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»Wolltest du heute nacht nicht gemütlich in Ar schlafen?« fragte Marcus, der sich neben mir die Decke enger um die Schultern zog; Phoebe hatte sich ebenfalls in eine Decke gehüllt, damit sie nicht in die Dunkelheit und Kälte vor dem Sonnentor hinaussehen mußte, vor dem sich etwa dreihundert Menschen versammelt hatten.

»Es gab keine Rekrutierungstische«, mußte ich zugeben.

»Man wollte also deinen Schwertarm nicht haben«, stellte er fest.

»Nein.«

»Was immer das zu bedeuten haben mag.«

»Sie haben nach meiner Passiermarke gefragt und mich darauf hingewiesen, daß ich nach Sonnenuntergang nichts mehr in der Stadt zu suchen hätte.«

»Vielleicht nimmt ja Cos Leute in seine Dienste«, mischte sich ein in der Nähe sitzender Mann ein.

»Die haben genug«, gab ein anderer seinen Kommentar ab.

Das war sicher richtig.

»Ist schon komisch«, sagte Marcus. »Es hätte mich nicht einmal gewundert, wenn sie die Sklaven befreien und bewaffnen.«

Ich zückte mit den Schultern.

»Andererseits gibt es in der Stadt vermutlich nicht allzu viele Sklaven, die man als Kämpfer gebrauchen könnte.«

»Vermutlich nicht.« Man konnte davon ausgehen, daß es in der Stadt keine große Anzahl von gefährlichen, kräftigen Sklaven gab, wie man sie auf Galeeren, in Steinbrüchen oder den großen Landkommunen vorfindet. In großer Menge hätten sie gefährlich werden können. Die meisten Sklaven der Stadt waren verhätschelte Seidensklaven, die goreanischen Frauen gehörten, die sich noch nicht zu ihrem Geschlecht bekannt hatten. Solche Sklaven werden bei einer Gefangennahme wie Sklavinnen zusammengetrieben – falls man sie nicht an Ort und Stelle erschlägt –, in Ketten gelegt und auf den Märkten verkauft. Natürlich gab es in Ar auch ein paar kräftige Sklaven. Viele der Burschen, die sich um die großen Exkrementefässer der insulae kümmerten, waren Sklaven. Normalerweise arbeiteten sie unter der direkten oder indirekten Aufsicht freier Männer. Gelegentlich spendierte man ihnen einen Dram oder Paga oder stellte ihnen für den Abend ein Kesselmädchen zur Verfügung.

»Ich hätte gedacht, daß die Arer im Moment einen Freudentanz aufführen, wenn sie schon die Dienste eines Jungen mit einer Schleuder angeboten bekämen.«

»Anscheinend nicht.«

»Begreifst du das?«

»Ja«, sagte ich. »Ich glaube schon.«

»Was meint ihr?« fragte der Mann. »Ob sie morgen früh das Tor öffnen?«

»Ganz bestimmt.«

»Wie weit ist Cos noch entfernt?« fragte Marcus den Mann, der seine Decke enger zog.

»Zwei Tage. Vielleicht ist es auch schon näher.«

»Man wird die Stadt bis zum Tode verteidigen«, sagte ein anderer Mann.

»Vielleicht«, erwiderte der erste Sprecher.

»Bist du nicht davon überzeugt?«

»Nein.«

»Habt ihr schon das Neueste gehört?« fragte ein Mann, der die Farben der. Kaufmannsgilde trug.

»Was denn?« fragte Marcus.

»Das Gerücht kam ganz plötzlich auf, ich hörte es, bevor man mich aus der Stadt warf und die Tore schloß.«

»Und, worum geht es?«

»Talena, die Tochter von Marlenus, hat angeboten, sich für die Sicherheit der Stadt zu opfern.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte der Mann, der in Marcus’ Nähe saß.

»Erzähl mir davon«, bat ich den Kaufmann.

»Talena hat sich bereit erklärt, sich den Cosianern nackt und in Sklavenketten auszuliefern, unter der Voraussetzung, daß sie Ar verschonen!«

Es hatten noch mehr Leute zugehört, und plötzlich rief alles wild durcheinander.

»So etwas darf man ihr nicht erlauben!«

»Nein!«

»Eine edle Frau!«

»Die edle Talena!«

»Dabei ist es absurd«, fuhr der Kaufmann fort. »Sie ist nicht mehr Marlenus’ Tochter. Er hat sie verstoßen.«

»Und aus genau diesem Grund hat ihr Angebot nicht mehr Gewicht, als käme es von einer beliebigen freien Frau«, sagte ich.

»Das ist Verrat!« rief ein Mann.

Der Kaufmann ließ sich davon nicht beirren. »Es heißt, sie sei eine Sklavin gewesen.«

»Das habe ich auch gehört.«

»Marlenus hat sie nicht verstoßen!«

»Sie hat nicht einmal ihren ursprünglichen Namen zurückerhalten, sondern mußte diesen behalten, nachdem sie befreit wurde. Außerdem stand sie lange im Zentralzylinder unter Hausarrest, durfte keinen Kontakt zur Außenwelt pflegen.«

»Genau wie Claudia Tentia Hinrabia, von den Hinrabianern«, sagte der Bauer neben Marcus. »Erinnert ihr euch noch an sie?«

»Ja, natürlich«, meinte der Kaufmann. Claudia Tentia Hinrabia war die Tochter von Minus Tentius Hinrabius, des damaligen Ubars von Ar. Als Marlenus den Thron zurückeroberte, hatte er sie aus der Sklaverei befreit, in die sie sein Feind Cernus schickte, der Minus Tentius Hinrabius vom Thron gestoßen hatte. Ich erinnerte mich an sie. Sie war eine schlanke, dunkelhaarige Schönheit gewesen, mit hohen Wangenknochen. Also lebte sie nach all der Zeit noch immer im Zentralzylinder.

»Auch ich habe gehört, daß Talena einst eine Sklavin war«, sagte ich, »angeblich soll sie noch immer das Zeichen Treves auf dem Oberschenkel tragen, ein Andenken an den Tarnsmann, dem sie dort gehörte.«

»Sie ist die Tochter von Marlenus«, sagte ein Mann mürrisch. »Sie sollte die Ubara sein.«

Der Kaufmann schüttelte den Kopf. »Ihr Angebot, sich den Cosianern auszuliefern, damit sie die Stadt verschonen, ist lächerlich. Wenn sie die Stadt einnehmen, dann haben sie sie ohnehin, und noch alle anderen freien Frauen dazu. Das Ganze ist doch absurd.«

»Aber unglaublich edel!« sagte der Bauer.

»Genau, eine Tat, wie sie einer Frau würdig ist, die Ubara sein sollte.«

Ich dachte über das Gehörte nach. Indem Talena überhaupt ein solches Angebot machte, beanspruchte sie für sich insgeheim den Status, der einer Ubartochter zustand, ansonsten wäre das Angebot absurd gewesen, wie der Kaufmann richtig bemerkt hatte. Im Grunde beanspruchte sie auf diese Weise den Thron. Es konnte also keine Rede davon sein, daß sie bloß eine von tausend freien Frauen war, die alle das gleiche Angebot machten.

»Hat sie darum gebeten, daß tausend freie Frauen sie bei diesem Angebot unterstützen?« fragte ich.

»Nein«, sagte der Kaufmann.

Ich war überaus gespannt, wie die Cosianer auf dieses Angebot reagieren würden. Nach dem zu urteilen, was ich über die in Ar stattfindenden Ränke in Erfahrung gebracht hatte, gab es für mich persönlich nicht den geringsten Zweifel, daß es bei den komplizierten politischen Manövern, die in dieser Stadt vor sich gingen, eine Rolle spielte.

Ein Mann kam aus der Richtung des Tors angerannt. »Cosianer!« rief er. Männer schrien auf. Genau wie einige Sklavinnen. Einige der Ausgesperrten stürmten auf die Stadtmauer zu und trommelten mit den Fäusten gegen das geschlossene Tor.

»Wo?« fragte ich und schnellte mit gezogenem Schwert in die Höhe. Marcus stieß Phoebes Kopf noch tiefer nach unten. Dann sprang er an meine Seite, ebenfalls mit der gezückten Klinge in der Hand. Das waren zwei der wenigen Waffen in unserer Gruppe. Mir wurde klar, daß man uns zwischen Mauer und Tor in die Zange nehmen und niedermachen konnte. Ich tat einen Schritt auf das kleine Lagerfeuer zu, um es auszutreten. »Nein!« sagte der Kaufmann. »Nein!«

»Verteilt euch in der Dunkelheit!« sagte ich.

»Nein, dann haben sie uns doch sofort mit ihren Klingen niedergemacht.«

»Laßt uns herein!« rief ein Mann zur Mauer hoch, auf der Wächter standen.

»Ob das wohl Späher sind?« fragte Marcus.

»Vermutlich«, sagte der Kaufmann. »Und sie werden uns bestimmt angreifen!«

»Vielleicht verteidigen sie uns ja von der Mauer aus«, meinte der Bauer. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Armbrustfeuer von der Mauer uns etwas nützen würde. Im Gegenteil, man würde uns genauso treffen wie die Cosianer. Außerdem war es sehr dunkel. Nur wenige Schützen verschwendeten bei solchen Lichtverhältnissen ihre Munition.

»Ich glaube nicht, daß wir in Gefahr sind«, meldete sich plötzlich ein anderer Mann zu Wort. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen.

»Wie kommst du darauf?« fragte ich.

»Seht her.« Er hielt die Hand in die Nähe des Feuers. Ein Silbertarsk funkelte im Licht.

»Den hat mir ein Cosianer im Dunkeln zugesteckt«, sagte er noch immer verwundert.

»Ich verstehe nicht.«

»Er hat ihn mir einfach in die Hand gedrückt«, erzählte der Mann, »gerade als ich schon glaubte, im nächsten Augenblick von seiner Klinge durchbohrt zu werden.«

»Was hat der Soldat gesagt?«

»Er sagte, Cos sei unser Freund.«

»Wie viele waren es denn?« wollte ich wissen.

»Nur ein paar Mann.«

»Also Späher«, sage ich zu Marcus.

»Anscheinend.«

»Und was sollen wir nun tun?« fragte der Kaufmann.

»Hier warten, bis die Tore geöffnet werden«, sagte der Mann mit der Münze. »Bis zum Sonnenaufgang ist es ohnehin nur noch eine Ahn.«

Ich blickte in die Dunkelheit hinaus. Irgendwo dort draußen lauerten die Cosianer. Dann fiel mein Blick auf den Neuankömmling. Er saß jetzt zitternd am Feuer. Vermutlich war ihm kalt. Seine Faust war zusammengeballt. Mit ihr hielt er den Silbertarsk umklammert.

»Ich glaube nicht, daß sich Ar dazu entscheidet, Widerstand zu leisten«, sagte ich.

»Der Meinung bin ich auch«, erwiderte Marcus leise.

»Zweifellos gab es darum keine Rekrutierungstische.«

»Zweifellos«, gab er mir recht.

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