eichenbalken hing, in furchtbarer, sinnloser Parodie eines Menschenopfers aus dem Alten Weald, das an einem heiligen Baum hing. Oder würden die königlichen Scharfrichter ihr eine Seidenschnur zubilligen, wie ihrem Leoparden, in Anerkennung ihres Standes? Bei den alten Stämmen hatte man mangels Seide für hochgeborene Delinquenten Seile aus einem schimmernden Garn genommen, das aus den Bastfasern von Brennnesseln geflochten wurde. So hatte er jedenfalls gehört. Denk an etwas anderes. Doch seine Gedanken drehten sich in düsterer Morbidität im Kreis.

Anfänglich waren die Menschenopfer des Alten Weald freiwillige Boten für die Götter gewesen. Geheiligte Kuriere, die Gebete in Stunden größter Not direkt in den Himmel tragen sollten, wenn bloße Worte in einen Abgrund gesprochen schienen und ungehört verhallten. Wie jetzt die meinen. Doch während generationenlanger Konflikte an der Ostgrenze war die Not der Stämme gewachsen — und auch ihre Ängste. Schlachten und Landstriche gingen verloren; die Sorgen wuchsen und die Urteilskraft schwand. Quantität ersetzte Qualität in jenen verzweifelten Tagen, und heldenhafte Freiwillige für diese heilige Aufgabe waren immer schwerer zu finden.

Sie schlossen diese Lücken durch die weniger Willigen, dann durch die gänzlich Unwilligen; und schließlich mit gefangenen Soldaten, Geiseln, entführten Trossknechten und Schlimmerem. Die heiligen Bäume trugen eine reiche Frucht. In einigen der schaurigen Lieblings-Märtyrergeschichten, wie die quintarischen Geistlichen sie erzählten, hatte Ingrey sogar gehört, dass man Kinder geopfert hatte. Feindliche Kinder. Und was für ein gottloser Geist kam wohl auf den Gedanken, ahnungslose Kinder als Feinde zu bezeichnen? Ganz am Ende hatten die Stammeszauberer des Alten Weald vielleicht sogar darüber nachgedacht, was für Gebete dieser endlose Strom an Menschenopfern eigentlich zu den Göttern getragen hatte, über die kummervollen Herzen ihrer Opfer.

Denk an etwas Sinnvolles, verflucht! Ijadas bissige Worte im Tempel schienen ihm wie Stechmücken unter die Haut zu dringen. Ihr müsstet Euch niemandem widersetzen und auch keine unangenehmen Wahrheiten aussprechen … Bei den fünf Göttern, was glaubte dieses närrische Mädchen, was er in Ostheim für einen Einfluss besaß? Er war selbst nur widerwillig geduldet, unter Hetwars schützender Hand. Ingrey verlieh dieser Hand eine spürbare Stärke, das war richtig. Aber das tat auch der Rest von Hetwars Garde. Womöglich verlieh er ihr auch einen etwas einzigartigeren und unterschwellig sehr wirksamen Hauch von übernatürlicher Bedrohung, aber in dem Netz der Macht, das der Siegelbewahrer gesponnen hatte, war Ingrey gewiss nur ein unbedeutender Faden. Er hatte niemals jemandem eine Gefälligkeit erwiesen und konnte deshalb jetzt auch keine Gefälligkeiten einfordern. Wenn er überhaupt die Möglichkeit hatte, Ijada zu retten, wäre sie spätestens dann verstrichen, wenn der Leichenzug die Stadttore erreichte.

Mit Unbehagen stellte er fest, dass seine Gedanken immer düsterer wurden, ohne dabei neue Lösungen aufzuzeigen. Irgendwann schlummerte er ein. Er schlief nicht gut, aber es war besser als das Herumwälzen vorher.


Er erwachte, als die Herbstsonne unterging, und begab sich sogleich wieder in Ijadas Gasthaus, um sie zum Abendgebet einzuladen.

»Ihr seid aber plötzlich fromm geworden«, flüsterte sie ihm zu und bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. Aber auf seinen verbissenen Gesichtsausdruck hin gab sie nach und begleitete ihn erneut zum Tempel.

Als sie auf den Knien vor dem Altar des Bruders knieten — sowohl die Halle der Mutter wie auch die der Tochter waren voll mit Betenden aus Rottwall —, fing er halblaut an zu sprechen: »Hört mir zu. Heute Abend muss ich entscheiden, ob wir morgen reiten oder verweilen. Ihr könnt Euch nicht einfach planlos in Euer Unglück treiben lassen, ohne auch nur den Versuch zu machen, eine Art Rettungsleine zum Ufer zu werfen. Ansonsten wird es die Leine werden, an der man Euch aufhängt, und es macht mich halb wahnsinnig, mir vorzustellen, dass Ihr an einer Schlinge baumelt wie Euer Leopard. Ich würde meinen, ihr hättet beide genug davon.«

»Ingrey, denkt doch nach«, erwiderte sie ebenso leise. »Selbst angenommen, ich könnte unbemerkt entkommen, wohin sollte ich mich wenden? Die Familie meiner Mutter kann mich nicht aufnehmen oder verstecken. Mein bedauernswerter Stiefvater … er ist nicht stark genug, um gegen so mächtige Gegner anzukämpfen, und außerdem wäre sein Haus das erste, wo man nach mir sucht. Eine Frau, eine Fremde, allein — ich wäre höchst auffällig und ein Opfer für alle, die Böses wollen.« Anscheinend hatte sie doch darüber nachgedacht.

Er holte tief Luft. »Was, wenn ich mit Euch komme?«

Es folgte eine lange Stille. Er schaute zur Seite und stellte fest, dass ihre Gesichtszüge wie versteinert waren und sie mit weit aufgerissenen Augen gerade nach vorne starrte. »Das würdet Ihr tun? Eure Truppe im Stich lassen und Eure Eide?«

Er biss die Zähne zusammen. »Vielleicht.«

»Wo sollen wir dann hingehen? Eure Verwandten können uns ebenfalls nicht aufnehmen, nehme ich an.«

»Ich würde unter gar keinen Umständen nach Birkenhain zurückkehren. Nein. Wir müssten den Weald vollständig verlassen, die Grenzen überqueren. Vielleicht zum Alvischen Bund — wir könnten über die nördlichen Berge in die Kantone fliehen. Oder nach Darthaca. Ich kann wenigstens Darthacan sprechen und schreiben.«

»Ich nicht. Ich wäre Eure stumme … was? Last, Dienerin, Gespielin, Liebchen?«

Ingrey errötete. »Wir könnten so tun, als wäret Ihr meine Schwester. Ich könnte schwören, Euch mit der entsprechenden Zurückhaltung zu begegnen. Ich würde Euch niemals anrühren.«

»Wie überaus verlockend.« Sie presste die Lippen zusammen.

Er hielt inne und fühlte sich wie jemand, der im Winter das Eis eines zugefrorenen Flusses überquert und das erste leise Knacken unter seinen Füßen hört. Was wollte sie mir mit dieser Bemerkung zu verstehen geben? »Ibranisch war die Sprache Eures Vaters, nehme ich an. Versteht Ihr das?«

»Ein wenig. Ihr?«

»Ein wenig. Wir könnten also versuchen, die Halbinsel zu erreichen. Chalion oder Ibra oder Brajar. Dort wäret Ihr nicht ganz so stumm.« Außerdem gab es dort Arbeit für einen Schwertkämpfer, hatte Ingrey gehört, in den endlosen Grenzkriegen mit den irrgläubigen Fürstentümern an der Küste, die nur vier Götter verehrten. Ausländische Freiwillige mussten dort wenige Fragen befürchten, solange sie nur den Fünfen huldigten.

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich habe heute Nachmittag viel nachgedacht, über das, was Hallana gesagt hat.«

»Über was genau? Sie hat die ganze Zeit geredet, über viele Dinge.«

»Dann achtet auf das, was sie nicht gesagt hat.«

Das klang so sehr nach einem von Hetwars bevorzugten Aphorismen, dass Ingrey zusammenzuckte. »Gab es denn da etwas?«

»Sie meinte, dass sie mich aus zwei Gründen aufgesucht hat — und das zu einer Zeit, wo die Reise für sie selbst sehr beschwerlich ist, vielleicht sogar gefährlich, denkt daran! Der erste Grund war, dass sie von den Vorfällen gehört hatte — und der zweite waren die Träume, natürlich. Nur Hallana konnte diesen zweiten Grund so nebensächlich klingen lassen. Meine eigenen Träume, seltsame und düstere Träume, Albträume, die beinahe ebenso verstörend sind wie das, was mir jetzt tagsüber passiert, schreibe ich meiner Furcht zu, der Müdigkeit und … und dem, was Boleso mir hinterlassen hat.« Sie befeuchtete sich die Lippen. »Aber warum sollte Hallana von meinen Schwierigkeiten träumen? Sie ist durch und durch eine Frau der Kirche und keine Abtrünnige, trotz ihrer Eigenwilligkeit. Hat sie Euch von ihren Träumen erzählt?«

»Nein. Aber ich habe sie auch nicht danach gefragt.«

»Sie hat viele Fragen gestellt und hat wer weiß was erfahren, indem sie uns beobachtet hat. Aber sie hat mir keinen Rat gegeben, weder in die eine noch in die andere Richtung. Auch das ist eine auffällige Schweigsamkeit. Alles, was sie mir gegeben hat, ist dieser Brief.« Sie berührte ihre linke Brust und betastete den fein bestickten Stoff ihrer Reitjacke. Ingrey vermeinte, das leise Rascheln von Papier unter der Kleidung zu hören, von irgendeiner Innentasche. »Anscheinend ging sie davon aus, dass ich ihn überbringen würde. Da es einem Rat von ihr noch am nächsten kommt, würde ich es nur ungern missachten, für eine waghalsige Flucht in die Verbannung mit … mit einem Mann, den ich vor vier Tagen zum ersten Mal gesehen habe.« Sie schwieg einen Augenblick. »Und vor allem nicht als Eure kleine Schwester, mögen die Götter es verhüten!«

Er verstand nicht, warum sie so gekränkt war, doch an ihrer Ablehnung konnte kein Zweifel bestehen. »Dann werden wir morgen unsere Reise nach Ostheim fortsetzen«, stellte er fest, »mitsamt Bolesos Sarg.« Was ihm etwa drei weitere Tage Zeit verschaffte, um überzeugendere Argumente oder einen besseren Plan zu ersinnen, abzüglich der Zeit, die er zum Schlafen brauchte. Wenn er überhaupt zum Schlafen kam.

Er begleitete sie durch das abendliche Zwielicht zurück zum Gasthaus und übergab sie erneut in die Obhut ihrer Zofe. Diese einfache Frau blickte ihn nun mit unverhohlenem Misstrauen an, obwohl sie kein Wort sagte. Während er selbst wieder die Straße entlang ging, fragte sich Ingrey, ob er vielleicht mehr auf das achten sollte, was Ijada nicht aussprach. Davon gab es sicher genug.

Als er zu seinem Gasthaus kam, löste sich eine Gestalt aus dem Schatten an der Gebäudewand, wo sie gelehnt hatte. Ingreys Hand wanderte zum Schwertgriff, doch er entspannte sich wieder, als die Gestalt in den gelblichen Schein der Laterne über der Tür trat und er Gesca erkannte. Der Truppführer nickte ihm zu.

»Geht ein Stück mit mir, Ingrey. Ich würde gern unter vier Augen mit Euch reden.«

Ingrey runzelte die Stirn, schloss sich aber seinem Stellvertreter an. Im Gleichtakt pochten ihre Stiefel aufs Kopfsteinpflaster, als sie auf den nächsten Platz einbogen, nahe den Stadttoren, und sich schließlich auf einer Holzbank am Brunnen in der Mitte des Platzes niederließen. Dort wandte sich gerade eben ein Dienstbote ab und stapfte an ihnen vorüber. Von einem Tragjoch über seinen Schultern hingen zwei tropfende Eimer herab. In der Straße dahinter eilte ein Paar nach Hause. Die Frau trug eine Laterne, der Mann ein Kind auf den Schultern, das sich mit seinen kleinen Händen in den Haaren des Mannes festklammerte. Der Mann beklagte sich lachend über den Griff. Mit prüfendem Blick musterte er die herumlungernden Krieger, beruhigte sich aber angesichts ihrer entspannten Haltung. Er wandte sich wieder seiner Frau zu. Ihre Schritte verhallten.

Schweigen kehrte ein und lastete unbehaglich lange. Gesca trommelte unruhig mit den Fingern auf den Oberschenkeln. Schließlich machte Ingrey den Anfang: »Gibt es ein Problem in der Truppe? Oder mit Bolesos Leuten?«

»Hm.« Gesca setzte sich auf und streckte die Schultern. »Vielleicht könnt Ihr mir diese Frage besser beantworten.« Er zögerte wieder, biss sich auf die Unterlippe und fragte unvermittelt: »Ihr habt Euch doch nicht etwa in dieses verflixte Mädchen verliebt, Ingrey?«

Ingrey erstarrte. »Wie kommst du denn darauf?«

Gescas Stimme bekam einen ironischen Beiklang: »Nun, mal nachdenken. Was war es wohl, was mich auf diesen Gedanken brachte? Könnte es die Art und Weise sein, wie Ihr jede Gelegenheit nutzt, um unter vier Augen mit ihr zu reden? Oder liegt es vielleicht daran, dass Ihr Euch ohne Zögern in eine reißende Strömung gestürzt habt, um sie zu retten? Oder vielleicht liegt es daran, wie Ihr bei dem Versuch überrascht wurdet, halb bekleidet um Mitternacht in ihre Schlafkammer zu schleichen? Oder ist es der blasse, sehnsuchtsvolle Ausdruck auf Eurem Gesicht, wenn Ihr sie anschaut und glaubt, niemand würde auf Euch achten? Die kummervollen Schatten unter Euren Augen, die täglich tiefer werden? Ich muss zugeben, nur Ingrey von Wolfengrund würde in Begierde entflammen zu einer Frau, die ihre Geliebten zu Tode zu prügeln pflegt. Doch für Euch ist das keine Abschreckung, sondern ein besonderer Reiz!« Gesca schnaubte.

»Ihr habt«, versetzte Ingrey kühl, »einen ganz falschen Eindruck von der Sache gewonnen.« Er empfand tiefste Bestürzung, als er erkannte, wie nahe liegend und glaubwürdig Gescas Schlussfolgerungen auf einen Außenstehenden wirken mussten. Dann aber kam ihm der verstohlene Gedanke, dass es vielleicht gar keine so üble Tarnung sein mochte für die unheimliche, sehr viel gefährlichere Wahrheit des Bannes, unter dem er gestanden hatte. Und dann wiederum kam ihm die noch beängstigendere Vorstellung, dass Gesca vielleicht doch Recht haben könnte … Nein. Auf keinen Fall. »Außerdem war es nur ein einziger Liebhaber.«

»Was?«

»Den sie totgeprügelt hat.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich muss allerdings zugeben: Was dem Inhalt ihrer Jagdtasche an Zahl fehlt, wird durch das Gewicht hinreichend ausgeglichen.« Und, nach einer weiteren kurzen Pause: »Jedenfalls fühlt sie sich nicht zu mir hingezogen. Also sind deine Befürchtungen müßig.«

»Das stimmt nicht. Sie hält Euch für einen sehr ansehnlichen Mann, wenn auch für mürrisch.«

»Woher willst du das denn wissen?« Rasch ließ Ingrey die letzten Tage noch einmal vor seinem inneren Auge vorüberziehen. Wann hatte Gesca je mit der Gefangenen geredet?

»Ich habe mit ihrer Zofe über Euch gesprochen, oder vielleicht war es auch andersherum. Sie ist ziemlich offen und unverblümt, die Frau, wenn man sie erst einmal ans Reden kriegt. Der Dienst an der Mutter bewirkt das bei manchen Frauen.«

»Mit mir hat sie kaum ein Wort gewechselt.«

»Weil Ihr sie einschüchtert. Ich nicht. Zumindest nicht im Vergleich. Das ist recht hilfreich, jedenfalls für mich. Aber habt Ihr je mit angehört, wie zwei Frauen über Männer reden? Männer sind derbe Aufschneider, wenn sie ihre Eroberungen vergleichen, aber die Frauen … ich würde mich lieber von einem Anatom der Mutter lebendig sezieren lassen, als mir anzuhören, was die Damen über uns erzählen, wenn sie glauben, dass niemand zuhört.« Gesca erschauderte.

Ingrey schaffte es, nicht mit der Frage herauszuplatzen: Was hat Ijada sonst noch über mich erzählt? Ihm kam in den Sinn, dass ihre Gefangene die Stunden, während derer sie mit dieser einfachen Landfrau eingesperrt war, irgendwie füllen musste, und belangloses Geplauder mochte die furchtbarsten Geheimnisse besser verhüllen als Schweigen. Leichthin wagte er zu fragen: »Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?«

»O ja.« Gesca ließ seine Stimme in ein weibliches Falsett fallen: »Die Dame findet, dass Euer Lächeln umwerfend ist.«

Gescas Lächeln war ein boshaftes Grinsen. Aber ganz offensichtlich waren die Schatten nicht dunkel genug, um das Funkeln in Ingreys Augen zu verbergen, mit dem er Gescas Grinsen erwiderte, oder vielleicht brannte sich dieses Funkeln auch aus eigener Kraft seinen Weg durch die Dunkelheit, denn Gesca hob beschwichtigend die Hand und wirkte plötzlich ernüchtert.

»Schaut, Ingrey.« Gescas Stimme klang eindringlich. »Ich möchte nicht miterleben, wie Ihr etwas Dummes tut. Ihr habt eine Zukunft in Hetwars Haushalt. Da ist weit mehr drin als bei mir, und das nicht nur wegen Eurer Zugehörigkeit zu einer der großen Sippen. Ich für meinen Teil schaffe es eines Tages vielleicht bis zum Wachhauptmann. Ihr hingegen seid ein Schriftkundiger, und das in zwei verschiedenen Sprachen. Hetwar behandelt Euch als gleichrangig, nicht nur der Herkunft nach, sondern auch nach dem Verstand, und Ihr gebt es ihm in gleicher Münze zurück. Wenn ich euch beiden zuhöre, wird mir mitunter ganz wirr im Kopf. Ich will noch nicht einmal auf den Wegen wandeln, die Euch scheinbar vorherbestimmt sind. Mir wird schwindelig in der Höhe, und ich halte meinen Kopf lieber dort, wo er ist. Aber am wichtigsten … am wichtigsten ist mir, dass ich nicht derjenige sein will, der ausgeschickt wird, um Euch festzusetzen.«

Ingrey entspannte sich. »Das ist verständlich.«

»Finde ich auch.«

»Wir reiten morgen weiter.«

»Gut.«

»Wenn ich meine Stiefel über die Füße bekomme.«

»Ich werde Euch dabei helfen.«

Und ich werde diese neugierige, umherspionierende, schwatzhafte Zofe zurück nach Riedenswooge schicken und sie durch eine andere ersetzen. Oder durch gar keine. Weibischer Klatsch war schlimm genug. Aber was, wenn ihr Geschwätz sich auch auf die eigentümlichen Begebenheiten im Gefolge von Hallanas Besuchen erstrecken würde?

Vielleicht hat es das bereits?

Sie erhoben sich beide und traten den Rückweg über die schlecht erleuchtete Straße an. Ingrey hielt an der Tür seines Gasthauses; Gesca ging mit einem beiläufigen Abschiedsgruß weiter. Ingrey blickte ihm hinterher.

So, Gesca beobachtet mich also. Aber weshalb? Neugier? Eigennutz, wie er behauptete? Kameradschaftliche Sorge? Sonderbare Gerüchte? Es kam Ingrey in den Sinn, dass Gesca trotz der bescheidenen Behauptung, nicht schreiben zu können, durchaus fähig war, einen kurzen Bericht aufzusetzen. Die Sätze mochten einfach sein, die Wortwahl unbeholfen, die Rechtschreibung wacklig — er konnte seine Beobachtungen durchaus verständlich übermitteln.

Und wenn Hetwar die Briefe von ihnen beiden vorliegen hatte, was Hetwar sehr ähnlich sähe … dann würde Ingreys Schweigen Bände sprechen.

Ingrey unterdrückte einen Fluch und ging hinein.


Während des darauf folgenden Reisetages hatte Ingrey kaum einen Blick für die herbstliche Landschaft. Umso intensiver war er sich Ijadas Gegenwart bewusst, die neben dem Wagen mit ihrer neuen Zofe ritt. Diese war eine verschüchterte junge Novizin aus der Kirche der Tochter in Rottwall, die vom heimischen Geistlichen für diese ungewohnte Aufgabe von ihren Pflichten fortbefohlen worden war.

Einmal, als sie aufgebrochen waren, hatte Ijada ihm zugelächelt. Ingrey hätte das Lächeln beinahe erwidert, bis ihm Gescas spöttische Bemerkung wieder in den Sinn kam und sein Gesicht zu einer verzerrten Grimasse erstarren ließ. Bei diesem Anblick riss Ijada die Augen auf und rückte von ihm ab. Er ritt voran, bevor die Muskeln in seinem Gesicht zu zucken begannen.

Ingrey fragte sich, was für ein Wahnsinn ihn gestern Abend im Tempel wohl befallen hatte. Auch wenn es um ihr Leben ging: Natürlich musste Ijada sich weigern, mit einem Mann zu fliehen, der versucht hatte, sie umzubringen … wie oft? Dreimal? Fünfmal? Was für eine Wahl sollte das sein? Denk nach, Mann. Konnte er ihr eine andere Begleitung anbieten? Wo konnte er jemanden finden, dem er vertrauen konnte?

Kurz stellte er sich vor, wie er sie entführte und davonritt, während sie quer über seinen Sattelbaum lag. Doch das führte zu Gedanken, die sogar noch weniger hilfreich waren. Er wusste, welche Schnelligkeit und Wildheit ihm sein Wolf verleihen konnte. Was konnte ihr Leopard für sie tun, auch wenn sie eine Frau war? Sie hatte bereits Boleso erschlagen, der ein kräftigerer Mann gewesen war als Ingrey. Obwohl sie den Prinzen zugegebenermaßen überrascht hatte. Wie Ingrey es einschätzte, hatte sie sich selbst überrascht. Wenn sie beschloss, sich ihm zu widersetzen, wenn er dann … und sie dann … diese eigenartig anregende Tagträumerei wurde gestört von der Erinnerung an Gescas andere Stichelei — für Euch ist das noch ein besonderer Reiz? —, und er blickte noch missmutiger drein.

Und ich werde mich auch ganz gewiss nicht in sie verlieben, verdammt sollst du sein, Gesca.

Und sie auch nicht begehren.

Nicht so sehr.

Nicht so sehr jedenfalls, dass er es nicht vollkommen unter Kontrolle halten konnte.

Den Rest des Tages gab er sich größte Mühe, nicht in ihre Richtung zu lächeln, sie nicht einmal anzusehen, weder in ihre Nähe zu kommen, noch mit ihr zu reden oder sonst auf irgendeine Weise zu zeigen, dass er ihre Gegenwart zur Kenntnis nahm. Dieses Verhalten schien ansteckend zu sein: Einmal lenkte Gesca sein Pferd neben ihn, um eine Bemerkung fallen zu lassen, doch nach einem Blick auf Ingreys Gesicht schluckte er herunter, was er sagen wollte, und wich wohlweislich an das andere Ende der Kolonne zurück. Auch sonst wagte sich niemand in seine Nähe, und Bolesos Gefolgsleute schreckten vor seinem Blick zurück. Wenn er gelegentlich einen Befehl erteilte, gehorchten die Männer ihm eiligst.

Sie waren spät aufgebrochen und kamen langsam voran. Selten trieben sie ihre Pferde zu mehr als Schritttempo. Infolgedessen erreichten sie am Nachmittag eine Stadt, die kleiner war als bei allen vorherigen Aufenthalten, wenn auch viel näher an Ostheim gelegen, als Ingrey lieb war.

Mitleidlos ließ Ingrey Bolesos Männer zusammen mit ihrem verstorbenen Dienstherren im bäuerlichen Tempel von Mittelstadt schlafen und beschlagnahmte das einzige Gasthaus für sich selbst, seine Gefangene und ihre Anstandsdame sowie für Hetwars Leute. Im Dämmerlicht ging er die Stadtgrenzen ab, was rasch getan war. Heute Abend würde es keinen Ausflug zu diesem überfüllten Tempel geben, um eine geflüsterte Unterhaltung zu führen. Morgen Abend musste er eine größere Stadt für ihre Rast auswählen, beschloss Ingrey. Und am Abend darauf … es gab nicht mehr genug Abende darauf.

Gesca bereitete sich lieber ein Lager in der Schankstube, als mit Ingrey ein Gemach zu teilen. So brachte Ingrey seine immer noch nicht verheilten Schrammen nicht nur frühzeitig, sondern auch allein zu Bett.


Da Ingrey es auf ihrer Reise nicht allzu eilig hatte, drängte er seine Leute am nächsten Morgen auch nicht zu einem frühen Aufbruch. Er nippte immer noch lustlos an einem bitteren Kräutertee und kaute in der Gaststube des kleinen Wirtshauses an seinem Brot herum, als Lady Ijada mit ihrer neuen Zofe die Treppe hinunterkam. Er schaffte es, ihr Nicken ohne unpassende Verrenkung seiner Gesichtszüge zu erwidern.

»War Euer Gemach behaglich?«, erkundigte er sich in unterkühlter Höflichkeit. Er war sich nur zu deutlich der beiden Wachsoldaten bewusst, die in Hörweite ihr Mahl an dem aufgebockten Tisch auf der anderen Seite des Gemachs beendeten.

»Es reichte aus.« Sie runzelte die Stirn und bedachte ihn mit einem prüfenden Blick. Aber das war besser, als dieses gewagte Lächeln.

Er wollte sie schon nach ihren Träumen fragen, zögerte aber, weil dieses Thema womöglich mehr zutage fördern mochte, als einer belanglosen Plauderei zuträglich war. Vielleicht konnte er es wagen, später am Tag ein Stück an ihrer Seite zu reiten. Wenn man mit entsprechendem Beispiel voranging, schien sie durchaus fähig, eine Unterhaltung in verdeckten Andeutungen zu führen, die mehr vermittelte, als unfreundliche Lauscher mitbekamen.

Hufschlag und das Klirren von Rüstungen drangen von draußen herein, und beide drehten sich danach um. »He da drin!«, rief eine raue Stimme, und der Wirt eilte durch den Raum, um die neuen Gäste willkommen zu heißen. Unterwegs hielt er kurz inne und schickte einen Diener zu den Stalljungen, damit diese sich der Pferde der Herren annahmen.

Ijadas Nasenflügel bebten. Sie schlenderte hinter dem Wirt her auf die Tür zu. Ingrey leerte seinen Becher und folgte ihr. Gewohnheitsmäßig prüfte er mit der Linken den Schwertgriff. Als Ijada auf die hölzerne Veranda trat, blickte er über ihre Schulter.

Vier Bewaffnete stiegen gerade von ihren Pferden. Einer war offenbar ein Diener, zwei weitere trugen vertraut wirkende Farben, und der vierte … Ingrey hielt überrascht den Atem an. Und dann stieß er ihn erschrocken wieder aus.

Kurgraf Wenzel von Rossfluten hielt im Sattel inne, die Zügel in den behandschuhten Händen gerafft. Der junge Graf war schlank und trug ein goldgesäumtes Untergewand, das noch unter dem weinrot gefärbten Lederwams hervorblitzte. Der breite Kragen seines Übergewandes war mit Marderpelz eingefasst und verbarg seinen krummen Wuchs. Dunkelblondes Haar, von einigen vorzeitig ergrauten Strähnen durchsetzt, hing ihm in unregelmäßig geringelten Strähnen bis zu den Schultern hinab und wirkte vom Ritt zerzaust. Sein Gesicht war länglich, seine Stirn vorspringend, aber die klaren blauen Augen, die nun auf Ingrey gerichtet waren, verhinderten, dass all diese eigentümlichen Merkmale den Grafen vollends hässlich wirken ließen. Sein Auftauchen hier an diesem hellen Morgen war unerwartet genug. Aber erschrocken war Ingrey aus einem anderen Grund …

Teilweise schien es ein Geruch zu sein, auch wenn er nicht mit der Luft herankam, teilweise ein Schatten, eine Ausstrahlung, die Wenzel irgendwie präsenter wirken ließ als jeden anderen Mann. Der Geruch war ein wenig beißend, wie Urin, und ein wenig warm, wie frisches Heu, und unglaublich kräftig. Und er war in Ingreys Geist, ohne zuvor den Umweg über die Nase genommen zu haben.

Er trägt eine Tierseele in sich.

Ebenfalls.

Und ich habe sie nie zuvor wahrgenommen.

Ingreys Kopf fuhr zu Ijada herum. Ihr Gesicht war ebenfalls starr vor Staunen.

Sie fühlt es auch — riecht es? Sieht es? Und für sie ist es ebenso neu wie für mich. Wie neu ist es?

Das Erkennen betraf anscheinend alle drei gleichermaßen, denn Wenzel richtete sich mit schräg gelegtem Kopf auf und riss die Augen auf, als sein Blick zunächst Ingrey musterte und sich dann Ijada zuwandte. Die Kinnlade fiel ihm ein Stück herab. Dann straffte er sich wieder zu einem schiefen Grinsen.

Von ihnen dreien erholte der Graf sich als Erster. »Nun, nun«, murmelte er. Ein paar behandschuhte Finger strichen über seine Stirn, als angedeuteter Gruß an Ingrey, und wanderten dann zu seinem Herzen, um eine symbolische Verbeugung vor Ijada auszudrücken. »Was für eine eigentümliche Begegnung das doch ist. Ich bin schon seit langem nicht mehr so überrascht worden … eine längere Zeit, als Ihr Euch vorstellen könnt.«

Der Wirt setzte an, eine Begrüßung zu plappern, doch auf eine Geste Wenzels wurde er von einer der Wachen unterbrochen. Der Krieger führte den Mann zur Seite und erklärte ihm vermutlich, was die hochwohlgeborenen Gäste von seinem bescheidenen Haus erwarteten. Aus eingeübter Höflichkeit schritt Ingrey zu Wenzels Pferd, obwohl er dem Grafen eigentlich nicht noch näher kommen wollte. Als seine Hand das Zaumzeug fasste, schnaubte das Tier und scheute zurück, und Ingrey griff fester zu. Die Schultern des Pferdes waren schweißnass vom morgendlichen Galopp, das kastanienbraune Haar gewellt und dunkel. Schaum stand zwischen den Beinen. Warum immer er hier ist: Wenzel hat keine Zeit vergeudet.

Der Graf blickte auf Ingrey hinab und holte tief Luft. »Euch wollte ich sehen, Vetter. Lord Hetwar hat sich Eurer Abneigung gegenüber Förmlichkeiten erbarmt, die Ihr so dezidiert in Euren ansonsten überaus knappen Sendschreiben zum Ausdruck gebracht habt. Also wurde ich ausgesandt, um mich des Leichenzuges für meinen dahingeschiedenen Schwager anzunehmen. Eine familiäre Verpflichtung, da ich anscheinend der einzige Verwandte bin, der nicht von Trauer übermannt, von Krankheit niedergestreckt oder noch unterwegs auf halbem Weg von der Grenze ist. Ein fürstliches Aufgebot an Wagen und Trauergästen folgt mir auf dem Fuße und wird sich uns in Ochsauen anschließen. Ich hatte erwartet, Euch gestern Abend dort anzutreffen, Euren anscheinend recht wechselhaften Reiseplänen gemäß.«

Ingrey befeuchtete sich die trockenen Lippen. »Es wäre mir eine große Erleichterung, wenn Ihr mich ablösen könntet.«

»Das habe ich mir gedacht.« Sein Blick wanderte zu Ijada, und der süffisante, einstudierte Tonfall verschwand. Er senkte das Haupt. »Lady Ijada. Ich kann Euch nicht sagen, wie Leid mir das tut, was geschehen ist — was Euch angetan wurde. Ich bedauere es zutiefst, dass ich nicht auf Burg Keilerkopf zugegen war, um es zu verhindern.«

Ijada nahm diese Worte mit einem Nicken zur Kenntnis. »Ich bedaure ebenfalls, dass Ihr nicht auf Burg Keilerkopf wart. Es war nie mein Wunsch, dass dieses hohe Blut an meinen Händen klebt, genauso wenig wie … diese anderen Folgen.«

»Jaaa …«, erwiderte Wenzel langgezogen. »Wie es scheint, haben wir mehr zu bereden, als ich erwartet hatte.« Er schenkte Ingrey ein verkniffenes Lächeln und stieg ab. Im Stehen war Wenzel tatsächlich kaum eine Handbreit kleiner als sein Vetter. Aus Gründen, die Ingrey selbst nicht verstand, schätzte man ihn immer wieder größer ein, als er war. Sehr viel leiser fügte Wenzel noch hinzu: »Eigenartige Geheimnisse, die Ihr anscheinend nicht einmal dem Siegelbewahrer gegenüber kundtun wolltet. Manch einer mag Euch dafür tadeln. Lasst Euch versichern, dass ich keiner von diesen bin.«

Wenzel raunte seinen Wachen ein paar Befehle zu. Ingrey reichte die Zügel an Wenzels Diener weiter, und die Stalljungen des Gasthauses liefen herbei und führten das Gefolge um das Gebäude.

»Wo können wir reden?«, fragte Wenzel. »Ungestört.«

»Schankstube?«, schlug Ingrey vor und nickte in Richtung des Gasthauses.

Der Graf zuckte die Achseln. »So geht voran.«

Ingrey wäre lieber hinterhergekommen, ging nun aber notgedrungen vorneweg. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie Wenzel Lady Ijada höflich den Arm reichte. Sie wich dieser Geste argwöhnisch aus, indem sie so tat, als müsse sie an der Treppe mit beiden Händen ihr Reisekleid anheben.

»Raus«, befahl Ingrey den beiden Soldaten, die noch beim Frühstück saßen. Beim Anblick des Grafen sprangen sie überrascht auf. »Ihr könnt Brot und Fleisch mit nach draußen nehmen. Wartet dort. Sorgt dafür, dass wir nicht gestört werden.« Er schloss die Tür zur Gaststube hinter ihnen und vor der Nase der verwirrten Zofe.

Wenzel blickte sich gleichmütig in dem altmodischen, mit Binsen ausgestreuten Raum um, steckte die Handschuhe in den Gürtel und setzte sich an einen der Tische. Er bedeutete Ingrey und Ijada, auf der Bank ihm gegenüber Platz zu nehmen. Dann verschränkte er die Hände auf den polierten Brettern, reglos, aber nicht entspannt.

Ingrey konnte nicht genau erkennen, was für ein Tier Wenzel in sich trug. Aber natürlich hatte er auch Ijadas Tiergeist erst dann deutlich vor sich gesehen, als sein Wolf entfesselt worden war. Selbst jetzt hätte er möglicherweise die beunruhigende Erscheinung in ihrem Innern nicht genauer benennen können, hätte er nicht den Kadaver des Leoparden gesehen und später dessen Gestalt gewordenen Geist bei ihrem Kampf gegen den Zauberbann.

Die Frage nach dem Wann beschäftigte Ingrey allerdings deutlich mehr als die nach dem Was. Seit er vor vier Jahren aus dem Exil in Darthaca zurückgekehrt war, hatte er Wenzel nur zweimal gesehen. Der Graf hatte erst kurz vor Ingreys Rückkehr Prinzessin Fara geheiratet und seine Braut mit auf die ausgedehnten Besitztümer seiner Familie entlang des Unterlaufs des Flusses Lure mitgenommen, zweihundert Meilen von Ostheim entfernt. Vor drei Jahren waren die frisch Vermählten Rossflutens zum ersten Mal in die Hauptstadt zurückgekehrt, anlässlich einer Winterfeier zum Tag des Vaters. Ingrey war zu diesem Zeitpunkt in Hetwars Auftrag in den Kantonen gewesen. Er hatte seinen Vetter bei dessen nächstem Besuch während einer Versammlung in der königlichen Halle gesehen, als Prinz Biast Speer und Banner des Fürstmarschalls aus den Händen seines Vaters empfangen hatte. Wenzel war durch die Zeremonie beschäftigt gewesen und Ingrey eingebunden in Hetwars Gefolge.

Sie waren dicht aneinander vorübergekommen, aber nur kurz. Der Graf hatte seinen verrufenen und enterbten Verwandten mit einem höflichen Nicken begrüßt, eine schlichte Geste des Erkennens, ohne Zeichen von Erstaunen oder Abneigung, aber er hatte später keinen Kontakt zu ihm gesucht. Ingrey war der Ansicht gewesen, dass Wenzel sich sehr zum Vorteil verändert hatte, verglichen mit dem wenig anziehenden Jungen, an den er sich aus seiner Kindheit erinnerte. Er hatte angenommen, dass die Verantwortung durch das frühe Erbe und die hohe Heirat ihn hatten reifen lassen und ihm jene eigentümliche Würde verliehen, die er jetzt ausstrahlte. Hatte diese Würde etwa damals schon eine übernatürliche Ursache gehabt?

Das nächste Mal waren sie einander vor einer Woche in Hetwars Gemächern begegnet. Wenzel war still und zurückhaltend gewesen in dieser Versammlung ernster, alter Männer — eingeschüchtert, so hatte Ingrey angenommen, da Wenzel seinen Blick mied. Ingrey konnte sich kaum daran erinnern, dass er überhaupt etwas gesagt hatte.

Wenzel redete mit Ijada, die Augen kummervoll niedergeschlagen: »Meine Frau Gemahlin hat Euch großes Unrecht zugefügt, Ijada, und es ist sicher ein Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit, dass sie selbst nun die Folgen zu spüren bekommen hat. Anfangs hat sie mich belogen und behauptet, es wäre Euer eigenes Begehr gewesen, bei Boleso zu bleiben. Dann aber brachte der Bote von Burg Keilerkopf uns die düstere Kunde. Ich kann schwören, dass ich ihr nicht den mindesten Anlass für diese Eifersucht gab. Ich sollte ihr mehr zürnen, als ich fertigbringe, doch ihr Verrat hat so offensichtlich schon die eigene Bestrafung in sich getragen. Sie weint unaufhörlich, und ich … ich weiß kaum einen Rat, wie ich dieses Durcheinander auflösen und die Ehre meines Hauses wiederherstellen soll.« Er blickte wieder auf.

Die Eindringlichkeit, mit der er Ijada anschaute, galt nicht nur ihrem Leoparden, wie Ingrey befand. Ich glaube, Prinzessin Fara lag mit ihrer Eifersucht doch nicht so falsch, wie Wenzel es vorgibt. Sie waren seit vier Jahren verheiratet, und es gab noch keinen Erben für das alte und bedeutende Haus Rossfluten. Verbarg sich hinter dieser Lücke Unfruchtbarkeit, Abneigung oder ein weniger greifbares Unvermögen? Hatte das den Ängsten einer Frau Nahrung geboten, ob zu Recht oder nicht?

»Das weiß ich auch nicht«, erwiderte Ijada. Ingrey wusste nicht genau, ob diese gereizte und abweisende Antwort auf Zorn oder Furcht hindeutete. Verstohlen betrachtete er sie. Ihr Gesicht war bemerkenswert ausdruckslos. Plötzlich hätte er zu gerne genau gewusst, was sie sah, wenn sie Wenzel anblickte.

Wenzel neigte den Kopf und musterte sie mit einem Stirnrunzeln. »Was ist das eigentlich? Gewiss kein Dachs. Ich würde vermuten, es ist ein Luchs.«

Ijada hob das Kinn. »Ein Leopard.«

Wenzel verzog überrascht den Mund. »Aber das ist doch kein … und wo hat dieser Narr Boleso einen … und warum … Lady Ijada, ich glaube, Ihr solltet mir erst einmal erzählen, was dort auf Burg Keilerkopf geschehen ist.«

Sie sah Ingrey an. Der nickte bedächtig. Wenzel steckte anscheinend ebenso tief in dieser Sache drin wie sie alle, und das in mehr als einer Hinsicht. Außerdem genoss er anscheinend Hetwars Vertrauen. Wusste Hetwar also von Wenzels Tier oder nicht?

Ijada fasste die Ereignisse dieser Nacht ebenso knapp wie unverblümt zusammen. Was die Tatsachen betraf, hielt sie sich an das, was Ingrey schon gehört hatte. Allerdings gab sie kaum einen Hinweis auf ihre eigenen Gedanken oder Gefühle und enthielt sich jeglicher Interpretation oder Mutmaßung. Ihre Stimme war tonlos. Es war fast, als würde man eine Pantomime verfolgen.

Wenzel, der mit größter Aufmerksamkeit zugehört hatte, ohne etwas dazu anzumerken, wandte seinen stechenden Blick schließlich Ingrey zu: »Wo also ist der Zauberer?«

»Was?«

Er wies auf Ijada. »Das ist nicht von selbst geschehen. Es muss ein Zauberer dort gewesen sein. Ein abtrünniger Zauberer, so viel ist gewiss, wenn er sich mit verbotenen Künsten beschäftigte und überdies einem Trampel wie Boleso diente.«

»Lady Ijada … Ich habe Lady Ijadas Aussage so verstanden, dass Boleso die Zeremonie allein durchgeführt hat.«

»Wir waren mit Sicherheit allein in seinem Schlafgemach«, sagte Ijada. »Wenn ich jemals einer solchen Person in Bolesos Haushalt begegnet bin, habe ich sie nicht als Zauberer erkannt.«

Wenzel kratzte sich abwesend am Nacken. »Hm. Möglicherweise. Andererseits … hat Boleso sich eine solche Zeremonie gewiss nicht allein beigebracht. Er hat mehrere Tiere in sich aufgenommen, sagt Ihr? Götter, was für ein Narr. In der Tat … nein. Wenn sein Mentor nicht bei ihm weilte, muss er es vor kurzem noch getan haben. Womöglich hat er sich getarnt. Im Nebenraum verborgen. Vielleicht ist er geflohen?«

»Ich habe mich auch schon gefragt, ob Boleso Helfershelfer hatte«, gab Ingrey zu. »Aber Ritter Ulkra versicherte mir, dass nach dem Tod des Prinzen kein Diener des Hauses geflüchtet ist. Und Lord Hetwar hätte mich gewiss nicht ausgesandt, einen so gefährlichen Gegner festzusetzen ohne Unterstützung von der Kirche.« Ja, Ingrey hätte sich dabei noch sehr viel Schlimmeres zuziehen können als lehrreiche Wahnvorstellungen von Schweinen.

… etwa einen Bann? Was, wenn er seine mordlüsternen Anwandlungen gar nicht von Ostheim mitgebracht hatte? Mühsam verhinderte er, bei diesem Gedanken die Augen aufzureißen. »Hetwar konnte nicht ahnen, was tatsächlich geschehen war.« Aber warum hatte der Siegelbewahrer Ingrey dann so nachdrücklich zur Verschwiegenheit angehalten? Nur wegen der politischen Gründe?

»Die Berichte, die Hetwar zunächst über diese tragischen Begebenheiten erhielt, waren verworren und unzureichend, so viel kann ich Euch versichern«, stellte Wenzel mit einem Stirnrunzeln fest. »Von Leoparden war darin gar nicht die Rede, so wenig wie von manch anderer Einzelheit. Trotzdem … ich wünschte, Ihr hättet diesen Zauberer erwischt, wer immer es war.« Er richtete den Blick wieder auf Ijada. »Das Geständnis eines solchen Gefangenen hätte zumindest einer Dame meines Haushalts helfen können, der ich Schutz schulde.«

Das stimmte allerdings, erkannte Ingrey erschrocken. »Ich bezweifle, dass ich jetzt hier wäre, lebendig und bei Verstand, wenn ich diesen Mann überrascht hätte.«

»Ein berechtigter Einwand«, gestand Wenzel ihm zu. »Aber gerade Ihr hättet ihn erkennen sollen.«

Hatte der Bann Ingrey vielleicht die Sinne vernebelt? Oder hatte die Abneigung, mit der er diese Aufgabe übernommen hatte, ihn allzu nachlässig gemacht? Er lehnte sich ein wenig zurück, und weil er nichts zu seiner Verteidigung vorbringen konnte, wich er zu einer anderen Seite hin aus: »Und was für einem Zauberer seid Ihr begegnet? Und wann?«

Wenzels dunkelblonde Augenbrauen zuckten. »Könnt Ihr Euch das nicht denken?«

»Nein. In Hetwars Räumlichkeiten habe ich nichts von Eurer … Besonderheit gespürt. Auch nicht bei Biasts Amtseinführung, wo ich Euch das letzte Mal davor gesehen hatte.«

»Ist das so? Ich war mir nicht so sicher, ob es mir geglückt war, meine Heimsuchung vor Euch verborgen zu halten, oder ob Ihr einfach nur entschieden hattet, Diskretion walten zu lassen. Wofür ich in jedem Fall dankbar war.«

»Ich habe es nicht gespürt.« Beinahe hätte er noch hinzugefügt: Mein Wolf war gebunden. Aber damit hätte er zugegeben, dass dies nun nicht mehr der Fall war. Und er war sich noch nicht sicher, wie Wenzel und er zueinander standen.

»Wie beruhigend. Nun. Mich befiel es ziemlich zur selben Zeit wie Euch, wenn Euch das wirklich interessiert. Zu der Zeit, wo Euer Vater gestorben ist — oder vielleicht sollte ich besser sagen, zu der Zeit, wo meine Mutter gestorben ist.« Auf Ijadas fragenden Blick hin fügte er an sie gewandt hinzu: »Meine Mutter war die Schwester von Ingreys Vater. Das würde mich zu einem Halben von Wolfengrund machen, abgesehen von all den Rossflutenfrauen, die in früheren Zeiten schon in seine Sippe eingeheiratet haben. Ich brauchte Feder und Papier, um all die Verflechtungen auszubreiten, die unsere Verwandtschaft begründen.«

»Ich wusste, dass da eine Verbindung zu Euch besteht. Aber ich war mir nicht darüber im Klaren, wie nah sie ist.«

»Nah und eng verwoben. Ich hatte längst schon den Verdacht, dass all diese so dicht aufeinander folgenden Tragödien irgendwie miteinander in Verbindung stehen.«

»Ich wusste, dass meine Tante irgendwann während meiner Krankheit gestorben war«, merkte Ingrey langsam an. »Aber mir war nicht bewusst, wie unmittelbar das auf den Tod meines Vaters folgte. Das hat niemand mir gegenüber erwähnt. Ich nahm an, es wäre aus Trauer geschehen oder wegen eines dieser rätselhaften Leiden, die Frauen mittleren Alters befallen können.«

»Nein. Es war ein Unfall. In eigentümlicher Weise zeitlich abgepasst.«

Ingrey zögerte. »Verbindungen … habt Ihr den Zauberer getroffen, der die Tierseele an Euch gebunden hat? War es in Eurem Fall ebenfalls Cumril?«

Wenzel schüttelte den Kopf. »Was auch immer man mit mir gemacht hat, es geschah, während ich schlief. Und Ihr könnt Euch sicher denken, dass dies das verwirrendste Erwachen meines ganzen Lebens war!«

»Und Ihr wurdet nicht krank dadurch oder verrückt?«

»Allem Anschein nach traf es mich nicht so schwer wie Euch. Bei Euch muss etwas falsch gelaufen sein. Ich meine, noch über die Dinge hinaus, die mit Eurem Vater geschehen sind.«

»Weshalb habt Ihr mir nie etwas davon erzählt? Mein Unglück war kein Geheimnis. Ich wünschte, ich hätte gewusst, dass ich nicht alleine bin!«

»Ingrey, ich war dreizehn Jahre alt und verängstigt! Allein die Vorstellung, man könnte mir antun, was sie mit Euch gemacht haben, wenn meine Heimsuchung entdeckt wird! Ich habe nicht geglaubt, dass ich es überleben könnte. Ich war nie so stark wie Ihr. Der bloße Gedanke an Leiden, wie Ihr sie erdulden musstet, hat mich in Grauen versetzt. Es um jeden Preis zu verheimlichen, schien mir die einzige Hoffnung zu sein.

Als ich mich davon überzeugt hatte, dass ich nicht den Verstand verliere, und neuen Mut fasste, da wart Ihr bereits fort, aus dem Weald vertrieben von Eurem peinlich berührten Onkel. Und wie hätte ich Kontakt aufnehmen können? Mit einem Brief? Er wäre gewiss abgefangen und gelesen worden, von Euren Hütern oder den meinen.« Er atmete tief durch und brachte seine zittrige Stimme wieder zur Ruhe, bevor sie sich überschlug. »Wie eigentümlich, dass wir uns nun so aneinander gebunden wiederfinden. Wisst Ihr, wir könnten alle gemeinsam brennen. Rücken an Rücken an Rücken.«

»Ich nicht«, beteuerte Ingrey und verfluchte sich für den nervösen Unterton in seiner Stimme. »Ich habe einen Dispens der Kirche.«

»Dieselben Autoritäten, die eine solche Gnade gewähren, können sie auch widerrufen«, wandte Wenzel düster ein. »Dann Ijada und ich. Nicht die Art von Nähe, von Angesicht zu Angesicht, die meine Frau gefürchtet hat, aber doch eine Art heilige Vereinigung.«

Ijada zuckte bei dieser Bemerkung nicht zusammen, blickte Wenzel aber mit angespannter Aufmerksamkeit und gerunzelter Stirn an. Schätzte sie etwa einen Mann neu ein, den sie zu kennen geglaubt hatte, von dem sie nun aber erfuhr, dass sie rein gar nichts von ihm wusste? Wie ich auch?

Wenzel wandte seine Aufmerksamkeit den schmuddeligen Verbänden an Ingreys Handgelenken zu. »Was ist denn mit Euren Händen passiert?«

»Ich bin über einen Tisch gestolpert. Dabei habe ich mich an einem Tranchiermesser geschnitten«, erwiderte Ingrey so beiläufig er konnte. Aus den Augenwinkeln nahm er Ijadas neugierigen Blick wahr und betete darum, dass sie es nicht für nötig erachtete, die ganze Geschichte zu erzählen. Noch nicht jedenfalls.

Stattdessen fragte sie den Grafen: »Was habt Ihr für ein Tier? Wisst Ihr das?«

Er zuckte die Achseln. »Ich habe stets angenommen, es wäre ein Pferd, wegen der Rossfluten. Das schien mir plausibel, so weit man das bei solch einer Sache überhaupt sagen kann.« Er tat einen tiefen Atemzug, und seine kühlen, blauen Augen fixierten sie. »Es gab schon seit Jahrhunderten keine Totemkrieger mehr im Weald, wenn nicht an verborgenen Zufluchtsorten irgendwelche Überreste überdauert haben. Jetzt gibt es hier drei neu geschaffene, nicht nur in derselben Generation, sondern sogar im selben Raum. Bei Ingrey und mir habe ich längst schon vermutet, dass wir von derselben Art sind. Aber Euch, Lady Ijada … Euch verstehe ich nicht. Ihr passt nicht in das Muster. Ich würde Euch dringend anraten, Ingrey, den verschwundenen Zauberer zu suchen. Zumindest mag es den Prozess gegen Ijada aufhalten, wenn man noch einem so bedeutsamen Zeugen nachspüren muss.«

»Das wäre schon mal gut«, stimmte Ingrey bereitwillig zu.

In einer Geste des Unbehagens breitete Wenzel die Hände auf der Tischplatte aus. »Unser aller Schicksal liegt nun in den Händen des anderen. Ich wähnte mein Geheimnis bei Euch sicher, Ingrey, aber nun sieht es so aus, als hättet Ihr einfach nichts davon gewusst. Ich bin schon seit so langer Zeit allein. Es fällt mir schwer, jetzt wieder Vertrauen zu fassen.«

Ingrey konnte sich dem nur anschließen.

Wenzel lockerte die Schultern und zuckte zusammen, als würde es ihm wehtun. »Nun, ich muss mich noch ein wenig erfrischen und meinem verstorbenen Schwager die Ehre erweisen. Ganz nebenbei — wie habt Ihr seine Überreste für die Reise präpariert?«

»Ich habe ihn in Salz gelegt«, erklärte Ingrey. »Auf Burg Keilerkopf gab es einen reichhaltigen Vorrat, um Wild einzupökeln.«

Ein Ausdruck düsterer Heiterkeit huschte über Wenzels Gesicht. »Wie unverblümt Ihr es ausdrückt.«

»Ich habe ihm jedenfalls nicht das Fell abgezogen und ihn ausgeweidet. Also ist er wohl nicht ganz so haltbar wie das Wild.«

»Dann ist es ja ein Segen, dass es nicht wärmer ist. Aber anscheinend dürfen wir nicht lange säumen.« Wenzel seufzte, stützte sich mit beiden Händen am Tisch ab und kam müde auf die Beine. Einen Augenblick schien die Finsternis seiner Seele auszugreifen und Ingrey zu treffen wie ein Schlag. Dann war er einfach nur wieder ein müder junger Mann, der allzu früh mit allzu gefahrvollen Bürden beladen worden war. »Wir werden noch einmal miteinander reden.«

Der Graf trat auf die Veranda, wo seine Gefolgsleute achtsam aufsprangen und ihn zum Tempel begleiteten. In der Tür zur Gaststube berührte Ingrey Ijada am Arm. Mit fest zusammengekniffenen Lippen wandte sie sich zu ihm um.

»Was haltet Ihr von Wenzels Tier?«, fragte er sie verstohlen.

»Um die Gelehrte Hallana zu zitieren: Wenn das ein Hengst ist, bin ich die Königin von Darthaca«, erwiderte sie flüsternd, blickte auf und schaute ihm in die Augen, ruhig und eindringlich. »Euer Wolf hat nicht viel Ähnlichkeit mit einem Wolf. Und sein Pferd hat nicht viel Ähnlichkeit mit einem Pferd. Aber eines will ich Euch sagen, Ingrey: Einander gleichen sie sich sehr

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