»Wohin ist sie verschwunden?« rief ein Zuschauer.
»Ich traue meinen Augen nicht!« sagte Marcus. »Sie saß doch noch eben in der Sänfte!«
Ich machte bloß: »Pst!«
»Ich begreife nicht, was ich da gesehen habe.«
Marcus und ich standen in der Grube, Schulter an Schulter mit den anderen Zuschauern vor der niedrigen Bühne. Für diejenigen, die Lust hatten, statt einem zwei Tarskstücke Eintritt zu bezahlen, erhoben sich hinter uns mehrere Sitzreihen.
Die vier modisch gekleideten Burschen mit den Turbanen trugen die Sänfte mit den jetzt offenen Vorhängen von der Bühne, als wäre nichts geschehen.
»Sie ist verschwunden!« sagte ein Mann verblüfft; der Kleidung nach gehörte er zur Kaste der Schriftgelehrten.
»Aber wohin bloß?« fragte ein anderer Zuschauer, offensichtlich ein Metzger.
»Sie kann sich doch nicht in Luft auflösen.« Das kam von einem Mann, der links von uns stand, einem Bauern.
»Und doch hat sie genau das getan«, sagte ein Hirte.
Wir befanden uns in einem kleinen, schäbigen Theater. Die Vorderbühne war offen. Der Saal hatte einen Durchmesser von etwa zwanzig Metern. Es war das vierte Etablissement dieser Art, das wir an diesem Abend besuchten. Draußen auf den Straßen gab es genügend andere Vergnügungsstätten; aufgebaute Buden, in denen meistens Zauberkunststücke mit kleinen Gegenständen wie Ostraka, Ringen, Schals oder Münzen vorgeführt wurden. Ich sehe mir derartige Vorführungen gern an und bin ein großer Bewunderer der Geschicklichkeit, Beweglichkeit und des Könnens, die dafür nötig sind.
»O je!« rief der dicke Kerl, der auf der Bühne herumwatschelte, der sich aber, wenn man genau hinsah, trotz seines Gewichts mit einer gewissen Leichtfüßigkeit und Anmut bewegte. »Sollte ich meine Sklavin verloren haben?«
»Finde sie!« rief ein Zuschauer.
»Genau!« rief der Kaufmann.
Die Rufer meinten das todernst. Davon war ich fest überzeugt. Vielleicht sollte ich in diesem Zusammenhang erwähnen, daß viele Goreaner, vor allem die Angehörigen der niederen Kasten, die im allgemeinen lediglich Zugang zu einer ›Grundbildung‹ haben, solche Dinge sehr ernst nehmen und fest davon überzeugt sind, nicht etwa Zeugen von Zauberkunststücken, Taschenspielertricks und Sinnestäuschungen, sondern von unerklärlichen Phänomenen geworden zu sein, die das Werk ungewöhnlicher Persönlichkeiten wie Zauberer und Magier sind. Für diese Arglosigkeit sind ohne jeden Zweifel mehrere Faktoren verantwortlich zu machen, wie zum Beispiel die Primitivität dieser Welt, die Isolation der Städte und die eingeschränkten, mühseligen Kommunikationswege.
Davon abgesehen neigt der Goreaner dazu, die Welt weder als ein aus voneinander abhängigen Teilen zusammengesetztes Uhrwerk noch als große, vorhersehbar arbeitende Maschine zu betrachten; sie ist für ihn auch kein sich jeder Erklärung und Ordnung entziehendes, bedeutungsloses und zufälliges Spiel. Er würde das Geheimnis der Welt eher mit der fundamentalen Metapher des Baumes mit den starken Wurzeln oder der Blume beschreiben. Für ihn ist die Welt real und lebendig. Er bemalt seine Schiffe sogar mit Augen, damit sie sehen können. Und wenn er schon so über seine Fahrzeuge denkt, wie muß ihm dann zumute sein, welche Ehrfurcht und Andacht wird er empfinden, wenn er über die Großartigkeit, die Macht und die Schönheit dessen nachsinnt, in dem er sich wiederfindet? Warum gibt es die Schöpfung überhaupt? Warum herrscht nicht das Nichts? Wäre das ›Nichts‹ nicht viel wahrscheinlicher, rationaler, wissenschaftlicher? Wann begann die Zeit? Wo endet der Raum? An einer Linie, der Oberfläche einer Kugel? Erzwingen erst unsere Definitionen die Realität?
Der Goreaner sieht die Welt weniger als ein Rätsel, sondern vielmehr als Gelegenheit, als eine Beute, an der man sich erfreut; weniger als ein Problem, das seiner Lösung harrt, sondern vielmehr als Geschenk, das man voller Dankbarkeit entgegennimmt.
Und noch etwas läßt sich zu der Neigung der Goreaner, Illusionen als Realität zu akzeptieren, anmerken: Sie nehmen solche Dinge wie Ehre und Wahrheit ungemein ernst. Und bei einer solchen Kultur und mit diesem Hintergrund sind sie leichter zu beschwindeln als andere; der durchschnittliche Goreaner ist ein wesentlich leichteres Opfer für einen Betrüger oder Scharlatan als ein mißtrauischer, zynischer Mann.
Andererseits rate ich niemanden, Goreaner zu belügen. Es gefällt ihnen gar nicht.
»Ich hätte die Hand ausstrecken und sie berühren können«, sagte Marcus.
Das bezweifelte ich dann doch, obwohl wir sehr nahe bei der Bühne standen.
Vier mit Turbanen gekrönte Männer hatten vorhin eine leichte, mit einem baldachinähnlichen Dach und weißen Vorhängen ausgestattete Sänfte auf die Bühne gebracht. Sie hatten sie abgestellt und die Vorhänge zurückgezogen, so daß man den mit dunklen Vorhängen bedeckten Bühnenhintergrund hatte sehen können. In der Sänfte hatte ein schlankes Mädchen gelegen, das ein Gewand aus schimmernder weißer Seide mit dazu passendem Schleier trug und sich hochmütig auf einen Ellbogen aufstützte.
»Hier handelt es sich sicher um eine hochwohlgeborene Dame!« hatte der Dicke gerufen, während er um die Sänfte herumging.
Das hatte schallendes Gelächter hervorgerufen. Freie Frauen erscheinen so gut wie nie auf einer Bühne. Das geht sogar so weit, daß man bei bestimmten Theaterstücken wie den großen Tragödien die Frauenrollen nicht von freien Frauen oder Sklavinnen spielen läßt, sondern von Männern. Die Masken und die Kostüme verraten dem Zuschauer, bei welchen Rollen es sich um Frauen handelt.
Der Dicke streckte die Hand aus und half dem Mädchen aus der Sänfte; sie blickte sich gelangweilt um.
»Das kann doch unmöglich meine Sklavin Litsia sein?« jammerte der Dicke.
Sie warf den von Kapuze und Schleier verhüllten Kopf zurück.
»Solltest du frei sein, zeige mich wegen meiner Unverschämtheit bei den Wächtern an, damit sie mich wegen meiner Unverfrorenheit auspeitschen, aber wenn du meine Litsia bist, entferne die Kapuze und den Schleier.«
Mit einer fast schon hoheitsvollen Resignation gehorchte sie.
»Sie ist hübsch!« rief Marcus aus. Andere Zuschauer schlössen sich seinem Urteil an.
»Es ist meine Litsia!« rief der Dicke, als sei er erleichtert.
Die Frau zog das Gewand ein Stück herunter, bis ihre nackten Schultern zu sehen waren. Sie hielt das Gewand vor der Brust gerafft.
»Sie trägt ja gar keinen Kragen!« rief der Schriftgelehrte vor mir. »Prügelt sie!«
Das Mädchen erbleichte kurz und ergriff das Gewand mit den kleinen Fäusten fester, aber schon im nächsten Augenblick hatte sie sich wieder gefangen und spielte ihre Rolle weiter. Es war offensichtlich, daß sie die Peitsche irgendwann einmal gespürt hatte und wußte, wie das war.
»Aber im neuen Ar respektieren wir doch unsere Sklavinnen, oder nicht?« rief der Dicke an das Publikum gewandt.
Diese Frage löste schallendes Gelächter und goreanischen Beifall aus, bei dem sich die Männer auf die linke Schulter klopften.
»Aber meine Litsia muß ein Zeichen ihrer Versklavung bei sich tragen«, fuhr er fort. »Bitte, Litsia, zeige es uns.«
Das Mädchen stieß den linken Fuß mitsamt einem hübsch geformten Unterschenkel aus dem Gewand. Um den Knöchel schmiegte sich ein schmales Fußeisen. Schnell verbarg sie Fuß und Knöchel wieder unter dem Gewand.
»Zeig uns doch etwas mehr, Litsia«, bat der Dicke.
Litsia öffnete das Seidengewand, ging leicht in die Knie, drehte den Kopf geziert zur Seite und behielt die Pose einen kurzen Moment lang bei.
»Sie ist wunderschön!« sagte Marcus.
»Ja!« stimmte ich ihm zu.
»Mit einem solchen Körper ist das bestimmt eine Sklavin der zweiten Generation.«
»Nein«, sagte ich. »Sie war eine freie Frau, aus Asperiche.«
Marcus warf mir einen überraschten Blick zu.
»Ja«, bekräftigte ich meine Worte.
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Interessant.«
Das Mädchen trug lediglich eine sittsame Sklaventunika. Sie hüllte sich wieder in das Gewand, warf den Kopf zurück und blickte das Publikum geringschätzig an. Buhrufe ertönten. Das war kein Benehmen für eine Sklavin.
»Es gibt Leute, die sind der Meinung, ich hätte sie verwöhnt«, sagte der Dicke.
Litsia streckte die Hand aus, und ihr Herr führte sie zurück zur Sänfte. Sobald sie darin Platz genommen hatte, hob man sie in die Höhe.
Die Sänfte befand sich eindeutig vom Boden entfernt. Man konnte die Vorhänge des Bühnenhintergrunds genau sehen.
»Ich verlasse mich darauf, daß du heute abend nett zu mir sein wirst!« sagte der Dicke zu der schlanken Schönheit in der Sänfte.
Sie würdigte ihn keiner Antwort.
Er schloß die Vorhänge der Sänfte. Sie schwebte weiter in der Luft, gehalten von den Trägern.
»Findet ihr, daß ich zu nachsichtig mit ihr umgehe?« fragte der Dicke das Publikum.
Zustimmende Rufe ertönten.
»O je!« rief daraufhin der Dicke, blickte geknickt zum Himmel und schüttelte wütend und hilflos beide Fäuste. »Wäre ich doch nur nicht ein so hingebungsvoller Anhänger des neuen und wunderbaren Ars!«
Die Zuschauer lachten.
Ich ging davon aus, daß sich ein Großteil der Abneigung gegenüber der neuen Regierung an Orten wie diesem hier Luft machte. Man hatte einige Theater wegen der beleidigenden Art solcher Satire oder Kritik geschlossen. Zwei waren niedergebrannt worden. Der Mann auf der Bühne schien sich innerhalb der akzeptablen Grenzen zu bewegen, wenn auch nur so gerade eben. Außerdem war es zweifellos weitaus weniger gefährlich als noch vor einigen Wochen, sich solchem Humor hinzugeben. Die Regierung war klug genug gewesen, die angestrebte ›Entmannungspolitik‹, die ja nicht über das Planungsstadium hinausgekommen war, zurückzunehmen. Sie hatte die Entdeckung machen müssen, daß die Bürger der Stadt ihre Männlichkeit niemals aufgeben würden, selbst dann nicht, wenn man sie dafür mit Lob überhäufte. Man hatte Aufruhr und Revolution gerade noch eben abwenden können. Trotzdem war es durchaus möglich, daß sich Spione in der Vorstellung befanden. Ich bezweifelte, daß der Dicke bei den Behörden besonders beliebt sein würde.
»Wenn mir doch nur ein Magier bei meinem Dilemma helfen könnte!« schluchzte er.
»Hüte dich!« rief der Bauer aufgebracht.
»Ja, genau, hüte dich«, rief der Schriftgelehrte lachend.
»Wenn doch nur ein Magier meine Litsia wegzaubern würde, und sei es nur für einen Augenblick, und ihr beibrächte, wie sich eine Sklavin zu benehmen hat!«
Wieder lachten ein paar der Männer. Eines mußte man dem Dicken lassen. Er machte seine Sache gut.
»Aber natürlich gibt es keine Magier!«
»Hüte dich!« rief der Bauer, der sich von der Vorstellung so sehr mitreißen ließ. »Hüte dich, es könnte dich einer hören!«
»Ich glaube, ich spreche mit ihr und bitte sie, eine bessere Sklavin zu sein!« sagte der Dicke.
Die Sänfte wurde noch immer von den vier Trägern über dem Boden gehalten. Die Vorhänge waren zugezogen.
Das Publikum war nun ganz still.
Der Dicke riß die Vorhänge zurück.
»Sie ist weg!«
Wieder konnte man durch die offene Sänfte den Bühnenhintergrund sehen.
Die vier Männer mit den Turbanen trugen die Sänfte ungerührt von der Bühne, so als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen.
Die Zuschauer unterhielten sich aufgeregt miteinander.
Ich klopfte mir auf die linke Schulter, um dem Magier zu applaudieren.
Andere waren meinem Beispiel gefolgt.
Der Dicke verbeugte sich mehrmals. »Ich glaube, es gibt nur eine Möglichkeit, meine Sklavin wiederzubekommen!« vertraute er dann dem Publikum an. »Aber ich fürchte mich, sie zu ergreifen!«
»Warum?« rief der Metzger.
»Weil« – der Dicke wandte sich mit einem weittragenden Bühnenflüstern an den Fragesteller – »ich Magie benutzen müßte!«
»Und wenn schon!« rief der Schriftgelehrte.
Der Dicke legte einen Zeigefinger an die Lippen und dachte sichtlich angestrengt nach. »Da gibt es einen Weidenkorb«, sagte er dann. »Ein Mann aus Anango überließ ihn mir.«
Einige Zuschauer keuchten auf. Die Magier von Anango sind auf ganz Gor berühmt. Will man jemanden in eine Kröte verwandeln lassen, sind das die richtigen Leute, an die man sich wenden muß. Sicher, ihre Arbeit ist nicht billig. Die einzigen, die meines Wissens noch nie von den Magiern gehört haben, sind natürlich die Bewohner des weit entfernten Anango.
»Aber er muß ja kein Magier gewesen sein«, sagte der Dicke nachdenklich.
»Aber vielleicht war er doch einer«, rief ein aufgeregter Zuschauer.
»Das ist wahr!« sagte der Dicke.
»Es ist einen Versuch wert«, sagte der Kaufmann.
Der Dicke blickte ihn zweifelnd an. »Glaubst du nicht, daß er etwas dagegen hätte?«
»Nein«, sagte der Metzger. Ich fragte mich, woher er das so genau wußte.
»Aber er könnte doch derjenige sein, der sie fortgezaubert hat«, meinte der Metzger.
»Vielleicht will er ja, daß du den Korb benutzt, um sie zurückzuholen«, rief ein Schmied.
»Er hat gesagt, er sei mein Freund«, sagte der Dicke.
»Hol den Korb!« rief der Metzger.
»Holt den Korb!« rief der Dicke entschlossen seinen Kameraden hinter der Bühne zu.
Zwei der Sänftenträger, die nun aber keine Turbane mehr trugen, traten von rechts auf die Bühne und schleppten zwei Böcke heran, die sie anderthalb Meter voneinander entfernt in der Bühnenmitte aufstellten. Im nächsten Augenblick traten die anderen beiden Sänftenträger – ebenfalls ohne Turban, da diese Verkleidung nun nicht mehr erforderlich war – auf die Bühne und trugen einen langen Weidenkorb, dessen Länge etwa zwei Meter und dessen Höhe und Breite jeweils etwa einen Meter betrugen. Sie luden ihn auf den Holzböcken ab. Man konnte unter dem Korb hindurchblicken. Er befand sich voll im Blickfeld der Zuschauer.
»Der Korb ist ja gar nicht leer!« rief der Metzger.
»Die Sklavin ist da drin!« rief der Schmied.
»Aber das will ich doch hoffen«, rief der Dicke seinem Publikum zu. »Schließlich will ich sie wiederhaben!«
»Sie ist doch schon da drin!«
»Ich hoffe es«, erwiderte der Dicke. »Sehen wir einfach nach!«
Er eilte zur dem Korb und nahm den Deckel ab, den er auf den Boden legte. Dann hakte er die Rückseite von den beiden Seitenteilen los. Nur noch mit dem Korbboden verbunden hing sie nun hinten herunter, wie man deutlich sehen konnte. Er klappte das rechte Seitenteil herunter, dann das linke. Nun stand nur noch die Vorderseite der Truhe hoch aufgerichtet da, weil er sie mit einer Hand festhielt.
»Laß sie herunter!« rief der Bauer.
»Zeig uns die Sklavin!« verlangte der Schriftgelehrte.
»Das ist kein Trick!« rief ein anderer Zuschauer.
Ein allgemeines Aufstöhnen ging durch das Theater, als der Dicke die Vorderseite herunterfallen ließ. Der Korb lag nun in seine Einzelteile zerlegt völlig offen da.
Es war keine Sklavin zu sehen.
»O je« rief der Dicke und fuchtelte mit beiden Händen durch den leeren Raum, der eben noch das Korbinnere gewesen war. »Sie ist nicht hier!« Er ließ sich auf alle viere herunter und blickte unter den Korb, dann tastete er den Korbboden ab, der vielleicht drei Zentimeter dick sein mochte. Scheinbar verzweifelt wimmerte er: »Sie ist nicht hier!«
»Wo ist die Sklavin?« fragte der Bauer.
»Vielleicht hat sie der Magier behalten«, schlug ein Zuschauer vor. Es klang, als meinte er dies ernst.
»Aber er ist doch mein Freund!« protestierte der Dicke.
»Bist du dir da sicher?«
»Vielleicht ist der Korb in Wirklichkeit ja gar nicht magisch«, dachte der Dicke laut nach.
»Das scheint mir die plausibelste Erklärung zu sein«, flüsterte ein vor uns stehender Mann seinem Freund zu.
»Das schätze ich auch«, sagte Marcus leise, mehr im Selbstgespräch als an eine bestimmte Person gerichtet.
Ich sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Ich hatte den Eindruck, daß er das ernst meinte.
»Bist du anderer Meinung?« fragte er mich. Es war tatsächlich sein Ernst.
»Laß uns zusehen«, sagte ich. Ich lächelte. Marcus war ein hochintelligenter Bursche. Andererseits entstammte er einer Kultur, die im großen und ganzen solchen Fragen ziemlich offen gegenüberstand, und dies war vermutlich das erste Kunststück dieser Art, das er je zu sehen bekam. Es mußte ihm unglaublich erscheinen. Mit seinem Hintergrund war er bereit, das, was ihm seine Sinne mitteilten, auch zu akzeptieren.
»Was habe ich nur falsch gemacht? Was habe ich nur falsch gemacht?« stöhnte der Dicke. Er klappte die Vorderseite wieder hoch, richtete das linke Seitenteil auf und ließ die Verriegelung zuschnappen. »Ich verstehe es nicht!« Er klappte die rechte Seite hoch und machte sie fest. Dann ging er um den Korb herum und schloß auch die Rückseite. Zum Schluß hob er den Deckel auf und legte ihn auf den Weidenkorb.
»Was habe ich nur falsch gemacht?« fragte er das Publikum in komisch anzusehender Verzweiflung.
»Du hast den Magier nicht angerufen!« rief der Bauer.
»Was!« rief der Dicke überrascht.
»Genau!« meldete sich der Metzger zu Wort. »Erinnere dich! Du hast laut den Wunsch geäußert, daß ein Magier sie fortzaubern möge, um sie zu lehren, wie man sich als Sklavin zu benehmen hat!«
»Ja!« sagte der Dicke staunend. »Das ist wahr!«
»Vielleicht hat dich ja dein Freund aus Anango, der angeblich ein Magier sein soll, gehört und wollte dir einen Gefallen tun.«
»Ist so etwas denn möglich?« fragte der Dicke ehrfürchtig.
»Aber ja«, sagte der Metzger.
»Was muß ich denn jetzt tun?«
»Wünsche sie dir zurück.«
Der Dicke auf der Bühne schüttelte den Kopf. »Glaubt ihr, er wird sie mir zurückgeben?« fragte er zweifelnd.
»Aber sicher«, sagte der Metzger, der sich als ungewöhnlich hilfsbereit erwies.
»Er ist doch dein Freund«, sagte der Schriftgelehrte.
»Das hoffe ich zumindest«, antwortete der Dicke.
»Dann ist es sicherlich einen Versuch wert«, sagte der Metzger.
Der Dicke blickte in die Höhe und rief: »Oh, Saba Boroko Swaziloo, alter Freund, wenn du mich hören kannst und wenn du es gewesen sein solltest, der meine kleine Litsia fortgezaubert hat, vielleicht um ihr Benehmen beizubringen, bitte gib sie mir zurück!«
Ein derartiger Name war natürlich völliger Unsinn; anangische Namen haben aber ähnlich klingende Vokale, warum bei derartigen Gelegenheiten Leute, die in solchen Dingen etwas nachlässig sind, oft darauf zurückgreifen. Es war natürlich äußerst unwahrscheinlich, daß sich Anangoer im Publikum befanden. Zumindest hoffte ich das, um des Dicken willen.
Stille kehrte ein.
»Nichts!« sagte der Dicke enttäuscht. »Nichts!«
Plötzlich ertönten aus dem Weidenkorb polternde Geräusche. Er wackelte auf den Böcken.
»Was ist das?« rief der Dicke und drehte sich um.
Der Korb wackelte hin und her.
»Herr!« Die Stimme kam aus dem Korb. »Herr, geliebter Herr, hilf mir! Ich bitte dich, hilf mir, Herr! Wenn du mich hören kannst, so hilf mir!«
»Mach ihn auf!« rief der Metzger.
»Mach ihn auf!« rief der Bauer.
Der Dicke riß den Weidendeckel von dem Korb, blickte hinein und stolperte zurück, als würde ihm das, was er da sah, die Sprache verschlagen.
»Zeig es uns!« riefen die Zuschauer. »Zeig es uns!«
Ohne eine Sekunde zu verschwenden, löste er die Riegel und ließ die Vorderseite herunterklappen. Die Zuschauer brüllten ihr Erstaunen und ihre Begeisterung heraus. In dem Korb lag die Sklavin Litsia, die jetzt nur noch knappe Stoffetzen und einen Sirik trug.
Sie hatte aufregende Kurven und war ein gestaltgewordener Traum, ihr Anblick hätte einen starken Mann dazu bringen können, vor Begeisterung zu jubeln und einen Freudentanz aufzuführen.
Die Zuschauer auf den Sitzreihen sprangen applaudierend auf.
Ja, die Frau war großartig. Es konnte keinen Zweifel mehr an dem Versprechen geben, das ihr Körper bot. Sie hätte sich genausogut auf einem Auktionsblock befinden können, so wenig überließen die knappen Stofffetzen der Phantasie der aufgeregten Männer. Und wie verführerisch sie sich auf dem Korbboden wand, in hilflosem Verlangen, im Griff des Siriks, der ihren Hals, die Handgelenke und Knöchel mit funkelnden Ketten tadellos miteinander verband!
»Der Magier hat sie zurückgebracht!« rief der Bauer.
»Und sie ist in einem besseren Zustand, als er sie erhalten hat!« lachte der Schriftgelehrte.
Mit einem Ruck riß der Dicke den lächerlichen Stofffetzen weg, der ihre Schönheit auf so überflüssige Weise versteckt hatte, und warf ihn beiseite.
Männer jubelten auf.
»Es sieht so aus, als hätte ich einen neuen Herrn«, sagte das Mädchen und wand sich nackt vor dem Publikum.
Gelächter ertönte.
Der Dicke zog sie aus dem Korb und stieß sie auf der Bühne auf die Knie. Sie wandte sich dem Publikum zu. »Jetzt weiß ich, daß ich einen neuen Herrn habe!«
Noch mehr Gelächter ertönte.
»Wo bist du gewesen?« verlangte der Dicke zu wissen.
»Ich saß in meiner Sänfte«, sagte das Mädchen. »Und plötzlich, ein Blinzeln später, fand ich mich in einem Schloß wieder, nackt und in Ketten!«
»Ich wette, in Anango«, sagte der Dicke.
»Zu den Füßen eines Magiers!« rief sie.
»Das kann nur mein alter Freund Swaziloo gewesen sein!«
»Ja, ich glaube, das war sein Name.« Es freute mich, daß sie es geschafft hatten, den Namen beim zweitenmal richtig hinzubekommen. Ich hatte schon erlebt, daß sich der Dicke dabei versprach. Das Mädchen hätte so einen Fehler natürlich niemals gemacht. Sie wäre sonst vermutlich ausgepeitscht worden.
»Und warum hat er dich in sein Schloß geholt?«
»Um mir etwas beizubringen, Herr.«
»Und hat man dir etwas beigebracht?«
»Ja, Herr.«
»Was denn?«
»Eine Sklavin zu sein, Herr!« flüsterte sie.
Zur Freude des Publikums streckte sie die Arme aus, ergriff das Bein des Dicken, schmiegte sich daran und küßte ihn demütig auf den Oberschenkel.
»Und ich habe vielleicht auch etwas gelernt«, sagte der Dicke. »Ein richtiger Herr zu sein.«
Applaus und Begeisterungsrufe ertönten, die Truppe verbeugte sich, während das Mädchen dem Publikum ihren Gehorsam erwies, bevor sie in ihren Ketten, die ihr nur kleine Schritte erlaubten, von der Bühne geführt wurde.
Die Vorstellung hatte Marcus erschüttert.
Wir verließen das Theater. An diesem Abend würden wir keine weiteren Aufführungen mehr ansehen, da alle Lokale wegen der Ausgangssperre bald schließen würden. Außerdem hatte ich gefunden, was ich gesucht hatte, den Mann, mit dem ich Kontakt aufnehmen wollte.
»Ich bin verwirrt von dem, was ich gesehen habe«, gestand Marcus.
»Wieso?«
»Ist er ein echter Magier, oder steht er mit ihnen im Bunde?«
»Das kommt darauf an, was du unter ›Magier‹ verstehst«, antwortete ich.
»Du weißt schon, was ich meine«, sagte Marcus gereizt.
»Ich glaube nicht.«
»Na, einer, der die magischen Künste beherrscht!«
»Ach so.«
»Ich weiß nicht, ob es klug ist, Magie auf eine solche Weise zu benutzen«, sagte Marcus. »Gegen Bezahlung, vor einem Publikum.«
»Warum lassen sie statt dessen keine Goldstücke erscheinen?« sagte ich.
»Ja, genau.«
»Mein lieber Marcus, das sind Zauberkunststücke«, sagte ich. »Man führt sie auf, um zu unterhalten.«
So leicht gab sich Marcus nicht zufrieden. »Der Magier oder der Magier, mit dem der Künstler im Bunde steht, gebietet offensichtlich über außergewöhnliche Kräfte.«
»Im gewissen Sinne schon«, gab ich zu. »Ich wäre der letzte, der sie unterschätzen oder heruntermachen würde. Sie verfügen über ungewöhnliche Kräfte. Aber das tust du auch. Zum Beispiel hast du ungewöhnliche Fertigkeiten im Umgang mit der Klinge, dem Stahl des Krieges.«
»Das sind doch nur Dinge, die mit Blut, Instinkt, Können, Kraft, Reflexen und Übung zu tun haben. Einfache Fertigkeiten.«
»Auch der Magier verfügt über gewisse Fertigkeiten«, erwiderte ich. »Sie sollten entsprechend gewürdigt werden. So etwas bereichert unser Leben. Erfreuen wir uns an seinen Erfolgen.«
»Ich glaube nicht, daß ich verstehe, was du meinst.« Sein Tonfall klang plötzlich mißtrauisch.
»Möchtest du gern wissen, was hinter den Kunststücken steckt?« fragte ich.
»Kunststücke?«
»Ja«, sagte ich. »Wenn ich es dir verrate, wirst du sie dann weniger schätzen?«
»Was dahintersteckt?«
»Du glaubst doch nicht allen Ernstes, daß sich eine Sklavin in Luft auflöst und dann wieder in einem Weidenkorb erscheint, oder?«
»Sicher ist das nur schwer zu glauben«, sagte Marcus nachdenklich. »Aber ich muß es glauben, denn genau das ist geschehen.«
»Unsinn.«
»Hast du nicht gesehen, was ich sah?« fragte er heftig »In gewissem Sinne schon«, antwortete ich. »Andererseits muß ich der Gerechtigkeit halber sagen, daß jeder von uns das, was wir sahen, auf andere Weise interpretiert.«
»Ich weiß, was ich gesehen habe.«
»Du weißt, was du glaubst gesehen zu haben.«
»Das können keine Taschenspielertricks gewesen sein«, widersprach Marcus ärgerlich. »Diesmal nicht! Hältst du mich für naiv? Ich habe schon von solchen Dingen wie Falltüren und Geheimtüren gehört! Ich habe selbst von Sinnestäuschungen gehört, die mit Spiegeln erzeugt werden! Aber dabei handelt es sich nicht um wahre Magie! Das sind nur Tricks. Ich selbst könnte so etwas tun. Aber das hier war anders. Hier kann es sich offensichtlich nur um Magie gehandelt haben.«
»Wie kommst du darauf?« fragte ich erstaunt.
»Wenn es so viele falsche Magier gibt«, sagte Marcus, »dann muß es auch mindestens einen richtigen Magier geben.«
»Hast du über diese Logik einmal gründlich nachgedacht?«
»Nein.«
»Das wäre aber nicht verkehrt.«
»Vielleicht«, sagte er gereizt.
»Aus der Tatsache, daß die meisten Larls Fleischfresser sind, ergibt sich doch nicht, daß einige Larls anders sind«, sagte ich. »Im Gegenteil, wenn man aufgrund eines derartigen Umstandes schon Schlüsse zieht, dann erscheint die Annahme, daß sie alle Fleischfresser sind, doch die rationalere Lösung zu sein.«
»Also sollte man aus der Tatsache, daß die meisten Magier in Wirklichkeit keinesfalls über magische Kräfte verfügen, nicht ableiten, daß es einige doch tun?«
»Genau.«
»Ich bin durchaus bereit, dir zuzugestehen, daß diese Logik nicht verkehrt ist«, sagte Marcus, »aber in diesem Fall sprechen die Tatsachen für sich!«
»Welche Tatsachen denn?«
»Daß es echte Magie gibt!«
»Wie kommst du darauf?«
»Du hast die Sklavin in der Sänfte gesehen«, sagte Marcus. »Man hat die Sänfte hochgehoben. Glaubst du wirklich, das Mädchen hätte aus einer Falltür schlüpfen können? Das ist völlig unmöglich. Außerdem wurde die Sänfte bewegt. Darum kann es auch keine Spiegel gegeben haben.«
»Nein«, erwiderte ich. »Es wurde ja auch nicht mit Hilfe von Spiegeln gemacht.«
»Richtig, sondern mit Hilfe von Magie.«
»Aber nicht mit dem, was du für ›echte‹ Magie hältst«, sagte ich.
»Wie wurde es denn dann bewerkstelligt?« fragte Marcus gereizt.
»Es gab zwei Zauberkunststücke«, sagte ich. »Bei dem ersten verschwand das Mädchen aus der Sänfte, beim zweiten tauchte es in dem Korb wieder auf.«
»Oder es handelte sich um zwei Wunder«, beharrte Marcus.
»Also gut«, sagte ich seufzend. »Dir ist doch bestimmt nicht entgangen, daß die Sänfte ein Dach hatte, eine Art Baldachin, der von vier Pfeilern gehalten wurde.«
»Stimmt«, sagte er mißtrauisch.
»Diese Pfeiler sind hohl«, sagte ich, »und in ihnen befinden sich Schnüre und Gewichte.«
»Weiter.«
»Die Schnüre sind an einem Ende mit den in den Pfeilern befindlichen Gewichten verbunden und am anderen Ende mit den Ecken einer flachen Platte im Boden der Sänfte, auf der das Mädchen sitzt. Wenn die Vorhänge nun, wie du dich erinnern wirst, zugezogen werden, lösen die Träger die Gewichte. Diese Gewichte sind aber zusammen viel schwerer als die Platte und das Mädchen, das, wie du dich ebenfalls erinnern wirst, sehr schlank und leicht war. Während die Gewichte innerhalb der Pfeiler nach unten gleiten, bewegen sich die Schnüre und ziehen die Platte nach oben bis unters Sänftendach.«
»Das Mädchen wird also oben gehalten und von dem überhängenden Baldachin verborgen?«
»Genau«, sagte ich.
»Ich habe nicht daran gedacht, daß sie in die Höhe gezogen werden könnte«, meinte Marcus ganz kleinlaut.
»Wer täte das schon?« gab ich zu bedenken. »Normalerweise fliegt ja niemand aufwärts. Die meisten Zuschauer würden, wenn überhaupt, an einen falschen Boden denken, aber die Konstruktion der Sänfte, ihre Einsehbarkeit, macht es offensichtlich, daß man in ihrem Boden nichts verbergen kann.«
»Es war keine Magie?«
»Sobald das Mädchen von der Bühne gebracht wurde, ist es kein Problem, sie umzuziehen und ihr einen Sirik anzulegen.«
»Das mit dem Korb war aber echte Magie«, sagte Marcus, »denn wir haben gesehen, wie er vom Boden gehoben und auseinandergeklappt wurde, und er war leer!«
»Was nun den Korb angeht«, fuhr ich fort, »wirst du dich erinnern, daß er auf eine bestimmte Weise getragen und in einer bestimmten Reihenfolge geöffnet und auch wieder geschlossen wurde.«
»Erklär es mir.«
»Entscheidend war, nachdem er auf den Böcken stand, daß zuerst die Rückseite heruntergeklappt wurde, dann die Seiten und schließlich die Vorderseite.«
»Ja, das stimmt.«
»Aber als er wieder geschlossen wurde, kam die Vorderseite zuerst dran, dann die Seiten und zum Schluß die Rückseite.«
Marcus nickte.
»Kurz gesagt, beim Öffnen kam die Rückseite zuerst dran, beim Verschließen zuletzt.«
»Das ist richtig.«
»Das Publikum konnte die Innenseite der hinteren Korbwand am Anfang also nicht sehen«, sagte ich, »weil sie entweder von der Vorderseite verborgen wurde oder dem Bühnenhintergrund gegenüberlag, als sie herunterhing. Später dann wurde sie sowohl von der Vorderseite als auch von den Seitenteilen verborgen, die zuerst hochgeklappt wurden.«
»Die Sklavin wurde also in dem verschlossenen Korb auf die Bühne getragen, dann wurde ihr Körper irgendwie an der Rückwand befestigt.«
»An Schlaufen«, erklärte ich.
»Sie hing also an der Rückseite, vom Publikum abgewendet, als der Korb geöffnet wurde?«
»Ja.«
»Und wurde zurück in den Korb befördert, als der Dicke die Rückseite wieder hochklappte?«
»Ja. Und als sie wieder in dem verschlossenen Korb war, konnte sie, da sie trotz des Siriks über genügend Bewegungsfreiheit verfügte, die Schlaufen entfernen und sie in einem eigens dafür in den Boden eingelassenen Schacht verstecken.«
»Dann handelte es sich nicht um Magie?«
»Nein, es war keine Magie.«
»Aber es hätte welche sein können! Selbst wenn man dies alles so einfach mit ein paar Tricks hätte zustande bringen können, beweist das doch noch lange nicht, daß es auch so war.« Marcus konnte so stur sein.
»Ich habe diesen Korb mit eigenen Augen gesehen«, sagte ich. Das hatte ich tatsächlich, vor einigen Monaten in einem der Wagen des Dicken. Ich hatte sogar zu meinem eigenen Vergnügen damit herumgespielt.
»Aber das beweist nicht, daß er auch auf diese Weise benutzt wurde!« beharrte Marcus.
»Würdest du denn dem Zauberkünstler glauben, wenn er dir zeigt, wie er es gemacht hat?«
»Er könnte mir zeigen, wie man es macht, aber nicht, wie er es gemacht hat«, sagte Marcus. »Er könnte mich anlügen, um seine geheimnisvollen Kräfte vor mir zu verbergen.«
»Nun, daran habe ich nicht gedacht.« Der Gedanke war mir tatsächlich noch nie gekommen. »Ich schätze, du hast recht.«
Marcus ging eine Zeitlang schweigend neben mir her. Plötzlich rief er wütend: »Dieser Scharlatan! Dieser Betrüger!«
»Bist du wütend?«
»Das sind alles nur Kunststücke, einfache Tricks!«
»Aber es sind gute Tricks!«
»Nichts als Taschenspielereien!«
»Ich glaube nicht, daß er je behauptet hat, es wäre etwas anderes.«
»Man sollte ihn in siedendes Öl werfen«, rief Marcus.
»Das scheint mir etwas zu hart zu sein.«
»Zauberkunststücke!« sagte Marcus.
»Ich sehe das etwas anders als du, denn ich bewundere diese Kunststücke eben deshalb, weil ich weiß, wie raffiniert sie sind. Ich würde sie bestimmt weniger zu schätzen wissen, wenn ich sie lediglich als die Manifestation einer ungewöhnlichen Macht ansähe, die es, sagen wir, genauso ermöglicht, Menschen in Schildkröten zu verwandeln.«
»Schon möglich.«
»Ganz bestimmt sogar.«
»Ich möchte keine Schildkröte sein«, sagte Marcus.
»Hoffen wir also, daß es keine Männer gibt, die solche Wunder bewerkstelligen können.«
»Das ist wahr.«
»Denn gäbe es ›echte‹ Magie, so wie du sie verstehst, sähe die Welt vermutlich ganz anders aus.«
»Es würde bestimmt viel mehr Schildkröten geben.«
»Das ist durchaus möglich.«
Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, daß mit den wissenschaftlichen Errungenschaften der Priesterkönige viele derartige Effekte durchaus machbar waren. Das gleiche lag auch im Bereich mehrerer Wissenschaften der Kurii. Aber solche Effekte waren rational erklärbar, zumindest für diejenigen, denen das nötige Wissen zur Verfügung stand; Effekte, die die Früchte ungewöhnlicher Wissenschaften und Technologien waren. Ich hielt es nicht für angebracht, Marcus von solchen Dinge zu erzählen. Wie wunderbar und unerklärlich mußte einem Wilden ein Streichholz erscheinen, oder ein Spiegel, ein Tennisball oder gar ein Schokoriegel.
»Die Sklavin war also gar nicht in Anango!« rief er plötzlich.
»Nein«, sagte ich. »Vermutlich nicht.«
»Aber das hat sie behauptet oder es zumindest so erscheinen lassen!« stellte er fest. »Sie ist also eine Sklavin, die gelogen hat, und sollte darum bestraft werden.«
»Jetzt hör aber auf«, empörte ich mich. »Sie hat ihre Rolle gespielt. Sie hat sich vergnügt, wie alle anderen auch. Und sie ist eine Sklavin. Was sollte sie denn deiner Meinung nach sagen? Die Wahrheit verkünden und die Vorstellung verpatzen, damit ihr Herr sie auspeitscht?«
Marcus nickte finster. »Ja«, sagte er. »Es ist ihr Herr, dem man den Vorwurf machen muß.«
»Ich hoffe, du kommst mit ihm zurecht.«
»Was?« rief der junge Krieger aufgebracht.
Ich nickte. »Ja. Ich würde sogar vorschlagen, daß du nett zu ihm bist.«
»Warum?« fragte Marcus.
»Weil er derjenige sein wird, der dir den Heimstein von Ar-Station besorgt.«