14

»Es wird gefährlich«, sagte ich zu Marcus.

»Ich komme aus Ar-Station«, erwiderte er.

»Was wir jetzt tun, hat nur wenig Auswirkungen auf das Schicksal von Ar-Station, fürchte ich.«

»Hier ist das Seil«, sagte er.

Ich nahm es entgegen. Es war mit einem einzackigen, ganz einfachen Eisenhaken verbunden.

Es war ungefähr zur zweiten Ahn in einer dunklen, wolkenverhangenen Nacht. Wir waren in Richtung Registratur unterwegs.

Am Nachmittag war auf der Straße von Turia ein Karren, der angeblich Listen der Deltaveteranen von der Registratur zum Kriegsministerium im Zentralzylinder gebracht hatte, von einer Gruppe Jugendlicher umzingelt worden, die gegen die Deltaveteranen protestiert hatten, fast so wie vor Monaten, als es mehrere gewalttätige Demonstrationen gegen diese Männer gegeben hatte, deren Verbrechen es gewesen zu sein schien, daß sie loyal zum Heimstein gestanden hatten – und daß sie so dumm gewesen waren, Ar gedient und für die Stadt gelitten zu haben. Diese Demonstrationen waren natürlich auf Cos’ Wunsch hin veranstaltet und sorgfältig von cosischen Agenten geplant und organisiert worden. Dem allgemeinen Glauben ihrer Teilnehmer zum Trotz entstehen solche Demonstrationen nicht durch Zauberei. Es sind genau strukturierte Veranstaltungen, die bestimmten Zwecken dienen.

Diese jungen Kerle jedoch hatten den Karren und seine Begleitwachen einfach umringt, auf die Veteranen gemünzte Schmährufe gebrüllt und auf die Schriftstücke gespuckt. Die Wächter – Cosianer – waren sich nicht sicher gewesen, wie sie darauf reagieren sollten.

Sie versuchten, die Jugendlichen zurückzudrängen, aber die Demonstranten durchbrachen ihre Reihen. Kurz darauf waren ein paar Jugendliche scheinbar vom Haß überwältigt auf die Akten gesprungen und hatten sie zerrissen oder der versammelten Menge entgegengeworfen. Einen Augenblick später hatte jemand eine Fackel gebracht.

Marcus und ich waren gekommen, um zuzusehen, denn wir hatten gewußt, daß dieser Transport stattfand. Tatsächlich war er auf den Anschlagtafeln angekündigt worden. Die Soldaten hatten die Schwerter gezogen, aber die Offiziere hielten sie zurück. Dann waren die Papiere verbrannt worden, und die Jugendlichen hatten sich triumphierend zurückgezogen und Lieder zum Ruhme Cos’ gesungen. Der junge Bursche, der als erster auf den Karren gesprungen war, war mir bekannt. Ich hatte ihn zuvor heimlich beobachtet, wie er ein Delka in eine Tafel einritzte.

»Das waren tapfere Jungs heute nachmittag«, sagte ich zu Marcus.

»Aber bei den vernichteten Papieren handelte es sich doch bestimmt nicht um die Listen der Deltaveteranen.«

»Nein«, erwiderte ich. »Die hätte man nicht in aller Öffentlichkeit transportiert.«

»Und was sollte das dann alles?«

»Viele Leute assoziieren die Veteranen mit der Deltabrigade«, sagte ich. »Dies war zweifellos eine von Seremides gestellte Falle. Indem er vorgab, die Listen an einen sicheren Ort zu verlagern, Listen, aus denen man die Identität der Veteranen erfahren kann, hoffte er, die Brigade zu einem Angriff herausfordern zu können. Eine Menge Wächter begleitete den Karren, viel mehr als zu erwarten gewesen wäre. Und wenn ich mich nicht irre, waren in der Menge noch weitere Wächter, in Zivilkleidung, mit Umhängen. Auf jeden Fall begleiteten sie den Karren.«

»Wie wird Cos diese Demonstration aufnehmen?«

»Das war kein bewaffneter Angriff«, sagte ich. »Die Demonstranten waren jung, sie meinten es allem Anschein nach ernst. Möglicherweise wertet Cos die Aktion sogar als erfreuliches Zeichen. Es hat nichts verloren und offenbar einen Beweis für die Effektivität seiner Propaganda erhalten.«

»Glaubst du, daß sich Seremides täuschen läßt?«

»Nein.«

»Und die Ubara?«

»Keine Ahnung.«

»Sie war letzte Woche bei den Spielen.«

»Nein«, erwiderte ich. »Das war eine Frau in ihren Gewändern.«

»Woher willst du das wissen?«

»Sie trug Sandalen. Außerdem war sie einen Hort größer als die Ubara.«

»Du kennst die Ubara persönlich?«

»Ich kannte sie. Es ist lange her.«

»Bist du sicher?«

»Ich erkenne sie, wenn ich sie sehe.«

»Du warst sehr mutig, dich so nahe an sie heranzuwagen«, meinte er.

»Ich habe ihr erlaubt, sich mir zu nähern, da ich beiseite trat und sie mit ihren Wächtern passieren ließ.«

»Und wenn es die richtige Ubara gewesen wäre und sie dich erkannt hätte?«

»Ich trug einen Umhang, der mich ziemlich unkenntlich machte«, sagte ich, »aber ich glaube ohnehin nicht, daß die Gefahr groß war. Es konnte unmöglich die echte Ubara sein.«

»Warum nicht?«

»Cos würde es nicht mehr riskieren, sie in der Öffentlichkeit auftreten zu lassen.«

»Wegen der Deltabrigade?«

»Natürlich.«

»Sie fürchten, man könnte sie töten?«

»Stimmt«, sagte ich. »In der Stadt wächst der Haß auf unsere geliebte Ubara.«

»Und wo ist sie dann?«

»Ich schätze, im Zentralzylinder.«

»Als Gefangene?«

»Vermutlich lebt sie auf die gleiche Weise wie damals, als Marlenus sie in ihrer Schande isoliert hat.«

»Aber sie ist noch immer die Ubara?«

»Ja. Aber unter Cos’ Herrschaft.«

Marcus dachte nach. »Was glaubst du, wo sie die Listen verwahren?«

»Keine Ahnung.«

»Warum gehen wir dann zur Registratur, mit einem Seil und einem Haken?«

»Sie könnten sich dort befinden.«

»Du willst ein solches Risiko auf dich nehmen, das unter Umständen nicht nur unnötig, sondern sogar sinnlos ist, nur um zu verhindern, daß Cos die Listen in die Hände fallen?«

»Du brauchst mich nicht zu begleiten.«

»Mach dich nicht lächerlich.«

»Die Tatsache, daß Seremides eine solche Falle für die Deltabrigade aufbaut – falls ich mich nicht täusche –, verrät doch, daß es ihm mit seinem Verdacht gegen die Veteranen ziemlich ernst ist und er etwas gegen sie unternehmen könnte.«

»Das sind nicht alles schlechte Kerle«, mußte Marcus zugeben, »auch wenn sie aus Ar kommen.«

»Es gibt in allen Städten gute Menschen«, sagte ich. »Sogar in Ar-Station.«

»Schon möglich«, murmelte Marcus.

»Bestimmt«, versicherte ich ihm.

»Wie sieht dein Plan aus?«

»Ich nähere mich der Registratur über die angrenzenden Dächer, werfe das Seil hinunter und steige über das Atrium ein.«

»Bist du sicher, daß du die Listen erkennst, wenn du sie siehst?«

»Überhaupt nicht.«

»Du willst sie doch sicherlich nicht alle mitnehmen!«

»Nein«, sagte ich. »Das wäre unpraktisch.«

Er runzelte die Stirn. »Du willst sie verbrennen?«

»Ja.«

»Aber wie willst du wissen, was du verbrennen mußt?«

»Ich glaube nicht, daß das ein Problem ist.«

»Wieso nicht?«

»Ich habe vor, das ganze Gebäude niederzubrennen.«

»Ich verstehe«, sagte er. »Und was ist, wenn sich das Feuer durch den Bezirk ausbreitet und schließlich ganz Ar vernichtet?«

Ich schwieg. »Daran habe ich gar nicht gedacht«, mußte ich dann zugeben.

»Nun«, sagte er. »Es ist schwer, immer an alles zu denken.«

»Ja.« Er hatte natürlich recht.

»Was ist, wenn die Listen schon längst im Zentralzylinder sind?« fragte er dann.

»Vermutlich sind sie das tatsächlich.«

Er stöhnte auf.

»Aber sie könnten auch noch hier sein.«

»Aber du willst nicht auch noch den Zentralzylinder niederbrennen, oder?«

»Natürlich nicht«, erwiderte ich. »Wenn sie dort sind, dann wurden sie bestimmt bereits kopiert, vielleicht sogar mehr als nur einmal, und wer weiß, wo diese Kopien dann aufbewahrt werden. Außerdem sind dort viele Sklavinnen.«

»So wie die Ubara?«

»Genau«, sagte ich. Und verstummte.

»Was ist?« fragte Marcus beunruhigt.

»Hör mal!«

Er nickte. Schritte näherten sich, mit wachsender Geschwindigkeit. Wir drückten uns an eine Mauer.

In der Dunkelheit ging eine stämmige Gestalt vorbei. Ich war mir nicht sicher, hatte aber den Eindruck, daß ich sie irgendwo schien einmal gesehen hatte.

»Nicht jeder hält sich an die Ausgangssperre«, bemerkte Marcus.

»Du bist ja auch draußen«, sagte ich.

»Wir haben unsere Armbinden.«

»Ich glaube, da kommt noch jemand.«

Wir drückten uns tiefer in die Dunkelheit.

Ein zweiter Mann kam auf der Straße näher, aber plötzlich entdeckte er uns, da wir uns als Schatten in der Dunkelheit abzeichneten. Er riß ein Schwert aus der Scheide; Marcus und ich folgten sofort seinem Beispiel. Einen Augenblick lang schien er überrascht zu sein. Mir ging es nicht anders. Dann eilte er los, ohne das Schwert zurück in die Scheide zu schieben.

»Gibt es noch mehr?« flüsterte Marcus.

»Schon möglich«, sagte ich, »aber auf anderen Straßen, wo jeder einen anderen Weg nimmt.«

Marcus steckte das Schwert zurück. Ich ebenfalls.

»Hast du den ersten Mann erkannt?« fragte ich meinen Freund.

»Nein.«

»Ich glaube, er gehörte zu einem der Bauernregimenter«, sagte ich. »Das erste Mal sah ich ihn außerhalb der Stadtmauer. Er war aus dem Westen gekommen und hatte die endgültige Niederlage Ars überlebt.« Ich glaubte mich an ihn zu erinnern. Er war ein Riese von einem Mann. Er hatte das Spiel gewonnen, bei dem man auf einem Weinschlauch aus Verr-Haut stehen mußte. Er hatte den Schlauch kurzerhand aufgeschlitzt. Eigentlich wunderte es mich, daß er die Stadt nicht schon längst verlassen hatte. Möglicherweise gehörte sein Dorf zu denjenigen, die man niedergebrannt hatte. Schließlich hatten Leute wie er und auch Jugendliche, die nicht mal alt genug gewesen waren, um mit den Waffen umgehen zu können, einen Großteil der Verteidigungsmilizen gestellt.

»Hast du den zweiten Kerl erkannt?« fragte Marcus.

»Ich glaube schon«, sagte ich.

»Und ich glaube, er hat uns ebenfalls erkannt.«

»Schon möglich.«

»Plenius«, sagte er. »Aus dem Delta.«

»Ja.«

Marcus nickte versonnen; plötzlich ruckte sein Kopf hoch. Schreie zerrissen die Nachtluft, dann ertönte ein Alarmstab.

»Sieh nur!«

Im Osten färbte sich der Himmel rot. Es war eine Art pulsierende, flackernde Glut.

»Das ist nicht die Morgendämmerung«, sagte Marcus grimmig.

»Ich finde, wir sollten zu unserem Quartier zurückgeben.«

Ein paar Männer rannten an uns vorbei auf das Licht zu. Mittlerweile wurden mehrere Alarmstäbe geschlagen.

»Die Ausgangssperre ist doch sicher noch immer in Kraft«, sagte Marcus.

»Die wird man jetzt schwer durchsetzen können«, sagte ich. Ein Mann eilte an uns vorbei, und ich packte ihn am Arm. »Was ist passiert?«

»Habt ihr nicht gehört?« keuchte er. »Die Registratur! Sie steht in Flammen!«

»Vielleicht hätten wir in eine Taverne gehen sollen«, meinte Marcus.

»Sie schließen neuerdings zur achtzehnten Ahn«, erinnerte ich ihn.

»Stimmt«, sagte er gereizt.

Die Wirte schätzten die Ausgangssperre bestimmt nicht und würden Geld verlieren. Vielleicht durften sie ja dafür früher öffnen.

Ich begleitete Marcus zurück in den Metellanischen Bezirk, das Seil und den Haken unter dem Umhang versteckt. Ich konnte seinen Ärger verstehen. Wir hätten den Abend genausogut in einer Paga-Taverne verbringen und uns an den sich windenden, schmachtenden Körpern der einstigen freien Frauen Ars erfreuen können. Sie trugen Glöckchen um die Knöchel, die bei jeder Bewegung bimmelten.

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