Kapitel Fünf

Ijadas Lachen verstummte abrupt. Ingrey erhob sich unauffällig und schickte die Zofe hinaus, um das Abendessen zu holen — auch für die zusätzlichen Gäste —, bei dessen Bestellung er selbst abgelenkt worden war. Auf diese Weise sorgte er auch dafür, dass ein neugieriger Lauscher von den nachfolgenden Enthüllungen fern gehalten wurde. Die Frau wirkte enttäuscht, wagte aber nicht zu widersprechen.

Anschließend nahm Ingrey ebenso still wieder Platz, um Ijada bei ihrem zögernden Geständnis gegenüber ihrer Freundin nicht zu stören. Wobei Letztere, zumindest nach Ingreys Einschätzung, nicht aus Freundschaft hier war, sondern aus deutlich schwerer durchschaubaren Gründen.

Er achtete genau auf jeden Widerspruch, aber die Geschichte, die Ijada der Gelehrten Hallana erzählte, war so ziemlich dieselbe, die sie letztendlich auch Ingrey anvertraut hatte. Diesmal allerdings wurde alles in der richtigen Reihenfolge berichtet und nichts ausgelassen. Hallana gegenüber brachte Ijada auch die eigenen, drückenden Ängste deutlicher zum Ausdruck. Als sie von ihren Träumen nach der Heimsuchung durch den Leoparden berichtete, wurde Hallanas Gesichtsausdruck so aufmerksam, dass ihre Züge wie erstarrt wirkten. Ijada setzte ihren Bericht fort bis zu dem beinahe fatalen Sturz an der Furt; dann zögerte sie und blickte zu Ingrey hinüber. »Ich glaube, von hier an sollte Lord Ingrey weitererzählen, wenn es ihm beliebt.«

Ingrey zuckte zusammen und errötete. Einen Augenblick lang fürchtete er, der rote Nebel könne wieder die Oberhand gewinnen. Seine Hände verkrampften sich zitternd um die Kante der Fensterbank, auf der er saß. Voller Unbehagen erkannte er, dass er wieder sorglos geworden war, offenbar im Vertrauen darauf, die Zauberin könne sich selbst und Ijada schon beschützen. Aber auch Zauberer waren nicht gegen kalten Stahl gefeit — nicht, wenn er nahe genug an sie herankam. Er hatte es so weit kommen lassen, dass er mit den Frauen allein und bewaffnet war. Und nun rührten sie auch noch an seinen tiefsten Geheimnissen …

»Ich habe versucht, sie zu ertränken«, platzte es aus ihm heraus. »Ich habe noch drei weitere Male versucht, sie zu töten — zumindest sind das die Vorfälle, von denen ich weiß. Ich schwöre, dass ich das gar nicht will. Sie hält es für eine Art Zauber oder Bann.«

Die Zauberin schürzte die Lippen und atmete langsam und nachdenklich aus. Dann lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Reglos saß sie da. Als sie die Augen wieder öffnete, war ihre Miene undurchschaubar.

»Kein Zauberer hat einen Spruch auf Euch gelegt. Es geht keine entsprechende Verbindung von Euch aus, die einen Zauber unterhalten könnte — keine Kraftlinien, die sich von Euch fortschlängeln oder zu Euch hin. Und es ruht auch kein Geschöpf des fünften Gottes in Eurer Seele. Aber etwas anderes. Es sieht sehr finster aus.«

Er blickte zur Seite. »Ich weiß. Das ist mein Wolf.«

»Wenn das der Geist eines Wolfes ist, dann bin ich die Königin von Darthaca.«

»Es war schon immer ein sehr seltsamer Wolf. Aber er ist gebunden.«

»So? Darf ich Euch berühren.«

»Ich weiß nicht, ob ich … sicher bin.«

Ihre Brauen zuckten empor. Sie musterte ihn von oben bis unten, und er wurde sich schmerzlich bewusst, wie er aussehen musste, bedeckt vom Straßendreck und bartstoppelig wie ein Streuner. »Dann sollte ich mich vielleicht auf Eure Einschätzung verlassen. Ijada, was siehst du in ihm?«

»Ich sehe überhaupt nichts«, erwiderte sie unglücklich. »Es ist vielmehr so, als würde der Leopard ihn riechen, und ich würde ihn dabei belauschen … beschnuppern? Wie auch immer, ich bekomme all diese unvertrauten Eindrücke. Da ist dieses finstere Wolfsding, das auch du wahrgenommen hast … zumindest riecht es finster, wie Humus aus altem Laub und die Asche toter Lagerfeuer und die Schatten des Waldes. Und da ist noch etwas. Es raunt um ihn wie ein Gerücht. Es hat einen sehr eigentümlichen Geruch. Stechend.«

Hallana schob den Kopf vor und zurück. »Ich sehe seine Seele, mit meinem inneren Auge. Ich sehe das finstere Ding. Aber ich sehe und höre nichts von diesem Dritten. Es entstammt nicht den Gefilden des Bastards … nicht der spirituellen Welt, über die die Götter herrschen. Und doch nehme ich merkwürdige Windungen an seiner Seele wahr. Ein besonders durchsichtiges Glas, das die Augen nicht mehr wahrnehmen können, kann man doch noch mit den Fingern ertasten. Ich muss eine Berührung wagen.«

»Nein«, rief Ingrey in Panik.

»Herrin«, murmelte die Dienstbotin zu ihren Füßen. »Solltet Ihr wirklich …? Jetzt?«

Hallanas Lippen bewegten sich in stummen Flüchen. »Lasst uns nachdenken«, sagte sie laut.

Ein Klopfen erklang von der Tür. Die Zofe kehrte zurück, begleitet von einigen Hausknechten des Gasthauses, die Tabletts hereintrugen, sowie von dem Mann, den Hallana als Bernan bezeichnet hatte und der eine große Truhe heranschleppte. Er war ein drahtiger Mann mittleren Alters mit einem aufmerksamen Gesichtsausdruck. Sein grünes Lederwams war mit alten Brandflecken gesprenkelt wie der Kittel eines Schmiedes. Er schnupperte genussvoll, als die Tabletts an ihm vorbeigetragen wurden. Der köstliche Duft von in Essig mariniertem Fleisch und Zwiebeln stieg von den Töpfen und Schalen auf und erinnerte Ingrey daran, dass er selbst ausgehungert und erschöpft war.

Hallanas Miene hellte sich auf. »Besser noch, lasst uns erst essen und dann nachdenken!«

Die Hausknechte deckten den Tisch der kleinen Stube; dann aber schickte die Zauberin sie hinaus und ließ sie wissen, dass sie sich das Essen lieber von ihren eigenen Leuten anreichen ließ. »Um ehrlich zu sein«, flüsterte sie Ingrey verstohlen zu, »mache ich zurzeit ein solches Durcheinander, dass ich mich gar nicht mehr traue, in der Öffentlichkeit zu essen.« In weiser Voraussicht schickte Ingrey auch die Zofe wieder hinaus, damit sie ihr Abendessen in der Gaststube einnahm und dort abwartete, bis sie wieder gerufen wurde. Zögernd und mit einem letzten, neugierigen Blick zurück verließ sie das Gemach.

Bernan, der Diener, teilte mit, dass Hallanas Pferde sicher in den Ställen des örtlichen Tempels untergebracht waren, dass der Wagen repariert und auch für Hallanas Unterkunft gesorgt war, und zwar bei einer gewissen Heilerin der Mutter hier in Rottwall, die offenbar selbst einmal in Neresblatt gelernt hatte. Unvermittelt und ungeplant fand Ingrey sich schließlich mit den beiden Frauen gemeinsam am kleinen Tisch wieder, wo er zu Abend aß. Der Diener ließ die Wasserschüssel für die Hände herumgehen, und die doppelte Geistliche sprach einen nachlässigen Segen über die Speisen.

Hergi drapierte eine Serviette von der Größe eines Tischtuchs um ihre Herrin und half ihr beim Essen. Flink fing sie umkippende Gläser, schwankende Krüge und ins Rutschen geratene Teller wieder auf; oft noch bevor etwas verschüttet wurde — manchmal allerdings nicht. »Trinkt euren Wein«, empfahl die Zauberin. »In einer halben Stunde ist er sauer. Ich sollte besser wieder weg sein, bevor der Gastwirt den Ärger mit seinem Bier bemerkt. Nun, sein Vorrat an Flöhen, Läusen und Bettwanzen wird meinen Aufenthalt hier wohl ebenso wenig überleben, also dürfte es ein gerechter Handel sein. Wenn ich länger bleibe, muss ich meine Kräfte vielleicht sogar noch gegen die Mäuse richten. Arme Dinger.«

Lady Ijada wirkte ebenso ausgehungert wie Ingrey, und eine Zeit lang kam das Gespräch zum Erliegen. Hallana brachte es wieder in Gang, indem sie ohne Umschweife danach fragte, wie Ingrey zu seinem Wolf gekommen war. Trotz seines Hungers hatte Ingrey plötzlich einen Knoten im Magen und quälte sich stockend durch einen Bericht, der am Ende noch ausführlicher ausfiel als das, was er Ijada anvertraut hatte. Er erzählte alles, so gut er sich eben noch an die weit zurückliegenden, verwirrenden Ereignisse erinnern konnte.

Die beiden Frauen lauschten gebannt. Ingrey war sich voll Unbehagen bewusst, dass Bernan und Hergi ebenfalls zuhörten: Bernan hatte sich mit einem Teller auf der Holztruhe niedergelassen, und Hergi schob sich zwischendurch immer wieder einen Bissen in den Mund, während sie gleichzeitig hinter ihrer Herrin her aufräumte. Allerdings konnte man davon ausgehen, dass die Dienstboten einer Tempelzauberin ohnehin an Verschwiegenheit gewohnt waren.

»Hatte Euer Vater vorher schon Interesse an der Tiermagie Eurer alten wealdischen Vorfahren gezeigt?«, wollte Hallana wissen, nachdem Ingrey den Ritus bis zu seinem Ende beschrieben hatte.

»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Ingrey. »Das alles schien sehr plötzlich zu kommen.«

»Aber warum hat er dann damit angefangen?«, warf Ijada ein.

Ingrey zuckte die Achseln. »Alle, die das hätten wissen können, sind danach gestorben oder geflohen. Es war keiner mehr übrig, den ich hätte fragen können, als ich mich weit genug erholt hatte.« Seine Gedanken schreckten zurück vor der Erinnerung an diese düsteren Wochen der Verwirrung. Es gab Dinge, die blieben besser in Vergessenheit.

Hallana kaute, schluckte und fragte: »Und wie habt Ihr gelernt, Euren Wolf zu binden?«

Solche Dinge, beispielsweise … Ingrey rieb sich den steifen Nacken, aber das löste seine Verspannung nicht. »Audars altes Gesetz, demzufolge jeder, der von einem Tiergeist heimgesucht war, lebendigen Leibes verbrannt werden sollte, war seit Menschengedenken nicht mehr in Birkenhain zur Anwendung gekommen. Der örtliche Geistliche, der mich schon mein Leben lang kannte, war bestrebt, diesen Brauch nicht wieder aufleben zu lassen. Auch der kirchliche Ermittler, der dem Fall nachgehen sollte, sprach mich in dieser Sache von jeder Schuld frei. Meine Teilhabe war mir aufgenötigt worden, von Personen, denen ich zu Gehorsam verpflichtet gewesen war. Mich zu bestrafen wäre seiner Ansicht nach so gewesen, als würde man einem Mann die Hand abschlagen, weil er ausgeraubt worden war. Also wurde ich in aller Form entlastet und mein Leben verschont.«

Ijada hörte aufmerksam zu; offenbar war sie an diesem Präzedenzfall sehr interessiert. Sie öffnete ein wenig die Lippen, wie um zu sprechen, schüttelte dann aber nur den Kopf.

Ingrey nickte ihr dankbar zu und fuhr fort: »Und doch konnte man mir nicht gestatten, einfach frei davonzuspazieren. Manchmal war ich ganz klar, müsst Ihr wissen, manchmal aber … An diese anderen Male konnte ich mich danach gar nicht mehr so richtig erinnern. Also versuchte unser Geistlicher, mich zu heilen.«

»Wie?«, fragte die Zauberin.

»Zuerst durch Gebete. Dann folgten Rituale, sämtliche alten Zeremonien, die er nur aufstöbern konnte. Ich habe den Verdacht, dass er auch selbst aus Bruchstücken von Überlieferung neue zusammensetzte. Aber nichts davon half. Dann versuchte er es mit Ermahnungen, Belehrungen, Predigten. Er und seine Akolythen wechselten sich über Tage hinweg ab. Das waren die ermüdendsten Versuche. Und zuletzt versuchten wir, den Wolf mit Gewalt auszutreiben.«

»Wir?« Hallana hob spöttisch die Augenbrauen.

»Es geschah nicht … nicht gegen meinen Willen. Zu diesem Zeitpunkt war ich verzweifelt und zu allem bereit.«

»Hm. Ja, ich kann …« Sie presste die Lippen zusammen. Nach einem langen Augenblick öffnete sie wieder den Mund und sagte: »Wie liefen diese Wolfsaustreibungen ab?«

»Wir haben alles versucht, was nicht gleich auf eine regelrechte Verstümmelung hinauslief. Hunger, Schläge und die Drohung mit Feuer und Wasser. Es konnte den Wolf nicht vertreiben, aber ich lernte schließlich, den Wolf zu beherrschen, und die Zeiten der Verwirrung wurden seltener.«

»Ich nehme an, unter diesen Bedingungen habt Ihr sehr schnell gelernt.«

Bei diesem trockenen Einwand blickte er auf und verteidigte sich: »Es hat offensichtlich geholfen. Jedenfalls war es besser, sich im Birkbach untertauchen zu lassen, bis mir fast die Lungen platzten, als noch länger Tag und Nacht diese Predigten anzuhören. Unser Geistlicher sorgte dafür, dass wir alle standhaft blieben, aber es war hart. Es war das Letzte, was er noch für meinen Vater tun konnte, den er seinem Empfinden nach im Stich gelassen hatte.«

Ingrey nahm einen Schluck Wein. »Nach einigen Monaten erklärte man mich für so weit erholt, dass ich aus dem Gewahrsam entlassen werden konnte. In der Zwischenzeit war Burg Birkenhain meinem Onkel zugesprochen worden. Mich schickte man auf eine Pilgerfahrt, in der Hoffnung, dass ich dabei einen Weg zu dauerhafter Heilung finden möge. Auch wenn diese Hoffnungen sich zerschlugen, so war ich doch froh, dort wegzukommen. Ich wurde erwachsen und ließ meine Hüter zurück, und meine Suche wurde zu einem ziellosen Umherstreifen. Als mir das Geld ausging, nahm ich jeden Auftrag an, der sich mir bot.« Alles war ihm lieber gewesen, als wieder nach Hause zurückkehren zu müssen. Und dann, eines Tages … war das nicht mehr so.

»Ich traf Lord Hetwar, als der gerade auf Staatsbesuch beim König von Darthaca weilte.« Seine verzweifelten Bemühungen, beim Siegelbewahrer vorgelassen zu werden, hielt er für nicht weiter erwähnenswert. »Er war neugierig, wie ein wealdischer Verwandter dazu kam, so fern der Heimat bei Fremden zu dienen, und ich erzählte ihm meine Geschichte. Er ließ sich von meinem Wolf nicht einschüchtern und wies mir einen Platz in seiner Wache zu, damit ich mir die Rückreise in mein Heimatland erarbeiten konnte. Unterwegs machte ich mich bei einigen Zwischenfällen nützlich, was mir eine dauerhafte Anstellung verschaffte. Anschließend stieg ich in seinem Haushalt weiter auf.« Mit einem gewissen Stolz fügte er noch hinzu: »Dank meiner Leistung.«

Er wandte sich wieder dem würzigen Fleisch zu und tupfte den Rest von der Ingwersoße mit dem guten Brot des Gasthauses auf. Ijada hatte kurz zuvor ihre Mahlzeit beendet und saß nun ernst und nachdenklich da. Mit dem Finger fuhr sie über den Rand ihres geleerten Weinbechers. Als sie wieder aufsah und ihre Blicke sich kreuzten, brachte sie ein schwaches Lächeln zustande. Hallana wehrte die Versuche der Dienstmagd ab, ihr noch ein zweites Apfeltörtchen anzureichen, und Hergi rollte daraufhin die fleckige Serviette zusammen und verstaute sie.

Die Zauberin musterte Ingrey. »Geht es Euch jetzt besser?«

»Ja«, gab er widerstrebend zu.

»Habt Ihr eine Ahnung, wer Euch dieses Zaumzeug hätte anlegen können?«

»Nein. Es fällt mir schwer, darüber nachzudenken. Es bereitet mir fast noch mehr Sorge, dass ich zwischen den Anfällen überhaupt nichts davon bemerke. Allmählich misstraue ich jeder Regung meines Verstandes. Es ist so, als würde ich ständig versuchen, die Rückseite meiner Augäpfel zu beobachten.« Er zögerte und nahm sich zusammen. »Könnt Ihr mich davon befreien, Hochwürden?«

Sie stieß unsicher die Luft aus, während der Diener hinter ihr eindringliche, verneinende Gesten in Ingreys Richtung vollführte und Hergi einen protestierenden Quietschlaut von sich gab.

»Ich wage es nicht, irgendetwas Komplizierteres anzufangen«, erklärte Hallana. »Wenn ich nicht schwanger wäre, könnte ich versuchen … nun, es spielt keine Rolle. Ja, ja, ich sehe dich schon, Bernan. Du brauchst nicht gleich zu platzen«, wandte sie sich an den aufgeregten Diener. »Wenn ich nicht ein wenig Chaos an Lord Ingrey weiterleite, müsste ich ohnehin gleich anfangen, ein paar Mäuse zu töten. Und ich mag Mäuse.«

Ingrey rieb sich das müde Antlitz. »Ich bin gerne bereit, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Aber bitte, fesselt mich vorher!«

Sie runzelte die Stirn. »Haltet Ihr das für notwendig?«

»Für umsichtig.«

Zumindest die Dienstboten der Zauberin schienen jeder Form der Umsicht sehr zugeneigt zu sein. Während Ingrey sein Schwert und sein Gürtelmesser an der Wand neben der Tür ablegte, öffnete Bernan seine anscheinend gut ausgestattete Werkzeugtruhe und wühlte darin. Schließlich brachte er einige Armlängen einer robusten Kette zum Vorschein. In Absprache mit Ingrey wickelte er sie fest um dessen stiefelgeschützte Knöchel und sicherte sie dann mit einer eisernen Klammer und einem Zughaken. Ingrey überkreuzte die Handgelenke und ließ diese auf ähnliche Weise binden; dann überprüfte er beide Fesseln, indem er sich wand und die Muskeln anspannte. Zuletzt setzte er sich auf den Boden, mit dem Rücken gegen den Fenstersitz gelehnt, und ließ Bernan die Hand- und die Fußketten fest zusammenschließen. Er kam sich wie ein Trottel vor, als er schließlich mit fast bis zu den Ohren hochgezogenen Knien dasaß. Sein Publikum blickte ihn verständnislos an, doch niemand machte Einwände.

Die Gelehrte Hallana stemmte sich von ihrem Sitz hoch, ging auf ihn zu, schob die Ärmel hoch und verschränkte die Finger. Dann streckte sie mit einem leisen, aber vernehmlichen Knacken der Gelenke die Hände aus. »Nun gut«, stellte sie munter fest, in einem Tonfall, wie man ihn bei Heilkundigen häufig hörte und der durch seine Munterkeit nur noch bedrohlicher klang. »Sagt mir Bescheid, wenn es wehtut …« Sie drückte eine warme Handfläche gegen Ingreys Stirn.

In den ersten Augenblicken war die Hitze dieser Berührung angenehm, und Ingrey lehnte sich bereitwillig gegen die Hand. Dann aber wurde die Wärme unangenehm. Ein störender Dunst trübte Ingreys Sicht. Plötzlich brauste die Hitze wie ein Schmiedeofen in seinem Geist, und er sah alles doppelt. Das zweite Abbild löste sich von dem ersten, verzerrte sich, veränderte sich.

Er sah den Raum immer noch mit seinen normalen Sinnen. Aber ebenso deutlich nahm er plötzlich einen anderen Ort wahr. Und dort …

Und dort stand er nackt da. Über seinem Herzen kräuselte sich die blasse Haut, schwoll an, platzte auf. Eine Ranke spross heraus, nein, eine Ader, und sie wand und drehte sich um ihn herum, kletterte an seinem Leib empor. Eine andere, heiße Schwellung platzte an seiner Stirn auf, und er sah eine weitere Ranken-Ader, die sich von dort hinabschlängelte — verschwommen durch die Nähe zu seinen Augen. Eine weitere ringelte sich aus dem Nabel, und noch eine aus den Genitalien. Ihre tastenden Spitzen murmelten, und Blut tropfte von ihnen herab. Auch seine Zunge veränderte sich. Sie drang aus dem Mund hervor und wurde zu einem pulsierenden Strang.

In dem Gemach in der materiellen Welt wand sich sein Leib und zerrte an den Fesseln. Ingrey Augen rollten, doch immer noch sah er die Gelehrte Hallana, die sich über ihn beugte — und zurückfuhr, als er ein Heulen ausstieß. Doch zwischen ihren ausgestreckten Händen züngelte weiterhin violettes Feuer und wirbelte in seinen nun so schrecklich aussehenden Mund hinein.

Der lange Tentakel, zu dem seine Zunge geworden war, zuckte und wand sich in furchtbaren Qualen. Sein unverständliches Murmeln wurde schneller und verwandelte sich in ein Zischen, und doch schien er die Hitze zu verschlingen. Die vier anderen Rankengebilde spiegelten seine Erregung. Sie brummten und schwollen an, bespritzten Ingrey mit Blut. Der metallische Geruch und das glitschige Gefühl auf der Haut trieben ihn schier zur Raserei.

In der wirklichen Welt bäumte sein Körper sich gegen die Ketten auf und krümmte sich mit einer Gewalt, die beinahe seine Knochen bersten ließ. Sein Haar kräuselte sich, sein Glied schwoll an und wurde hart. Er kippte zur Seite, zuckte, versuchte durch Rollen und Rucken über den Boden zu der Wand zu gelangen, an der sein Schwert in der Scheide lehnte.

Ijada war auf die Knie gefallen, Mund und Augen weit aufgerissen. Und in dieser anderen Wirklichkeit erschien eine Leopardin …

Ihr Fell war ein weiches Wogen über spielenden Muskeln, ihre Pranken wie geschnitztes Elfenbein; ein goldenes Glühen lag in den strahlenden, bernsteinfarbenen Augen. Sie stürzte sich auf die zuckenden Aderstränge wie ein Kätzchen auf einen Haufen Wolle. Erst tastete sie mit ihren Pfoten, dann krallte sie danach, und schließlich zog sie die zischenden Gebilde auf sich zu und riss mit ihren scharfen Zähnen daran. Die Ranken schlugen noch immer wie Peitschenschnüre aus Säure, und wo sie trafen, hinterließen sie schwarz verbrannte Streifen auf dem glänzenden, gefleckten Fell. Die Leopardin knurrte — ein Grollen, das die Luft erzittern und Ingrey bis ins Innerste erbeben ließ. Und von irgendwo tief in ihm erhob sich ein Knurren zur Antwort.

Sein Kiefer schob sich vor …

Nein. Nein! Ich verweigere mich dir, du Wolf in meinem Innern! Er drängte ihn zurück, biss die Zähne zusammen, kämpfte gegen den Wolf, kämpfte gegen die Tentakel, gegen seinen Leib, seinen Geist, rutschte näher an das Schwert heran. Kämpfen … Töten … Irgendwas … Alles …

Die beanspruchte Kette verdrehte sich, und ein eiserner Stift zersprang wie ein dürrer Zweig. Seine Hand- und Fußgelenke waren immer noch gebunden, aber nicht mehr zusammengeschlossen. Er streckte den Leib und konnte plötzlich kriechen und rollen, sich krümmen und drehen. Sein Schwert war jetzt nahe. Panische Schritte eilten um ihn her.

Seine wirklichen Hände waren inzwischen schlüpfrig von Blut, genau wie sein zweiter Leib von diesem sonderbaren, roten Speichel, den die Ranken-Adern aus seinem Innern sogen und über ihn versprühten. Zu seinem Entsetzen spürte er, wie die Ketten über die glitschigen Gelenke glitten, über die zerrenden Hände. Wenn er seine Rechte befreite, das Schwert zu fassen bekam … ganz bestimmt würde niemand diesen Raum lebendig verlassen. Vielleicht nicht einmal er selbst.

Zuerst würde er den Kopf des jammernden Dieners abtrennen, mit einem einzigen Streich. Und sich dann den schreienden Frauen zuwenden. Ijada lag schon auf den Knien, wie bereit für den Henker. Strähnen ihres Haares hatten sich gelöst und fielen wie ein Schleier über ihr Gesicht. Eine wirbelnde Schwertklinge, die schwangere Frau … Sein Geist schreckte vor diesem Gedanken zurück, verleugnete ihn.

Heulte dann seinen Widerwillen heraus, so wild, dass diese Empfindung sich von seinem Innersten nach außen kehrte und endlich Zustimmung wurde. Hilf ihnen, rette sie, hilf mir, du Wolf in meinem Innern! Komm hervor, komm …

Wieder schoben seine Kiefer sich nach vorne, seine Zähne wurden zu scharfen, weißen Fängen. Er schnappte nach den Adersträngen und riss an ihnen, knurrte und schüttelte den Kopf, wie ein Wolf ein Kaninchen schütteln mochte, um ihm den Hals zu brechen. Das warme Blut spritzte in seinen Mund, und er spürte den Schmerz seiner eigenen Bisse. Er schnappte und zerrte, riss die Gebilde mitsamt ihrer blutigen Wurzeln aus sich heraus. Und dann war das Ding nicht mehr in seinem Innern, sondern lag vor ihm, wand sich wie ein bösartiges Meereswesen, das man an die tödliche Luft gezerrt hatte. Er trat mit bloßen, klauenbewehrten Pfoten danach. Die Leopardin schlug und wälzte das kreischende Etwas über den Boden.

Für kurze Zeit war es lebendig. Dann starb es.

Und dann war es verschwunden.

Die zweite Welt seiner Vision verging, oder sie verband sich wieder mit der ersten; alle Dinge verschmolzen miteinander. Die Leopardin verschwand in Ijada, sein Wolfsgebiss … wohin?

Sein Körper sackte zusammen. Er lag dicht bei der Tür auf dem Rücken, die Knöchel noch immer gefesselt, doch die blutigen Hände frei. Bernan stand über ihm. Sein Gesicht war so blass wie Pergament, und er hielt eine Brechstange in den zitternden Händen.

Schweigen breitete sich aus.

»Nun«, stellte Hallana mit ihrer hellen Stimme fest, in der diesmal deutliche Anspannung mitschwang. »Das sollten wir lieber nicht noch einmal tun …«

Polternde Schritte erklangen auf dem Flur, gefolgt von einem fordernden Klopfen an der Tür. »Hallo?«, rief Ingreys Krieger aufgeregt. »Alles in Ordnung da drinnen? Lord Ingrey?«

Die ängstliche Stimme der Zofe war zu vernehmen: »War das wirklich er, der da so geheult hat? Oh, beeilt euch doch! Brecht die Tür auf!«

»Wenn ihr meine Tür aufbrecht, müsst ihr sie auch bezahlen«, meldete sich eine dritte Stimme zu Wort. »He, da drinnen! Macht auf!«

Ingrey dehnte und lockerte seinen Kiefer, einen gewöhnlichen, menschlichen Kiefer, keine Schnauze. Mit heiserer Stimme krächzte er: »Mir geht es gut.«

Hallana stand steif und schwer atmend da und starrte aus weit aufgerissenen Augen auf ihn. »Ja«, rief sie laut. »Lord Ingrey … ist gestolpert und hat den Tisch umgekippt. Hier drin herrscht ein ziemliches Durcheinander. Wir kümmern uns darum. Macht euch keine Sorgen.«

»Ihr klingt aber nicht so, als würde es Euch gutgehen.«

Ingrey schluckte, räusperte sich und versuchte, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Ich komme gleich runter in die Schankstube. Die Bediensteten der Geistlichen werden sich um das … das Durcheinander hier kümmern. Wartet unten.«

»Wir kümmern uns um seine Verletzungen«, fügte Hallana noch hinzu.

Es folgte ein verblüfftes Schweigen, dann eine halblaute Auseinandersetzung. Schließlich entfernten die Schritte sich wieder.

Jedem in der Stube schien sich ein erleichterter Seufzer zu entringen — außer Bernan, der immer noch das Brecheisen schwang. Ingrey lag kraftlos auf den Dielen; er fühlte sich, als wäre jeder seiner Knochen zu Pudding geworden. Ihm war übel. Nach einigen Augenblicken hob er die Hände. Die Ketten hingen schwer vom linken Handgelenk herab; die blutverschmierte Rechte war frei. Er starrte sie an und verstand kaum, warum die Haut dort so aufgerissen und von pochendem Schmerz erfüllt war. Zwischen den Haaren spürte er ein unangenehmes, feuchtes Prickeln und schloss daraus, dass er sich bei seinem wilden Toben die frische Naht aufgerissen hatte.

Wenn das so weitergeht, bin ich tot, noch bevor wir in Ostheim ankommen. Ob Lady Ijada mich nun überlebt oder nicht.

Ijada … Sorge stieg in ihm auf, und er fuhr herum. Bernan gab einen warnenden Laut von sich und hob die Brechstange.

Ijada lag immer noch auf den Knien, ein oder zwei Schritte entfernt. Ihr Gesicht war blass, die Augen weit aufgerissen und die Pupillen geweitet.

»Bernan, nein!«, rief sie. »Er ist jetzt in Ordnung. Es ist fort.«

»Ich habe schon mal einen Mann gesehen, der unter Fallsucht litt«, stellte Hallana in abwesendem Tonfall fest. »Aber das hier war ganz eindeutig etwas anderes.« Sie wagte sich wieder näher an Ingrey heran und schritt um ihn herum. Prüfend schaute sie über ihren Bauch hinweg auf ihn.

Mit Blick auf die Brechstange rollte Ingrey sich ganz langsam und vorsichtig auf die Seite, um einen besseren Blick auf Ijada zu haben. Diese Bewegung ließ das Gemach vor seinen Augen pulsieren, und sein Ächzer klang eher wie ein Stöhnen oder ein Wimmern. Ijada sprang auch nicht gerade auf die Füße. Schlaff setzte sie sich zurück und stützte sich auf die Hände, um sich aufrecht zu halten. Sie wurde auf seinen Blick aufmerksam, holte tief Luft und richtete sich auf. »Alles in Ordnung«, verkündete sie, obwohl niemand danach gefragt hatte. Alle anderen waren noch von Ingreys spektakulärer Darbietung gebannt gewesen.

Jetzt blickte Hallana sich nach Ijada um. »Was hast du gerade wahrgenommen? «

»Ich bin auf die Knie gefallen — ich kniete die ganze Zeit auf dem Boden, hier, in diesem Gemach. Aber gleichzeitig war ich plötzlich in Leopardengestalt. In der Geistergestalt eines Leoparden. Ich habe stets gewusst, dass es kein Körper aus Fleisch und Blut war. Aber, ach, er war so stark! Prachtvoll. Meine Sinne waren auf unglaubliche Weise geschärft. Ich konnte sehen! Aber ich war stumm … nein, mehr als stumm. Ohne Sprache. Wir waren an irgendeinem weitläufigeren Ort, oder ganz außerhalb jeden Raumes. Es war so viel Platz da, wie man eben brauchte. Ihr«, sie wandte sich Ingrey zu, »wart schon vor mir an diesem Ort. Irgendwelche blutroten Schrecknisse wucherten aus Eurem Leib. Sie schienen ein Teil von Euch zu sein, und doch griffen sie Euch an. Ich bin auf sie losgegangen und habe versucht, sie von Euch abzubeißen. Sie haben mir das Maul verbrannt. Und dann habt Ihr Euch in einen Wolf verwandelt, oder in eine Mischung zwischen Mensch und Wolf, eine eigentümliche Chimäre. Es sah fast so aus, als könne Euer Leib sich nicht für eine Gestalt entscheiden. Schließlich habt Ihr einen Wolfskopf ausgebildet und auch nach den roten Rankenwesen geschnappt.« Mit neuem Interesse blickte sie ihn von der Seite her an.

Ingrey fragte sich, ob sie sich für ihn auch ein Lendentuch vorgestellt hatte, aber er wagte nicht, danach zu fragen. Die wilde Erregung, die ihn während der Raserei befallen hatte, ließ jetzt erst allmählich nach, gedämpft von seiner Verwirrung und dem Schmerz.

»Nachdem wir diese sengenden, klammernden Dinger allesamt aus Euch herausgerissen hatten, stellte sich heraus, dass es gar nicht mehrere Geschöpfe waren, sondern nur ein einziges. Einen Augenblick lang sah es aus wie ein Knäuel sich paarender Schlangen, die man zur Frühlingszeit aus irgendeinem Schlupfwinkel hervorgeharkt hat. Dann aber wurde es reglos und verschwand, und ich war wieder hier. In diesem Körper. Wenn das in irgendeiner Form dem entsprach, was die Krieger des Alten Weald erleben konnten, dann glaube ich zu verstehen, warum sie es so sehr begehrten. Abgesehen natürlich von diesen blutigen Ranken. Und doch … auch da haben wir gesiegt

Ihre weit aufgerissenen Augen brachten nicht nur Furcht zum Ausdruck, stellte Ingrey fest. Es war auch Begeisterung darin zu lesen. Ijada wandte sich an Hallana und fügte hinzu: »Hast du meinen Leoparden gesehen? Oder die blutigen Ranken? Oder den Wolfskopf?«

»Nein.« Enttäuscht stieß Hallana die Luft aus. »Eure Geister waren aufgewühlt, aber ich hätte kaum mein inneres Auge benötigt, um das festzustellen. Glaubst du, du könntest an jenen anderen Ort zurückkehren? Nach Belieben?«

Ingrey wollte schon den Kopf schütteln, aber sein Gehirn fühlte sich an, als würde es bei jeder Bewegung lose gegen den Schädel schlagen. Also murmelte er nur: »Nein.«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Ijada. »Ich bin nicht selbst dorthin gegangen, der Leopard hat mich hingebracht. Und es war auch nicht wirklich ein dort. Wir waren immer noch hier.«

Hallanas Gesichtsausdruck wurde noch aufmerksamer. »Habt ihr an diesem Ort die Gegenwart eines Gottes gespürt?«

»Nein«, erwiderte Ijada. »Da war keiner. Es gab mal eine Zeit, da hätte ich das nicht mit Bestimmtheit sagen können. Aber nach meinem Traum als Leopard … nein. Ich hätte es gewusst, wenn Er zurückgekehrt ist.« Ungeachtet ihrer Erschöpfung umspielte ein Lächeln ihre Lippen. Es galt nicht ihm, dessen war Ingrey sich bewusst. Und doch weckte es in ihm das Bedürfnis, zu ihr hinzukriechen.

Hallana streckte die Schultern, was angesichts ihres gegenwärtigen Leibesumfangs ein beunruhigender Anblick war, und verzog das Gesicht. »Bernan, hilf Lord Ingrey auf und löse die Ketten.«

»Seid Ihr sicher, Herrin?«, fragte der Diener zweifelnd. Unruhig blickte er zu Ingreys Schwert, das nun in einem Winkel des Raumes lag. Offenbar hatte er es aus Ingreys Reichweite getreten, während er sich mit der Brechstange schlagbereit hingestellt hatte.

»Lord Ingrey? Was sagt Ihr dazu? Ihr habt die Lage schon einmal richtig eingeschätzt.«

»Ich glaube nicht … dass ich mich überhaupt bewegen kann.« Der Eichenholzboden war kühl und hart, doch bei dem Schwindelgefühl in Ingreys Kopf wirkte er immer noch sehr viel verlockender als eine aufrechte Lage.

Ingrey wurde trotzdem in eine aufrechte Position gezwungen, auf die Füße gezerrt und schließlich von den beiden Dienstboten zu dem Stuhl geschleppt, in dem zuvor die Geistliche gesessen hatte. Bernan schlug mit dem Hammer die Klammern los, und Hergi holte eine Schale mit sauberem Wasser, Seife, Handtücher und die Ledertasche herbei, in der sich medizinische Instrumente und Heilmittel befanden. Unter der Aufsicht der Geistlichen kümmerte sie sich fachkundig um Ingreys Verletzungen, die alten wie die neuen, und mit einiger Verspätung kam Ingrey in den Sinn, dass die Zauberin in ihrem derzeitigen Zustand natürlich mit ihrer eigenen Hebamme unterwegs sein würde. Er fragte sich, ob Hergi wohl mit dem Schmied verheiratet war — wenn das tatsächlich Bernans Beruf sein sollte.

Ijada stemmte sich auf ihren Stuhl und beobachtete fasziniert Hergis Näharbeiten, biss sich bei jedem Stich der Nadel auf die Lippen. Der aufgerissene Hautfetzen auf Ingreys Handrücken wurde wieder ordentlich zurechtgeschoben und mit einer weißen Leinenbinde umwickelt; die kleineren Schürfwunden am anderen Handgelenk wurde gesäubert und verbunden. Seine Hand tat nicht annähernd so weh wie sein überbeanspruchter Rücken oder wie die Knöchel, in denen ein pochender Schmerz wühlte. Aber vielleicht lenkte ihn ja der eine Schmerz von dem anderen ab. Ingrey fragte sich, ob er wohl lieber die Stiefel ablegen sollte, solange er noch konnte, oder ob er sie sich andernfalls später vom Fuß schneiden musste. Es waren gute Stiefel; er wollte sie nur ungern verlieren. Die Kette hatte tiefe Riefen im Leder hinterlassen.

»An diesem Ort, an dem Ihr Euch plötzlich wiederfandet …«, setzte Hallana an.

»Es war kein wirklicher Ort«, murmelte Ingrey.

»Hm, ja, nun. Aber während Ihr … äh, in diesem Zustand wart, wie habt Ihr mich da wahrgenommen, wenn überhaupt?«

»Ein farbiges Feuer schlug aus Euren Händen und in meinen Mund. Die Ranke, die dort wucherte, wurde wild davon, und das übertrug sich auf die anderen. Auf ihre anderen Teile, besser gesagt. Es war, als hätte Euer Feuer sie aus ihrem Versteck getrieben.« Er bewegte die Zunge im Mund, um sich zu vergewissern, dass die abscheuliche Verformung tatsächlich verschwunden war. Zu seiner Beunruhigung stellte er fest, dass sein ganzes Gesicht von schaumigem Speichel verschmiert war. Er fing an, mit dem Verband am linken Handgelenk an dem klebrigen Schaum herumzuwischen, doch Hergi hielt seine Hand fest und beschützte so ihre Arbeit. Missbilligend schüttelte sie den Kopf und wrang stattdessen ein nasses Handtuch aus. Ingrey wischte und versuchte, nicht an seinen Vater zu denken.

»Die Zunge ist Zeichen und Sinnbild des Bastards an unserem Leib«, meinte Hallana grübelnd.

Wie die Stirn für die Tochter, der Nabel für die Mutter, die Genitalien für den Vater und das Herz für den Bruder. »Die Adern, Tentakel oder was auch immer sie waren, die zu dem Bann gehörten, schienen aus all meinen heiligen Stellen zu sprießen.«

»Das sollte irgendeine Bedeutung haben. Ich frage mich nur, welche. Ob es wohl irgendwelche Schriften aus dem Alten Weald gibt, die dieses Rätsel erhellen können? Wenn ich zurück in Neresblatt bin, werde ich mich in der Bibliothek umschauen. Aber ich fürchte, wir haben dort zumeist medizinische Schriften. Die darthacischen Quintarier, die uns erobert haben, waren mehr daran interessiert, die alten Lehren auszulöschen, als sie aufzuzeichnen. Man könnte fast meinen, sie wollten die alte Waldmagie für jedermann unzugänglich machen, sogar für die Kirche selbst. Und ich bin mir nicht sicher, ob das tatsächlich ein Fehler gewesen ist.«

»Als ich in dem Leoparden war — als ich der Leopard war«, sagte Ijada, »habe ich all diese geisterhaften Bilder ebenfalls gesehen. Aber dann wurde ich von all dem wieder ausgeschlossen.« Ein Hauch von Bedauern kam in ihrer Stimme zum Ausdruck.

»Ich hingegen«, sagte die Zauberin, »habe gar nichts gesehen. Abgesehen natürlich davon, wie Lord Ingrey sich von Eisenketten freigekämpft hat, die ein Pferd hätten halten sollen. Wenn das ein typisches Beispiel für die Kraft ist, die den Kriegern des Alten Weald von ihren Tiergeistern verliehen wurde, dann ist es kein Wunder, dass diese so hoch geschätzt wurden.«

Und wenn diese alten Krieger im Anschluss daran ebensolche Schmerzen gelitten hatten, hegte Ingrey seine Zweifel, ob diese Tiergeister wirklich dermaßen geschätzt wurden. Wenn die Waldstämme sich so verhalten hatten wie er eben … Er wollte nach den Geräuschen fragen, die er gemacht hatte, schämte sich aber zu sehr.

»Wenn es etwas zu sehen gab, hätte ich es sehen sollen«, fuhr Hallana in wachsender Verzweiflung fort und ließ sich auf einen leeren Stuhl sinken. »Verflixt, verflixt. Lasst uns nachdenken.« Nach einer Weile blickte sie Ingrey an und kniff die Augen zusammen. »Ihr sagt, das Ding ist nun fort. Wenn wir schon nicht feststellen können, was es war — erinnert Ihr Euch dann wenigstens daran, wer Euch damit belegt hat?«

Ingrey beugte sich vor und rieb sich die juckenden Augen. Er hatte den Verdacht, dass sie blutunterlaufen waren. »Ich sollte besser diese Stiefel loswerden.« Auf Hallanas Wink kniete Bernan nieder und half Ingrey, sie abzulegen. Die Knöchel darunter schwollen tatsächlich schon an, und deutliche Blutergüsse zeichneten sich unter der Haut ab. Einen Augenblick blickte Ingrey wie gebannt darauf.

»Ich habe nichts von dem Bann gespürt, ehe ich Ijada zum ersten Mal erblickte«, erklärte er schließlich. »Ich hätte ihn genauso gut seit Tagen mit mir herumtragen können, oder seit Monaten oder gar Jahren. Zunächst glaubte ich tatsächlich, es wären Jahre … ich machte meinen Wolf dafür verantwortlich. Hätte Ijada nicht etwas anderes behauptet, und hätte ich nicht selbst erlebt, was gerade geschehen ist, würde ich es vielleicht immer noch glauben. Hätte ich es tatsächlich geschafft, sie zu töten, wäre ich vermutlich mein Leben lang davon überzeugt gewesen, dass mein Wolf dafür verantwortlich ist.«

Hallana kaute auf der Unterlippe. »Denkt noch mal gründlicher darüber nach. Ein Zwang, Eure Gefangene umzubringen, wurde Euch vermutlich erst auferlegt, nachdem die Nachricht von Bolesos Tod in Ostheim eingetroffen war und bevor Ihr dann nach Keilerkopf aufgebrochen seid. Vorher gab es keinen Grund und danach keine Gelegenheit. Mit wem hattet Ihr während dieses Zeitraums Kontakt?«

So ausgedrückt, wurde die Sache nur noch beunruhigender. »Mit nur wenigen Leuten. Ich wurde des Abends in Lord Hetwars Räumlichkeiten gerufen. Der Bote war noch anwesend, außerdem Hetwar, sein Sekretär und Prinz Rigild, der königliche Seneschall. Außerdem der Graf von Dachswall, Wenzel von Rossfluten, Lord Alca von der Otterwinde, die Brüder von Keilerstritt … Wir sprachen nur kurz miteinander, als Lord Hetwar mich vom Tod des Prinzen in Kenntnis setzte und mir meine Befehle erteilte.«

»Die da lauteten?«

»Bolesos Leichnam überführen. Seine Mörderin herbeischaffen …« Ingrey zögerte. »Dafür sorgen, dass nicht zu viel über die Umstände seines Ablebens bekannt wird.«

»Was sollte das denn bedeuten?«, fragte Ijada verwirrt.

»Ich sollte alle Hinweise auf Bolesos Unbesonnenheiten verschwinden lassen.« Und damit auch sein Opfer und den Anlass seines Todes?

»Was? Aber dient Ihr nicht der königlichen Gerechtigkeit?«, stellte sie entrüstet fest.

»Genau genommen diene ich dem Siegelbewahrer Hetwar«, erwiderte er bedächtig. »Und Hetwars unerschütterliches Anliegen ist es, stets den Bedürfnissen des Weald und seiner königlichen Familie zu dienen.«

Ijada schwieg und kniff die Augenbrauen zusammen.

Die Tempelzauberin spielte mit einem Finger an ihrer Unterlippe. Sie zumindest wirkte nicht schockiert von Ingreys Äußerungen. Aber als sie erneut das Wort ergriff, hatten ihre Gedanken anscheinend schon wieder eine ganz andere Richtung eingeschlagen. »Nichts aus der spirituellen Welt kann in der grobmateriellen Welt Bestand haben, ohne dass ein Geschöpf der Materie ihm Nahrung gibt. Ein Zauberer kann seine Zauber mit Hilfe seines Dämons aufrechterhalten. Der Dämon ist zwar für den Zauber notwendig, aber allein nicht ausreichend: Er muss seine Kraft aus dem Körper des Zauberers nähren können. Aber Euer Bann wurde von Euch selbst genährt. Ich vermute also … hm. Um es mit deinen Worten auszudrücken, Ijada, eine Art parasitäre Magie? Der Zauber wurde Euch irgendwann auferlegt und bezog seine Kraft danach aus Eurer Lebensenergie. Wenn diese Magie überhaupt eine Ähnlichkeit mit der meinen hat, fließt sie wie Wasser stets bergab: Sie kann nichts selbst hervorbringen, sondern muss ihre Fähigkeiten schon bei ihrem Wirt vorfinden und sie rauben können.«

Ingrey sah die innere Logik dieses Gedankenganges, aber es war eigentlich keine Schlussfolgerung, die er in Ijadas Gegenwart ausgesprochen hören wollte. Viele Männer besaßen die Fähigkeit, nach Gutdünken ihrer Herren zu töten. Allerdings fand der einzige Zauber, der in der Regel dafür nötig war, in einer wohlgefüllten Börse Platz. Als Wachsoldat war er stets bereit gewesen, zum Schutz seines Herrn das Schwert zu ziehen, jederzeit — und war das nicht letztlich dasselbe?

»Aber …« Ijadas wohlgeformte Lippen wurden schmal, als sie sie nachdenklich zusammenkniff. »Siegelbewahrer Hetwar muss Hunderte von Kriegern zu seiner Verfügung haben, Soldaten, Meuchelmörder. Ein halbes Dutzend Männer seiner Wache sind in Eurer Begleitung geritten. Die Person, wer auch immer, die diesen Bann auf Euch gelegt hat, hätte das ebenso gut bei einem der anderen tun können. Warum sollte ausgerechnet der einzige Mensch in Ostheim zu mir geschickt werden, von dem jeder weiß, dass er einen Tiergeist in sich trägt?«

Kurz blitzte eine Regung in Hallanas Gesicht auf und verschwand wieder. Erkenntnis? Befriedigung? Mit neu erwachter Aufmerksamkeit lehnt sie sich zurück, vermutlich nur deshalb, weil sie sich nicht aufmerksamer vorbeugen konnte. »Ist sie so weithin bekannt, Eure spirituelle Heimsuchung?«, fragte sie Ingrey.

Ingrey zuckte die Achseln. »Es wird viel darüber geklatscht, ja, und es wird auf die unterschiedlichste Weise verzerrt und entstellt. Mein Ruf ist nützlich für Hetwar. Ich bin keine Person, der man gerne über den Weg laufen möchte.« Oder mit der man gesellschaftlich verkehrt, die man zum Essen einlädt und die man insbesondere nicht der weiblichen Verwandtschaft vorstellt. Aber daran habe ich mich inzwischen gewöhnt.

Ijada riss die Augen auf. »Ihr wurdet ausgewählt, weil jeder Euren Wolf dafür verantwortlich machen würde! Hetwar hat Euch ausgewählt. Also muss er auch für den Bann verantwortlich sein.«

Dieser Gedanke gefiel Ingrey gar nicht. »Nicht unbedingt. Lord Hetwar hatte sich bereits eine ganze Weile mit den anderen beraten, bevor ich hinzugerufen wurde. Jeder in dem Gemach hätte mich für diese Aufgabe vorschlagen können.« Die Sache mit dem Wolf klang allerdings nur allzu glaubwürdig. Ingrey selbst hätte bereitwillig dem Wolf in seinem Innern die Schuld am Tod der Gefangenen zugeschrieben. Er hätte selbst auch noch eine solche Anklage unterstützt, anstatt sich zu verteidigen. Wenn er selbst überhaupt den Anschlag auf Ijada überlebt hätte. Er erinnerte sich noch gut an sein gestriges und beinahe tödliches Bad im Fluss. Auf die eine oder andere Weise hätte man sowohl das Opfer wie auch das Werkzeug leicht zum Schweigen bringen können.

Zwei überaus unangenehme Gedanken drängten sich ihm auf: Zum einen wurde er sich bewusst, dass er immer noch Lady Ijada ihrem möglichen Tod entgegenführte. Das Ertrinken im Fluss wäre auch nicht schlimmer gewesen, als wenn sie später irgendwann in ihrer Zelle vergiftet oder erwürgt wurde, und es wäre vermutlich noch hundertmal gnädiger gewesen als die Bedrängnis durch einen zweifelhaften Prozess und die spätere Hinrichtung.

Und der andere Gedanke war der, dass ein Feind mit ebenso großen wie geheimen Kräften überaus verärgert sein würde, wenn sie beide lebendig in Ostheim eintrafen.

Загрузка...