Talena, die Ubara von Ar, sagte: »Sie ist auserwählt.«
Die Frau stieß einen klagenden Schrei aus.
Aus der Menge, die sich um die auf dem Platz des Tarns errichtete Plattform versammelt hatte, ertönten Jubel und Applaus.
Der Wächter, der die Frau nun am Oberarm hielt, führte sie zu der Stelle, neben der eine ziemlich schmale zusätzliche Rampe angebracht war; dort mußte sie niederknien und wurde in Ketten gelegt. Die kleine Rampe führte auf der linken Seite der Plattform nach unten. Ich stand direkt an ihrem Fuß.
Talena saß umgeben von Dienern, Beratern, Wächtern und Schreibern auf einem Podest. Auf der anderen Seite der Plattform gab es eine zweite Rampe, auf der die in Büßergewänder gekleideten Frauen barfuß nach oben gingen.
Die Handschellen schlössen sich um die Gelenke der knienden Frau. Man hörte deutlich das entschiedene Zuschnappen der Eisenreifen, zuerst der eine, dann der andere. Die Frau hob sie und starrte sie ungläubig an.
»Hast du noch niemals eine Kette getragen?« rief ein Mann.
Die Frau schluchzte plötzlich auf und versuchte mit aller Gewalt, das Eisen über das Handgelenk zu schieben. Dann hob sie es erneut in die Höhe und starrte es wieder ungläubig an.
»Ja, das sind deine Ketten«, lachte ein Zuschauer. »Die kannst du nicht abstreifen.«
»Die sind nicht dazu gemacht, daß sie deinesgleichen wieder abnimmt!« rief ein anderer Mann.
Lautes Gelächter ertönte.
Die Frau schluchzte.
»Hör auf zu heulen, Frau!« rief der Zuschauer. »Du solltest dich freuen, daß du für wert befunden wurdest, durch diese Auswahl geehrt zu werden.«
Die Frau wurde von einem Hilfswächter, der eine Armbinde als Zeichen seines Amtes trug, die Rampe hinuntergeführt, während der erste Wächter, der eine Uniform trug, zur Gruppe zurückkehrte. Unten angelangt, mußte sie vor mir niederknien.
»Handgelenke«, sagte ich. Sie hob die zusammengeketteten Hände. Ich zog sie an der sich dazwischen spannenden Verbindungskette näher zu mir heran und hakte sie mit dem Bolzen des vorhängeschloßähnlichen Verbindungsrings in ein Glied der, Zugkette ein. Er würde sie an einer bestimmten Stelle der Kette halten. Ich ließ den Verschluß des Verbindungsrings zuschnappen. Sie blickte zu mir hoch, nun mit der Sklavinnenkette verbunden.
»Auf die Füße, beweg dich«, sagte einer der Hilfswächter.
Sie stand auf und ging zu der ersten Linie, die in die Steinplatten des Platzes eingeritzt worden war. Es gab einhundert solcher Linien, von denen jede etwa anderthalb Meter von der anderen entfernt war. Sie zeigten den Frauen, wo sie sich aufzustellen hatten. Als die neue Gefangene vortrat, rückten auch ihre Vorgängerinnen ein Stück auf. Jenseits der hundert Plätze beschrieb die Sklavinnenkette eine Kurve und führte wieder zurück, wo sie dann erneut eine Kehrtwende beschrieb und wieder nach vorn führte; auf diese Weise blieben alle Gefangenen zusammen, mehrere Reihen, die in verschiedene Richtungen sahen und alle in der Nähe der Plattform blieben.
»Es ärgert mich, daß sich diese Frauen beschweren«, sagte ein Mann. »Es ist doch nun wirklich keine schwere Pflicht, die man ihnen abverlangt. Betrachtet man einmal die Schuld, die Ar auf sich geladen hat, seine Mittäterschaft bei Gnieus Lelius’ teuflischen Plänen, ist es für eine weibliche Bürgerin eine ehrenvolle Tat, sich für die Reparationszahlung anzubieten.«
»Es werden sowieso schon viel zu wenige auserwählt«, warf der Mann ein.
»Ganz genau«, bestätigte ein anderer Bürger, ein Kaufmann. »Sollen denn nur wir Männer die ganze Last tragen? Was ist mit dem Arbeitsdienst?«
»Und den Steuern und den zusätzlichen Veranschlagungen?« ergänzte der erste Sprecher.
»Sie sind Bürgerinnen Ars«, sagte der Kaufmann. »Es ist nur gerecht, daß auch sie den Preis für unsere Untaten zahlen.«
»Und ihre Untertanen.«
»Eben. Sie haben Ratsmitglieder und die Wahlmänner unterstützt, die die Ratsmitglieder wählen«, erklärte der Kaufmann.
»Seht euch doch nur die edle Talena an«, sagte ein Tagelöhner. »Wie tapfer sie ihre Pflicht erfüllt.«
Der Kaufmann nickte. »Wie schwer muß ihr das fallen.«
»Man sollte nicht vergessen, daß auch sie in aller Öffentlichkeit barfuß im Büßergewand aufgetreten ist, bereit, sich selbst anzubieten, um Ar zu retten.«
Hilfswächter tragen keinen Helm. Ich hatte darum meinen Kopf und den unteren Teil des Gesichts in der Art der Männer der Tahari mit einem Tuch verhüllt. Das paßte gut zu der kunterbunten Kleidung der anderen Hilfswächter, die außer der Tatsache, daß sie nicht aus Ar kamen, im allgemeinen nur wenig gemein hatten. Die regulären Wächter standen wie bereits erwähnt unter dem Kommando von Cosianern, oft handelte es sich auch um Cosianer in Arer Uniformen. Cos hatte viele Söldner aus seinen Diensten entlassen oder sie zu den Einheiten der Hilfswächter verlegt. Den Großteil aller heiklen Tätigkeiten, Aufgaben, die möglicherweise Groll hervorriefen, unter Umständen sogar Widerstand erregten, überließ man den Hilfswächtern. Falls nötig, konnte man sich von ihren Handlungen distanzieren oder einige ihrer Einheiten als öffentliche Geste der Beschwichtigung auflösen. Schließlich sind solche Einheiten immer schwer zu kontrollieren.
In dieser Vorgehensweise sah ich einen weiteren Beweis dafür, daß Myron oder seine Berater sich an den Prinzipien und Praktiken Dietrichs von Tarnburg orientierten. Ein ähnliches Manöver, das Dietrich jedoch niemals anwandte – jedenfalls nicht meines Wissens nach –, besteht darin, solche Streitkräfte aus dem Abschaum der betreffenden Stadt zu rekrutieren, sich ihre Abneigung und ihren Haß auf die erfolgreicheren Teile der Bürgerschaft zunutze zu machen, um eine eitle, mißtrauische und gnadenlose Truppe zu schaffen. Diese Truppe kann man später wieder zur Freude der anderen Bürger auflösen oder sogar vernichten, die dann ihre Eroberer als ihre Beschützer ansehen werden, ohne zu begreifen, daß die weniger Glücklichen ihrer Gemeinschaft zuerst benutzt und dann geopfert wurden.
»Nein«, sagte Talena. »Die nicht.«
Oben auf der Plattform vor dem Podest legte ein Wächter der Frau, die vor Talena stand, das Büßergewand wieder um die Schultern. Er tat es voller Ehrerbietung. Die Frau zitterte. Ein anderer Wächter führte sie schnell zum hinteren Teil der Plattform und dort die breite Rampe hinunter. Sie würde nach Hause zurückkehren.
»Talena, nein!« rief ein Mann aus der Menge.
Talena drehte hoheitsvoll den Kopf in seine Richtung.
»Sei still«, zischte ihm sein Nachbar zu.
»Heil Talena!« rief ein Mann, der unmittelbar hinter ihm stand. Sofort stimmten andere in den Ruf ein.
Die Ubara wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihren Pflichten zu. Auf eine Geste hin führte ein Wächter die nächste Frau in einem weißen Gewand heran; sie ließ die lange Reihe hinter sich, die sich über die Plattform und die kleine Seitenrampe hinunter bis zur anderen Platzseite erstreckte, wo sie dann in der Straße des Tores verschwand. Von meinem Standpunkt aus konnte ich ihr Ende nicht sehen.
»Lady Tuta Thassolonia«, las ein Schriftgelehrter vor.
Lady Tuta ließ ihr Gewand von den Schultern gleiten und stellte sich vor ihre Ubara. Dann kniete sie nieder.
Männer stöhnten auf.
Sie ließ sich auf die Fersen sinken, spreizte die Beine, drückte das Kreuz durch, nahm das Kinn hoch und legte die Handflächen auf die Oberschenkel.
»Es sieht so aus, als seist du eine Sklavin«, sagte Talena.
»Ich bin schon immer eine Sklavin gewesen, Herrin«, sagte Lady Tuta.
Talena wandte sich an einen ihrer Ratgeber, und sie sprachen leise miteinander.
»Mein Kind, bist du eine legale Sklavin?« fragte einer der Ratgeber, ein Rechtsgelehrter.
»Nein, Herr.«
»Dann bist du legal gesehen eine freie Frau?«
»Ja, Herr.«
»Dann hat ja alles seine Ordnung«, sagte der Rechtsgelehrte zu Talena.
»Du gehörst zu den Auserwählten«, sagte die Ubara großmütig.
»Danke, Herrin«, sagte die Frau.
Die Menge begrüßte die Entscheidung der Ubara mit Jubel. Ein anderer der Berater, der Kleidung nach ein Cosianer, wandte sich an Talena und sprach zu ihr, wobei er den Mund mit der Hand bedeckte. Talena nickte, und er wandte sich an die Frau auf den Knien.
»Steh auf«, sagte er freundlich, »und sprich uns nicht als Herr und Herrin an.«
Tuta stand auf.
»Möchtest du, bevor du dich zu deinen Schwestern dort unten in der Kette gesellst, uns als freie Frau etwas sagen?«
»Heil, Talena!« rief sie. »Ruhm und Ehre für Talena!«
Der Ruf wurde von Hunderten Kehlen aufgenommen. Dann nahm man Tuta beiseite, um ihr die Handschellen anzulegen und sie zu den anderen zu bringen.
Ich reihte sie in die Sklavinnenkette ein, genau wie die nächste und die übernächste Frau.
»Sie nicht«, sagte Talena zu der Frau, die vor ihr entblößt wurde. Wie bereits erwähnt standen mehrere Schriftgelehrte auf dem Podest. Listen wurden geführt und eingesehen. Auf einer Liste standen die Namen der Frauen in der Reihenfolge, in der sie die Plattform betraten. Von dieser Liste verkündete der Schriftgelehrte die Namen. Auf einer weiteren Liste wurden Talena s Urteile niedergeschrieben. Die wichtigsten Listen schienen jedoch die zu sein, die man stets zu Rate zog, während die diversen Namen aufgerufen wurden. Es gab mindestens fünf solcher Listen. Drei davon sind es wert, erwähnt zu werden. Eine hielt ein Mitglied des Hohen Rates in der Hand. Eine weitere hielt ein cosischer Berater. Die letzte war im Besitz von einem von Talenas Dienern, der neben ihr stand.
Plötzlich kam es in der Nähe der hinteren Rampe zu einem Handgemenge; ein Wächter packte eine Frau, die sich plötzlich umgedreht und zu fliehen versucht hatte.
»Bringt sie her!« befahl Talena.
Der Wächter, der die Frau von hinten an den Oberarmen hielt, hob sie einfach hoch und trug sie zum Podest. Die zierlichen nackten Füße der Frau schwebten zehn Zentimeter über dem Holzboden.
»Zieh sie aus!« befahl Talena.
Der Wächter gehorchte, und die Frau wurde vor der Ubara von Ar auf die Knie gestoßen.
»Gnade, meine Ubara!« rief die Frau und streckte Talena die gefalteten Hände entgegen.
»Wie heißt du, Kind?«
»Fulvia!« schluchzte die Frau. »Fulvia, eine Lady aus Ar!«
»Wir sind alle Ladies aus Ar«, sagte Talena sanft.
»Gnade, Ubara!« schluchzte Fulvia und hob die Hände. »Verschone uns! Verschone deine Schwestern aus Ar!«
»Aber mein Kind!« rief Talena. »Wir sind alle schuldig. Wir alle sind in die Untaten des berüchtigten Gnieus Lelius verstrickt. Warum haben wir uns ihm nicht entschieden entgegengestellt? Warum haben wir seine abscheulichen Pläne in die Tat umgesetzt?«
»Du hast dich ihm entgegengestellt, geliebte Ubara!« rief ein Mann. »Du hast versucht, uns zu warnen! Du hast getan, was du tun konntest! Wir wollten nicht auf dich hören! Wir sind schuldig, nicht du!«
Andere stimmten in den Aufschrei ein. Es gab viele, die lautstark gegen Talenas scheinbare Bereitschaft protestierten, die Schuld Ars zuzugeben und zu teilen.
»Nein!« rief Talena. »Ich hätte handeln müssen! Statt Zeugin der Schande Ars zu werden, hätte ich mir einen Dolch in die Brust stoßen sollen!«
»Nein! Nein!« rief die Menge.
»Es wäre eine winzige, wenn auch vergebliche symbolische Geste gewesen«, rief sie, »aber ich habe es nicht getan! Also bin auch ich schuldig!«
Lautstarker Protest ertönte. Ich sah einige Männer weinen.
»Du hast das Leben gewählt, um für Ars Rettung zu arbeiten!« rief jemand.
»Wir schulden dir alles, geliebte Ubara!«
»Und jetzt«, sagte Talena, »trotz allem, trotz der ungeheuerlichsten Provokationen, hat unser Bruder Lurius von Jad, der Ubar von Cos, unsere Stadt verschont! Der Heimstein ist sicher! Der Zentralzylinder steht! Wie sollen wir unseren cosischen Brüdern dies vergelten? Welches Geschenk wäre angemessen, um ihm für unseren Heimstein, unser Leben und unsere Ehre zu danken? Welches Opfer wäre groß genug, um unseren Dank auszudrücken?«
»Kein Geschenk wäre kostbar genug!«
»Kein Opfer wäre groß genug!«
»Und jetzt, mein Kind«, sagte Talena zu Lady Fulvia, »verstehst du nun, warum man dich gebeten hat, heute herzukommen?«
Lady Fulvia brachte anscheinend keinen Ton heraus. Sie sah ihre Ubara nur ängstlich an.
»Sicherlich bedauerst du die Verbrechen Ars«, sagte Talena. »Warum wärst du sonst als Büßerin herkommen?«
Lady Fulvia senkte den Kopf.
Man hatte den Frauen natürlich befohlen, hier zu erscheinen. Das heißt, eigentlich hatte man ihnen befohlen, sich am vergangenen Nachmittag im Großen Theater zu melden, wo man sie zu ihrer Überraschung in Käfigwagen gesperrt und zu der mehr als einen Pasang entfernten Arena der Klingen geschafft hatte. Unter dem Zuschauerrund gab es zahllose Zellen, in die man wilde Bestien, gefährliche Männer und Kriminelle einsperrte. Die Frauen waren überprüft und gezählt worden, dann hatte man sie über Nacht eingesperrt. Vorher aber erhielten sie die Büßergewänder, damit sie sie über Nacht tragen konnten. Am Morgen hatte man sie dann an einen Sammelplatz in der Nähe der Straße des Tores gebracht. Einige Frauen, die es versäumt hatten, im Großen Theater zu erscheinen, waren später am Abend von sowohl regulären als auch Hilfswächtern abgeholt und in die Tarnarena gebracht worden. Ich selbst hatte zusammen mit ein paar anderen Hilfswächtern zwei dieser Frauen geholt. Eine hatten wir wie eine rebellische Sklavin fesseln müssen; Sklavinnen sind nur selten mehr als einmal rebellisch.
»Du willst doch bestimmt alles in deiner Macht Stehende tun, um die Verbrechen Ars zu sühnen?« fragte Talena die kniende Frau.
Fulvia schwieg.
»Bist du nicht begierig, für die Verbrechen Ars zu sühnen?« fragte die Ubara freundlich.
Lady Fulvia schwieg noch immer.
»Willst du nicht mit deiner ganzen Kraft alles tun, um diese Dinge wiedergutzumachen?«
Schweigen.
»Rede, du Schlampe!« rief ein Mann wütend.
»Bitte!« sagte Talena laut und hielt die Hand hoch. »Laßt ab, edle Bürger! Ihr sprecht von einer freien Frau aus Ar!«
»Ja, meine Ubara!« sagte Lady Fulvia.
»Du willst doch nicht selbstsüchtig sein, oder?« fragte die Ubara.
»Nein, Ubara«, schluchzte Fulvia.
»Und ist dieses Opfer, das wir von dir verlangen, im Namen der Stadt und ihres Heimsteins, viel größer als das, das ich zu leisten bereit war?«
»Nein, meine Ubara!« jammerte Fulvia.
Talena bedeutete mit einer kleinen, zögernden, fast schon tragischen Geste, daß man Lady Fulvia wegbringe.
»Die nächste!« rief der Schriftgelehrte.
Die Prozedur ging weiter. Nach einiger Zeit lehnte Talena immer häufiger Frauen ab. Mir kam der Verdacht, daß die Tagesquote erfüllt war.
Schließlich trat eine schlanke Frau anmutig vor die Ubara.
»Claudia Tentia Hinrabia, Lady von Ar«, las der Schriftgelehrte vor.
Eine erwartungsvolle Spannung erfaßte die Zuschauer. Die Männer drängten näher an die Plattform heran. »Claudia die Hinrabianerin«, sagte ein Mann.
Ich trat selbst näher. Claudia Tentia Hinrabia war die Tochter eines früheren Administrators von Ar, Minus Tentius Hinrabius. Cernus hatte sie bei seinen dunklen Spielen als Schachfigur benutzt, um das Haus Portus – seinen größten wirtschaftlichen Rivalen – zu stürzen. Später hatten ihn seine Intrigen sogar bis auf den Thron von Ar gebracht, auf dem er sich bis zu seinem Sturz durch Marlenus gehalten hatte. Zur Zeit seines Sturzes war Claudia Sklavin in seinem Haushalt gewesen. Nach der Rückkehr auf den Thron hatte Marlenus sie befreit und sogar dafür gesorgt, daß der Staat ihren Lebensunterhalt bestritt. Sie hatte mehrere Jahre lang im Zentralzylinder gewohnt. Sie war die Letzte der Familie der Hinrabianer.
Mit einem Kopfschütteln befreite Claudia ihr Haar von der Kapuze. Sie hatte langes schwarzes Haar, lockig und wunderschön. Es strömte ihr über den Rücken. Genau wie ich es in Erinnerung hatte von unserer ersten Begegnung im Hause des Cernus. Durch das Zurückschlagen der Kapuze hatte sie auch das Gesicht entblößt. Wie die anderen Frauen war auch sie nicht zusätzlich verschleiert. Ich konnte mich noch gut an die dunklen Augen der Hinrabianerin und an die hohen Wangenknochen erinnern.
Anmutig streifte sie das Büßergewand ab und ließ es hinter sich zu Boden fallen.
Mehrere Männer ließen ein bewunderndes Raunen vernehmen.
Claudia war schlank und wunderschön. Sie stand gerade aufgerichtet vor der Ubara, wie es schien voller Trotz.
»Seht sie euch an«, sagte ein Mann zu seinen Freunden.
Claudia lächelte. Sie wußte, daß sie eine ungewöhnliche Schönheit darstellte, selbst auf einer Welt, in der Schönheit kein seltenes Gut war.
Talena schien ärgerlich zu sein.
Dabei war ich sicher, daß sie, hätte man sie ausgezogen und neben die Hinrabianerin gestellt, den Vergleich nicht hätte fürchten müssen.
Claudia sah zu Talena auf dem Podest hoch.
»Du wirst mich auswählen«, sagte sie.
»Vielleicht, wenn ich dich brauchbar finde«, erwiderte Talena voller Wut.
»Du hast lange auf diesen Tag gewartet«, sagte Claudia, »du hast darauf gewartet, mich, die Tochter von Minus Tentius Hinrabius, deine Rivalin, in deine Gewalt zu bekommen!«
»Ich bin die Tochter des Marlenus von Ar!« sagte Talena.
»Das bist du nicht!« rief Claudia. »Du wurdest verstoßen. Du hast ein ebenso großes Anrecht auf den Thron von Ar wie ein hübsches kleines Urtweibchen!«
»Verrat!« riefen einige der Männer. »Verrat!«
»Dein Vater hat Männer in die Voltai geschickt, um Marlenus zu finden und zu töten!« rief Talena.
»Ich bestreite nicht, daß mein Vater Marlenus’ Feind war«, sagte Claudia. »Das ist allseits bekannt, und zu dieser Zeit waren viele Männer in Ar sein Feind!«
»Cernus!« rief Talena.
»Ja«, sagte Claudia.
»Dessen Sklavin du warst!« sagte Talena verächtlich.
»Urtweibchen!« rief Claudia.
»Dreh dich langsam einmal um die eigene Achse!« befahl die Ubara.
Männer keuchten auf.
Ärgerlich gehorchte Claudia. Dann stand sie Talena wieder gegenüber. »Ich bekleidete im Zentralzylinder eine höhere Stellung als du«, sagte sie. »Ich war die Tochter eines ehemaligen Administrators von Ar! Du warst ein Nichts, eine enterbte Schande, aus dem Norden gerettet. Sie haben dich in einem Laken zurückgebracht, du besaßest nicht einmal ein Tarskstück. Warst entehrt. Du nanntest nicht einmal mehr die Bürgerschaft dein eigen! Nur weil du einst Marlenus’ Tochter warst, erlaubte man dir, im Zentralzylinder zu leben. Aber man hielt dich dort verborgen, von den anderen getrennt, damit du nicht noch mehr Schande über Marlenus und die Stadt bringen konntest. Vergleich dich nicht mit mir. Du bist ein Nichts! Ich bin die Tochter des Minus Tentius Hinrabius!«
»Hör nicht auf sie, geliebte Talena!« rief ein Mann.
»Du bist ein Emporkömmling«, sagte Claudia. »Du bist eine Marionette der Cosianer!«
»Ich bin deine Ubara!« schrie Talena.
»Du bist eine cosische Marionette!«
»Verrat!« riefen Männer.
»Du trägst sogar cosische Tracht!« rief Claudia.
»Auf diese Weise können wir unseren Respekt für Cos bekunden, unsere Dankbarkeit ihnen gegenüber, unsere Freundschaft«, sagte Talena.
»Tanze an ihren Fäden, Marionette!« schrie Claudia.
»Vielleicht wirst du es sein, die tanzt«, brüllte Talena sie an, »und zwar als Sklavin vor meinen Offizieren!«
»Und das täte ich aufregender als du«, sagte Claudia.
Das bezweifelte ich.
»Sklavin! Sklavin!« rief Talena.
»Marlenus von Ar befreite mich aus der Sklaverei!« sagte Claudia.
»Ich bin nicht Marlenus!« rief Talena.
»Er hat mich mit Ehre behandelt«, sagte sie, »und mich unterstützt.«
»Ich bin nicht er«, sagte Talena.
»Genausowenig wie du, enterbt und entehrt, noch seine Tochter bist!« erwiderte Claudia.
»Verrat!«
Talena wandte sich an die Menge. »Sollten die Kaste dieser Frau, ihre hohe Geburt und die Tatsache, daß sie die Tochter eines Administrators ist, eines bloßen Administrators, ihr erlauben, sich vor ihren Pflichten ihrem Staat gegenüber zu drücken?«
»Nein!« rief die Menge. »Nein!«
Talena wandte sich an Claudia. »Findest du, man sollte dir besondere Privilegien einräumen?«
Das brachte Claudia aus dem Konzept.
»Ha!« rief ein Mann. »Seht, darauf weiß sie nichts zu sagen.«
Claudia gehörte einer hohen Kaste an und war ein Mitglied der Aristokratie. Die goreanische Gesellschaft weiß ihre Traditionen zu schätzen und ist durchdacht strukturiert. Darum wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, daß ihr im Rahmen ihrer Stellung nicht die üblichen Privilegien zustanden. Diesen Privilegien stehen natürlich – zumindest in der Theorie – Pflichten und Ansprüche gegenüber, die weit darüber hinausgehen, was anderen abverlangt wird. Wie viele Eroberer machten sich die Cosianer wohlüberlegt den Klassenneid zunutze und benutzten ihn, um ihre Ziele durchzusetzen wie zum Beispiel den Ersatz der alten Aristokratie oder Elite durch ihre eigene, und zwar nach Möglichkeit so unauffällig wie möglich.
»Glaubst du, du bist etwas Besseres als die anderen Frauen Ars?« fragte Talena.
»Zumindest bin ich besser als eine ganz bestimmte Frau«, erwiderte Claudia, »und zwar Talena, die die Diktatorin von Ar wäre, nur daß ihre cosischen Herrn ihr die Macht, die dazu nötig wäre, nicht erlauben!«
»Verrat!« riefen einige der Zuschauer. »Tötet die Hinrabianerin! Auf den Pfahl mit ihr!«
»Und in der Nacht – dienst du deinen Herren da zwischen den Fellen?« fragte Claudia.
Anscheinend ließ allein schon der Gedanke Talena beinahe in Ohnmacht versinken. Zwei ihrer Diener stützten sie.
»Tod der Hinrabianerin!«
Ein hinter Claudia stehender Wächter hatte schon das Schwert zur Hälfte aus der Scheide gezogen.
»Nein, nein!« rief Talena der Menge zu. »Sagt so etwas nicht zu einer Frau aus Ar!«
»Gnädige Talena!« schluchzte ein Mann.
Der Wächter stieß das Schwert zurück in die Scheide. Die Menge verstummte.
»Ich bedaure, daß ich dich trotz der Liebe, die ich für dich empfinde, nicht von deinen Verpflichtungen gegenüber dem Staat entbinden kann«, sagte Talena. »Oder dich anders als die anderen Frauen Ars behandeln kann. Denn auch ich habe eine Pflicht zu erfüllen, denn ich bin die Ubara!«
Die Männer jubelten.
»Bring diese Farce doch zu Ende!« rief Claudia. »Hier stehe ich vor dir, nackt und in deiner Macht! Hast du nicht auf diesen Augenblick gewartet? Steht mein Name nicht als erster auf deiner Liste? Genieße deinen Triumph! Tu mit mir, was du willst!«
»Meine Entscheidung wird getroffen werden wie bei jeder anderen Frau Ars auch«, entgegnete Talena. »Dir wird absolute Gerechtigkeit widerfahren.«
Talena fing damit an, Claudias Fall anscheinend zu überdenken; sie überprüfte, ob sie überhaupt geeignet war, um als Reparationszahlung für die Verbrechen Ars zu dienen. »Dreh dich, meine Liebe, aber bitte langsam«, sagte sie nachdenklich.
Männer lachten.
Die Hinrabianerin drehte sich erneut vor ihrer Ubara, wie eine Sklavin bei der Schätzung.
Talena schien zu zögern. Sie wandte sich an ihre Ratgeber, als würde sie sich um etwas Sorgen machen, als suche sie ihr Urteil. Ob sie die Hinrabianerin für geeignet hielten, die aufgebrachten Cosianer zu beschwichtigen? Oder würde sie dieses Angebot eher beleidigen? Ich lächelte. Es gab keinen Zweifel, wie im Fall der schönen Hinrabianerin ihre Meinung aussehen würde.
Claudia stand mit geballten Fäusten vor dem Podest. Bei keiner anderen Frau war eine derartige Beratung als nötig empfunden worden. Talena hatte eine großartige Methode gefunden, die Hinrabianerin zu demütigen.
Die Ubara wandte sich ihr wieder zu.
»Es ist eine Entscheidung gefallen«, sagte Talena.
Claudia nahm stolz die Schultern zurück.
»Es handelte sich um eine schwierige Angelegenheit, die das Abwägen vieler sehr subtiler Faktoren mit einschloß«, fuhr Talena fort. »Wie du dir sicher vorstellen kannst, sprachen dein Gesicht und deine Figur gegen dich.«
Die Hinrabianerin keuchte empört auf.
»Allein schon deshalb hätte ich dich disqualifiziert. Aber da war noch dein Verrat, den ich erst jetzt mit zugegeben großem Zögern öffentlich mache.«
Claudia sah sie überrascht an.
»Welcher Verrat denn?« rief ein Zuschauer.
»Verschwörung, Verrat des Heimsteins, Unterstützung des schrecklichen Regimes von Gnieus Lelius, dem Tyrannen von Ar!«
»Ich bin unschuldig!« rief Claudia.
»Hast du das Regime von Lelius nicht unterstützt?« fragte Talena.
»Ich habe ihn nicht bekämpft«, sagte Claudia. »Das hat keiner getan! Er war der Regent!«
»Indem du dich dieser verabscheuenswerten Politik nicht entgegenstelltest, hast du den Heimstein Ars verraten!«
»Nein!« schluchzte Claudia auf.
»Du wolltest ihn benutzen, um deine eigenen politischen Ambitionen weiter voranzutreiben!« erklärte Talena.
»Nein!«
»Aber deine politischen Ambitionen werden bald ihr Ende gefunden haben!«
Claudia wandte sich an die Menge. »Bürger, ich beschwöre euch, hört nicht auf sie!«
»Du hast doch sogar neben seinem Sklavinnenring geschlafen!« rief Talena.
»Das ist nicht wahr!«
»In der Zukunft wirst du dich daran gewöhnen müssen, immer dort zu schlafen.«
Claudia schien zu schwanken. Der Wächter, der hinter ihr stand, stützte sie, aber nicht besonders sanft.
»Tötet sie!« rief die Menge.
»Aber in Erinnerung unserer einstigen Zuneigung, die ich noch immer für dich hege, und aus Respekt vor deiner ehrenhaften Herkunft und den Verdiensten, die deine Familie für Ar erbrachte, bin ich trotz deiner Verbrechen auf eigene Verantwortung bereit, dir die Ehre zu erweisen, deiner Stadt dienen zu dürfen.«
»Ich bin unschuldig!« schluchzte Claudia.
»Tötet sie!«
»Bereite dich vor, dein Urteil zu hören«, sagte Talena.
»Nein!« schrie Claudia.
»Diese Worte sage ich mit schwerem Herzen und tränenblinden Augen«, sagte die Ubara. »Ich befehle, daß du in Ketten gelegt wirst!«
»Nein!« schluchzte Claudia. »Es ist eine Sache, von einem Mann gefangen, in sein Zelt geschleppt und dazu gezwungen zu werden, ihm zu dienen, oder von einem Magistrat nach Recht und Gesetz wegen Verbrechen, die ich tatsächlich begangen hätte, zur Sklaverei verurteilt zu werden, aber es ist etwas ganz anderes, hier vor aller Öffentlichkeit von meiner Feindin gedemütigt zu werden, die mich in ihrem Triumph einem Leben in Sklaverei ausliefert.«
»Welchen Unterschied macht das denn?« fragte ein Mann.
Claudia ließ den Kopf hängen. Der Mann hatte recht. Letztlich machte es keinen Unterschied.
»Die Sklavin soll niederknien!« rief Talena.
Claudia wehrte sich kurz gegen die beiden Wächter, konnte aber nichts gegen sie ausrichten und wurde auf die Knie gestoßen.
»Du siehst gut aus da unten, Hinrabianerin«, sagte Talena.
»Falsche Ubara!« brüllte Claudia, die noch immer von den Wächtern festgehalten wurde.
Talena gab voller Wut ein Zeichen, und einer der Wächter zog das Schwert. Im nächsten Augenblick wurde Claudias Kopf von dem anderen Wächter nach unten gedrückt.
Talena gab noch ein Zeichen, und der Mann, der Claudias Haar hielt, riß ihren Kopf hoch, damit sie Talena ansah.
Talenas Augen blitzten vor Wut, während man Claudia deutlich ihr Entsetzen ansehen konnte.
»Wer ist deine Ubara?« fragte Talena.
»Du bist meine Ubara!« rief Claudia.
»Wer?«
»Talena!« rief sie. »Talena von Ar ist meine Ubara!«
»Gestehst du deine Verfehlungen?« fragte Talena.
»Ja, meine Ubara!«
»Bittest du deine Ubara um Vergebung?«
»Ja, ja, meine Ubara!« schluchzte Claudia.
»Wer bittet um Vergebung?«
»Ich, Claudia Tentia Hinrabia, von den Hinrabianern, bitte Talena von Ar, meine rechtmäßige Ubara, um Vergebung.«
»Ich bin bereit, gnädig zu sein.«
Der Wächter steckte das Schwert wieder ein. Der andere Wächter, der Claudias Haar hielt, ließ es ärgerlich los und stieß ihren Kopf nach unten. Die anderen beiden Wächter, die jeder einen Arm ergriffen hatten, behielten die Hinrabianerin weiter in ihrem gnadenlosen Griff.
»Talena, Ubara von Ar«, verkündete ein Schriftgelehrter, »wird jetzt das Urteil über die Verräterin Claudia Tentia Hinrabia verkünden.«
»Claudia Tentia Hinrabia, Feindin Ars, Feindin der Bürger Ars, Feindin des Heimsteins von Ar«, verkündete Talena, »du wirst versklavt werden, und zwar noch vor Einbruch der Dunkelheit.«
Claudia wurde von Schluchzern geschüttelt. Sie wurde zur Seite gestoßen und grob angekettet. Auf den Knien blickte sie zu Talena zurück.
»Du siehst gut in den Ketten der Männer aus«, sagte Talena.
»Auch du, Talena, meine Ubara«, weinte die Hinrabianerin, »auch du sähest zweifellos gut in den Ketten der Männer aus.«
Männer keuchten erbost auf.
»Bringt sie weg«, befahl Talena. »Und da sie von so schlechter Qualität ist, erhöht die Reparationszahlungen um einen Silbertarsk, als Ausgleich für ihre Unzulänglichkeiten. «
Diese Bemerkung rief viel Gelächter hervor.
Man stieß die Hinrabianerin die Rampe hinunter, wo ich sie in Empfang nahm. Sie sah mit Tränen in den Augen zu mir hoch, als ich sie zur Kette führte, dann keuchte sie auf. Mein Blick warnte sie. Zweifellos erkannte sie mich wieder. Sie warf einen Blick zur Plattform zurück, dann sah sie mich fragend wieder an.
»Nein, meine Liebe«, sagte Talena oben auf der Plattform. »Du bist zu jung.«
Die Frau wurde weggeführt. Früher am Morgen hatte Talena noch wesentlich jüngere Frauen zur Kette geschickt.
»Herr?« flüsterte Claudia mir zu.
Ich trat neben sie. »Ja?«
Sie sah mich mit tränennassen Wangen an. »Bin ich schön?« fragte sie ängstlich.
»Ja.«
»Danke, Herr.«
»Du warst schon vor Jahren schön, auf dem Höhepunkt deiner Macht und deiner Bosheit.«
»Diese Dinge liegen nun hinter mit«, sagte sie mit einem bitteren Lächeln.
»Und du bist noch immer schön.«
»Danke, Herr.«
»Zweifle nie an deiner Schönheit.«
»Ja, Herr.«
Ich brachte Claudia Tentius Hinrabia zur Kette und verband sie mit ihr. Dann ging ich zurück.
Die nächste Frau wartete schon am Ende der Rampe.