11

»Hör auf zu jammern, Kerl, Mann!« befahl der Hauptmann, der in das Rot von Ar gekleidet war, obwohl sein Akzent ihn unverkennbar als Cosianer entlarvte.

»Es geschah alles so schnell!« schluchzte der Kaufmann. »Mein Geschäft, meine Waren, alles ruiniert!«

»Aii«, sagte einer der vier Wächter, die den Offizier begleiteten und meiner Meinung nach gebürtige Arer waren. Sie blickten sich in dem Laden um. Der Boden lag voller Tonscherben. Regalbretter waren heruntergerissen worden. Zwischen dem zerschlagenen Geschirr und den Trümmern lagen sieben Tote, alle cosische Söldner.

»Und wer bist du?« fragte der Offizier und blickte auf.

»Ein Hilfswächter, Hauptmann«, sagte ich. »Aus der Nähe.«

»Sieh dir nur dieses Chaos an«, sagte der Offizier wütend.

»Plünderer?« fragte ich.

»Erzähl mir, was geschehen ist!« befahl der Offizier dem Kaufmann. »Beherrsch dich. Sei ruhig.«

»Mir ist schlecht«, schluchzte der Kaufmann.

»Ich bin kein Arzt«, sagte der Offizier. »Ich muß wissen, was sich hier abgespielt hat. Es muß Bericht erstattet werden.«

»Es war die neunte Ahn«, sagte der Kaufmann und ließ sich schwer auf einen Hocker fallen.

»Ja?« sagte der Offizier.

»Diese Kerle betraten den Laden«, fuhr der Kaufmann fort. »Sie behaupteten, Steuereintreiber zu sein.«

»Haben sie ihre Legitimation gezeigt?« fragte der Offizier.

»Das sind keine Steuereintreiber«, meldete sich einer der Wächter zu Wort. »Das sind Burschen, die mit einem Tagesurlaubsschein aus dem Lager in die Stadt kommen. Sie sind auf der Straße wohlbekannt. Sie geben sich als Steuereintreiber aus, und in dieser Tarnung nehmen sie sich dann, was sie wollen.«

»Und was wollten sie?« fragte der Offizier den Kaufmann.

»Geld.«

»Hast du es ihnen gegeben?«

»Ich gab ihnen, was ich hatte«, antwortete der Kaufmann, »aber es war nicht viel. Die Eintreiber waren erst vor fünf Tagen da. Sie lassen uns völlig verarmt zurück.«

Der Offizier ließ noch einmal die Blicke durch den Laden schweifen. »Du hast diese Männer umgebracht?« fragte er skeptisch.

»Ich habe gar nichts getan«, sagte der Kaufmann. »Sie gerieten in Wut, weil nicht mehr Geld da war. Keine Frage – hätte ich welches besessen, hätte ich es ihnen ohne Murren gegeben. Ruhm und Ehre für Cos!«

»Ruhm und Ehre für Cos!« grollte der Offizier. »Weiter.«

»Wütend über die Almosen, die sie erhalten hatten, fingen sie an, den Laden zu verwüsten.«

»Ja, und?«

»Mein Laden! Meine wunderschönen Waren!« jammerte der Kaufmann.

»Erzähl schon weiter.«

»Da betraten hinter ihnen zwei Männer den Laden, schweigend, sie waren wie Dunkelheit und Wind.«

»Und?«

»Das siehst du ja«, sagte der Kaufmann und zeigte auf den Boden.

»Das waren bloß zwei Männer, die hinter ihnen hereinkamen?« vergewisserte sich der Offizier.

Der Kaufmann nickte.

»Ich glaube dir nicht«, sagte der Hauptmann. »Die Toten sind Schwertkämpfer, sie sind im Lager bekannt.«

»Aber ich schwöre es!« rief der Kaufmann.

»Jede Leiche weist nur eine Verwundung auf«, sagte der Wächter, der die Leichen untersucht hatte.

»Krieger«, sagte ein anderer Wächter.

»Ich glaube, sie begriffen nicht einmal, wer da hereingekommen war«, sagte der Kaufmann.

»Das scheint die Arbeit von Berufsmördern zu sein«, sagte der Offizier.

»Ja, Hauptmann«, erwiderte einer seiner Männer.

»Turus, wessen Werk könnte das sein?« fragte der Hauptmann.

Turus, ein stämmiger Mann mit schwarzem Haar, schnaubte. »Da kann es wohl kaum einen Zweifel geben.«

Der Offizier blickte ihn an.

»Siehst du das hier, Hauptmann?« fragte Turus. Er rollte eine der Leichen auf den Rücken. Auf der Brust prangte ein blutiges Dreieck, ein ›Delka‹. Das ist der vierte Buchstabe des goreanischen Alphabets, der genauso wie das ›Delta‹ aussieht, der vierte Buchstabe des griechischen Alphabetes, dem er zweifellos seine Herkunft verdankt. Auf Goreanisch bezeichnet man das Delta eines Flusses als ›Delka‹. Der Grund dafür ist derselbe wie beim Griechischen, und zwar die Ähnlichkeit einer Deltaregion mit einem kartographischen Dreieck.

»Das war vor fünf Tagen genau das gleiche«, sagte ein anderer Wächter. »Die fünf Räuber, die man tot im Trevelyanischen Bezirk auffand, und die beiden Söldner, die zur zweiten Ahn auf der Straße der Wagen niedergestochen wurden. Man fand nur ein blutiges Delka, das jemand auf die Wand gezeichnet hatte.«

»Banius hat recht, sie haben es mit dem Blut der Räuber und der Söldner auf die Wand gezeichnet«, sagte Turus.

»Ar nimmt Rache«, sagte Banius.

»Eher fängt ein Verr an zu knurren!« fauchte der Offizier.

Banius zuckte mit den Schultern. »Nicht alle von uns sind Urts.«

»Ihr habt geschworen, Ar eure Schwerter zur Verfügung zu stellen«, herrschte der Offizier ihn an. »Ar, das unter der Oberherrschaft von Cos steht.«

»Mit anderen Worten also Cos – oder gibt es da irgendeinen Unterschied?« fragte Banius.

»Wir gehorchen unserer Ubara«, sagte Turus.

»Und wem gehorcht sie?«

»Schweigt!« sagte der Offizier.

»Ruhm und Ehre für Cos«, sagte ich.

»Laßt euch von einem Hilfswächter Manieren beibringen, eure Pflichten für die Allianz zeigen«, knurrte der Offizier.

Der Wächter Banius zuckte bloß mit den Schultern.

»Guter Mann«, sagte der Offizier zu mir.

»Vielen Dank, Hauptmann«, erwiderte ich artig.

Der Offizier wandte sich an den Kaufmann. »Würdest du die Angreifer wiedererkennen, die diese armen Kerle erschlugen und deinen Laden verwüsteten und von denen es sicher mehr als zwei gab?«

»Sie waren nur zu zweit, genau wie ich sagte«, sagte der Kaufmann, »und nicht sie haben meine Ware zerstört, sondern die, die jetzt in ihrem eigenen Blut hier herumliegen.«

»Ich verstehe«, sagte der Offizier wütend.

Stille kehrte ein.

»Ich würde Marlenus folgen«, sagte Banius plötzlich.

»Folge seiner Tochter«, erwiderte der Offizier.

»Die er selbst verstoßen hat?«

»Das ist nicht wahr«, sagte der Offizier.

»Sie wurde verstoßen.«

»Das entspricht nicht der Wahrheit!« beharrte der Offizier.

»Wie du meinst, Hauptmann«, sagte Banius.

»Indem du seiner Tochter folgst, folgst du ihm«, sagte der Offizier.

»Seine Schritte hätten ihn niemals nach Cos geführt«, erwiderte Turus, »es sei denn mit einer Armee im Rücken.«

»Heil Talena, der Ubara von Ar«, sagte ich.

»Gut gesagt«, sagte der Hauptmann.

»Ruhm und Ehre für Ar«, sagte einer der anderen beiden Wächter, die bis jetzt geschwiegen hatten.

Diese Meinung teilten wohl alle Anwesenden, einmal abgesehen von dem Hauptmann, mir und vermutlich Marcus.

»Durchsucht den Laden«, befahl der Offizier.

Turus und zwei seiner Kameraden begaben sich in den hinteren Teil der Räumlichkeiten, Banius stieg die Leiter zum ersten Stockwerk hinauf.

»Es sind zu viele Vorfälle dieser Art geschehen«, murmelte der Hauptmann und blickte sich um.

»Hauptmann?« wandte ich mich an ihn.

»Ja«, sagte er. »Mehr, als die Männer wissen.«

Aus dem Hinterzimmer ertönte der Schrei eines Mädchens.

Der Ladenbesitzer stöhnte auf.

»Hauptmann!« rief ein Wächter.

Der Hauptmann ging in das Hinterzimmer. Der Kaufmann, Marcus und ich schlössen sich ihm an.

Im Hinterzimmer standen Massen von tönernem Geschirr, alle möglichen Arten von Gefäßen und Bechern, hohe Stapel flacher Schalen. Die Schläger, die den Laden überfallen hatten, waren nicht bis hierher gekommen. Außerdem hatte es den Anschein, als sei der Kaufmann doch nicht ganz so arm, wie er einen wohl glauben machen wollte.

»Sieh her, Hauptmann«, sagte Turus und hob den Deckel einer schmalen Kiste hoch. Darin kauerte ein junges Mädchen, das erschrocken über die rechte Schulter blickte. Ihr Schleier hatte sich verschoben, und zwar so, daß man ihren Mund sehen konnte.

»Bedecke dich, unzüchtiges Mädchen!« schalt der Ladenbesitzer. Sofort zog sie den Schleier zurück. »Das ist meine Tochter«, sagte er. Sie war kaum älter als sechzehn oder siebzehn Jahre.

»Hältst du sie immer in der Kiste?« fragte der Hauptmann wütend. Sklavinnen werden natürlich in gut belüfteten Kisten gehalten, aber soweit wir wußten, war dieses Mädchen frei. Offensichtlich war die Kiste nicht verschlossen gewesen, außerdem trug sie Kleidung.

»Natürlich nicht«, erwiderte der Kaufmann ängstlich. »Aber als die Schläger in den Laden kamen, war sie gerade hinten, und ich befahl ihr, sich in der Kiste zu verstecken.«

»Schläger?« fragte der Offizier.

»Ja, Hauptmann.«

»Aber als die Gefahr vorbei war, hast du sie nicht wieder dort herausgeholt«, bemerkte der Offizier.

»Ich habe es vergessen.«

»Natürlich«, sagte der Offizier spöttisch.

Der Kaufmann schwieg.

»Du hast uns gefürchtet, deine Verteidiger, deine Nachbarn und Verbündeten.«

»Verzeih mir, Hauptmann«, sagte der Kaufmann, »aber da sind die ganzen Abgaben.«

Der Offizier blickte ihn finster an. »Und hast du deine Tochter deswegen vor der Obrigkeit versteckt?«

»Natürlich nicht, Hauptmann«, sagte der Kaufmann. »Ich bin ein gesetzestreuer Bürger. Sie ist registriert.«

Der Offizier schnaubte verächtlich.

»Oben ist nichts«, sagte Banius, der Wächter, der in den ersten Stock gestiegen war.

Das Mädchen machte keine Anstalten, aus der Kiste zu steigen. Ich wußte nicht, ob es daran lag, daß sie erwachsen genug war, um zu begreifen, daß man ihr es noch nicht ausdrücklich erlaubt hatte, oder ob es einen anderen Grund dafür gab.

»Tunis, Banius«, sagte der Hauptmann, »räumt vor dem Laden die Straße und schafft die Toten hinaus.«

Ich räusperte mich. »Hauptmann, darf ich vorschlagen, die Toten im Laden zu lassen, bis man sie wegbringen kann? Wenn sie auf der Straße zur Schau gestellt werden, könnte die Macht der Deltamänner zu sehr betont werden.«

»Ausgezeichnet«, sagte der Hauptmann. Er wandte sich an seine Männer. »Laßt sie dort liegen.«

Dann sah er den Kaufmann an. »Ich denke gerade über meinen Bericht nach«, begann er. »So wie es aussieht, haben ein paar anständige Leute aus Cos, verdiente Söldner, die im Dienste ihres Ubars standen, in aller Unschuld diesen Laden betreten, um Geschenke für ihre geliebten Angehörigen zu kaufen, wobei dann etwa zwanzig Angreifer auf hinterhältige Weise über sie herfielen.«

»Sie traten ein und gaben sich als Steuereintreiber aus«, sagte der Kaufmann trotzig, »um mich unter diesem Vorwand auszurauben. Unzufrieden wegen meines Unvermögens, ihre Börsen zu füllen, fingen sie an, alles zu zerstören, und dann kamen zwei Männer herein, die mir unbekannt und deren Züge hinter Halstüchern verborgen waren, und taten das, was du hier siehst.«

»Meine Version gefällt mir besser«, sagte der Hauptmann.

Der Kaufmann zuckte mit den Schultern. »Wie du willst.«

»Mir gefällt nicht, was sich hier abgespielt hat«, sagte der Hauptmann, »und ich finde dich nicht besonders hilfreich.«

»Ich werde auf jede mir mögliche Weise behilflich sein«, sagte der Kaufmann.

Der Hauptmann ging zur Wand des Hinterzimmers; plötzlich trat er voller Wut auf die gestapelten Waren ein, schleuderte Teller und Becher durch den Raum und zerbrach zahllose Artikel.

»Aufhören!« schrie der Kaufmann entsetzt.

Der Hauptmann fegte Krüge von einem Regalbrett.

Vergeblich rang der Kaufmann die Hände.

»Ich vermute«, sagte der Hauptmann, stieß einen Stapel Schalen um und zertrat einige, »daß du mit den Räubern zusammenarbeitest, daß dein Laden als Falle diente.«

»Nein!« rief der Kaufmann entsetzt. »Hätte ich mich denn selbst zu Grunde gerichtet? Aufhören! Ich bitte dich, hör auf!«

»Pfählen wäre noch zu gut für dich, du Verräter!«

»Nein«, jammerte der Kaufmann.

»Entspräche deine Geschichte der Wahrheit«, sagte der Offizier, stieß einen Stapel Suppenschalen um und dann einen Schrank, »warum wurden dann diese Waren nicht zerstört?« Er schleuderte einen Kylix gegen die Wand. In seiner zerstörerischen Wut, die vermutlich die verspätete Reaktion auf allerlei Enttäuschungen darstellte, trat er Becher durch den Raum und zerstampfte sogar Töpfe. Seine Knöchel und Beine waren blutverschmiert.

»Sie haben es nicht bis hierher geschafft«, sagte der Kaufmann, »aber du scheinst entschlossen, ihr Werk zu vollenden.«

»Hast du ein Seil oder Hämmer und Nägel?«

»Natürlich, Hauptmann.«

»Zieh sie aus!« befahl der Offizier Banius.

»Nein!« rief der Kaufmann. Sofort packten ihn Turus und ein anderer Wächter bei den Armen und hielten ihn fest.

Das Mädchen schrie entsetzt auf, als man ihr den Schleier und dann das Gewand vom Leib riß. Dann stieß man sie nackt und zitternd zurück in die Kiste.

»Nein!« schluchzte der Kaufmann und warf sich dem Offizier zu Füßen.

»Das wird dich lehren, sie registrieren zu lassen«, sagte der Hauptmann.

»Sie ist registriert«, schluchzte der Kaufmann.

»Ich habe Hämmer und Nägel gefunden«, rief einer Wächter und kam heran.

»Bitte nicht!« rief der Kaufmann.

»Gehören die freien Männer Ars dorthin?« fragte der Hauptmann. »Zu Cos’ Füßen?«

»Steh endlich auf«, sagte Banius verächtlich.

Der Kaufmann war zu keiner Bewegung mehr fähig, er konnte nur noch hilflos schluchzen.

»Nagelt die Kiste zu«, verlangte der Offizier.

»Ich sage alles, was du willst«, stieß der Kaufmann flehentlich hervor und blickte mitleiderregend zu dem Offizier hoch. »Alles! Ich mache jede Aussage, die du haben willst. Ich unterschreibe alles, alles!«

Die Hammerschläge hallten durch den Raum.

»Das ist nicht nötig«, sagte der Hauptmann. Der Kaufmann brach zusammen.

Die letzten Nägel wurden in den Deckel geschlagen.

Der Offizier ließ den Kaufmann auf dem Boden liegen und wies zwei Wächter an, die Truhe zu nehmen und ihm zu folgen. Dann verließ er den Laden, gefolgt von uns anderen, und betrat die Straße.

»Hauptmann!« sagte da Turus und zeigte auf die Außenwand des Ladens.

In die Wand war ein Delka eingeritzt.

Der Hauptmann stieß einen Wutschrei aus.

»Ich bin mir sicher, daß es bei unserer Ankunft noch nicht da war, Hauptmann«, sagte Banius.

»Nein, es war noch nicht da«, bestätigte der Offizier.

Es stimmte. Marcus und ich, die wir auf unserer Runde durch die Nachbarschaft gewesen waren, hatten den Laden nach dem Hauptmann und seinen Leuten betreten.

Ein paar Leute standen herum, aber als sie uns sahen, eilten sie davon, vielleicht aus Furcht, für das Delka verantwortlich gemacht zu werden.

Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, daß einige der Leute einen Blick in den Laden gewagt und die Toten gesehen hatten. Das war gar kein Problem gewesen, solange wir uns in dem Hinterzimmer aufgehalten hatten.

Die beiden Wächter, die die Truhe trugen, stellten sie auf der Straße ab.

»Ich fürchte, sie sind überall«, sagte der Hauptmann.

»Wer?« fragte ich.

»Die Deltabrigade.«

Ich selbst hatte vor einigen Tagen diesen Begriff in ein paar Paga-Tavernen erwähnt; ich hatte so getan, als hätte ich ihn irgendwo aufgeschnappt und wüßte nun gern, was sich dahinter verbarg. Es freute mich zu hören, daß er bereits in ganz Ar bekannt war. Auf solchen Schwingen reisen Gerüchte.

»Du glaubst, dieser nachmittägliche Angriff war das Werk dieser Deltabrigade?« fragte ich.

»Aber sicher.«

»Wer steckt dahinter?«

»Zweifellos Unzufriedene oder Abtrünnige«, sagte der Hauptmann, »Verräter sowohl an Ar wie auch an Cos.«

»Ich verstehe.«

»Ich persönlich habe den Verdacht, daß es sich um Veteranen des Feldzugs im Vosk-Delta handelt«, fuhr er fort, »oder Emporkömmlinge unzufriedener Städte wie Ar-Station.«

»Ich komme aus Ar-Station«, sagte Marcus.

»Aber du gehörst dem Hilfskorp an«, stellte der Hauptmann fest.

»Das ist richtig«, erwiderte Marcus.

»Vielleicht ist ja Marlenus zurückgekehrt«, sagte ich. Ich hielt das für ein ausgezeichnetes, verbreitenswertes Gerücht.

»Nein«, sagte der Hauptmann. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Soweit wir wissen, hat Marlenus keinen Fuß ins Delta gesetzt. Ich halte es für viel wahrscheinlicher, daß es Veteranen aus dem Delta sind, von denen es viele in der Stadt gibt, oder wie gesagt Leute aus dem Norden, aus Ar-Station.«

»Vielleicht hast du recht«, sagte ich. Der Hauptmann war ein kluger Bursche und darum wohl nicht als Kandidat für meine Bemühungen geeignet, Gerüchte in die Welt zu setzen. Sicher, selbst ein durchweg rechtschaffener Bursche, der nur selten ein Gerücht aufschnappt, weitererzählt oder ihm Gewicht verleiht, billigt es unkritisch als die Wahrheit, wenn es später irgendwann sozusagen ›Allgemeinwissen‹ wird. Sind wir nicht alle Opfer von Gerüchten, selbst was viele unserer tiefgründigsten Wahrheiten angeht? Wie viele der unzähligen ›Wahrheiten‹ haben wir uns selbst erarbeitet? Wie viele von uns können die Entfernung eines Planeten berechnen oder die Struktur eines Moleküls erklären?

»Ich werde einen Wagen schicken, der die Toten holt«, sagte der Offizier.

»Ja, Hauptmann«, sagte ich.

Er betrachtete voller Zorn das Delka an der Wand.

»Es ist bloß eine Kritzelei«, sagte ich.

»Nein«, erwiderte er, »es ist mehr. Es ist ein Widerstand gegen Cos. Und Ar!«

»Ar?« fragte ich.

»Dem heutigen Ar.«

»Aber vermutlich nicht dem alten Ar«, gab ich zu bedenken.

»Vermutlich nicht.«

»Hast du Kriegern aus Ar in der Schlacht gegenübergestanden?« fragte ich.

»Ja«, sagte er. »Und es ist ein Zeichen des alten Ars, des Ars, das ich im Krieg kennengelernt habe. Das Ar der Speere und Standarten, der Ritte und Märsche, der Tarns und Tharlarion, das imperialistische Ar, die Stadt der Ehre, des Mutes und des Stolzes. Und genau darum ist es auch so gefährlich. Es ist eine Erinnerung an das alte Ar.«

»Das wahre Ar?«

»Wenn du so willst.« Dann rief er wütend aus: »Es ist besiegt worden! Es ist tot! Es ist Vergangenheit! Wie können sie es wagen, daran zu erinnern?«

Er blickte nach rechts und nach links. Die Straße lag völlig verlassen dar. Ich bezweifelte keinen Augenblick lang, daß sich die Nachricht über die hier stattgefundenen Ereignisse überall verbreitete.

»Wie können sie es wagen, Widerstand zu leisten?«

»Sie scheinen nicht besonders zahlreich zu sein«, sagte ich.

»Aber irgendwo dort draußen sind sie.«

»Schon möglich.«

»Seit auf der Hut«, sagte er.

»Danke, Hauptmann.«

»Sie könnten überall sein.«

»Aber es ist doch sicher nur eine Handvoll Männer«, sagte ich, »ein paar Verrückte, die die wesentlichsten Grundlagen der politischen Realitäten nicht begreifen.«

»Sie sind Verr«, sagte der Hauptmann. »Aber nicht alle. Einige geben nur vor, Verrs zu sein. Das sind Sleen, die sich unter der Haut von Verrs verbergen.«

»Oder Larls«, schlug ich vor, »geduldig, unversöhnlich, gefährlich, zu jeder Handlung fähig.«

»Auch Cos hat seine Larls«, sagte der Offizier.

»Das bezweifle ich nicht.«

»Wäre es nach mir gegangen«, fuhr der Offizier fort, »hätten wir Ar erledigt. Dann hätten wir für alle Zeiten Ruhe gehabt. Es wäre nichts als Asche und Salz übriggeblieben. Selbst sein Name wäre von den Denkmälern, allen Dokumenten und sogar aus der Geschichte gestrichen worden. Es wäre so gewesen, als hätte es niemals existiert.«

»Für einen Mann, der keine mächtigen Feinde hat, ist es schwer, Größe zu erlangen«, sagte ich.

»Also brauchen Ar und Cos einander, damit jedes größer sein kann, als sie sonst wären?« fragte er.

»Vielleicht.«

»Hier ist kein Ruhm errungen worden«, sagte er da. »Wir haben diesen Sieg nicht mit Sturm und Feuer errungen, indem wir Mauern bezwangen, Tore zerschlugen und Ar Haus für Haus und Straße für Straße eroberten. Nicht wir haben Ar besiegt. Es waren seine vermeintlich eigenen Leute, die es verrieten, aus Eifersucht und der Lust an der Intrige, aus Ehrgeiz und Gier. Ideen und Lügen haben Ar besiegt. Man hat Verwirrung gestiftet, Selbstzweifel und Schuld gesät, und das alles wurde dann passenderweise mit der verlogenen Rhetorik der Moral verkleistert.

Wir brachten ihnen bei, daß Böses gut und Gutes böse ist, daß Stärke Schwäche und Schwäche Stärke bedeutet, daß Gesundheit Krankheit und Krankheit Gesundheit ist. Wir schafften es, daß sie sich selbst mißtrauten, und lehrten sie, ihre grundlegendsten Instinkte und elementarsten Einsichten zugunsten von Selbstverleugnung und Unzufriedenheit zu verwerfen, zugunsten nichtssagender Prinzipien, die wir als Waffe gegen sie verwandten, zugunsten lächerlicher Phrasen, die sie verkrüppelten und bluten ließen; so fingen wir sie in unserem Netz.

Von jenen verraten, die durch die Zerstörung und Auflösung ihrer eigenen Gemeinde zu Machtstellungen aufsteigen wollten, angetrieben von den Gutmeinenden, den Einfältigen, den Idealisten und den Narren, lieferten sie sich unserer Gnade aus, der Gnade einer anderen Gemeinschaft, die nicht so dumm oder so heruntergekommen wie die ihre war. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie starke Männer mit Freude ihre Waffen niederlegten. Ich hörte die Bürger Ars singen, als ihre Stadttore brannten, als sie ihre Mauern mit eigenen Händen niederrissen. Das ist kein ehrlicher Sieg für Cos, der auf den Mauern, vor den Toren und in den Straßen errungen wurde. Auf diesen Sieg können wir nicht stolz sein. Dieser Sieg wurde nicht mit Stahl, sondern mit Gift erkämpft.«

»Du bist ein Krieger«, sagte ich.

»Das war ich einmal«, entgegnete er. Er drehte sich um und betrachtete den Laden. »Wenn die Leichen entfernt wurden, sollte man den Laden niederbrennen.«

»Und die angrenzenden Häuser?« fragte ich.

»Ah ja, richtig«, sagte er kopfschüttelnd. »Wir müssen Zwischenfälle vermeiden. Wir müssen die Verr friedlich halten, damit sie nicht merken, daß sie gemolken und geschoren werden.«

»Du glaubst doch wohl nicht, daß der Kaufmann ein Mitglied der Deltabrigade ist.«

»Nein«, sagte er. »Das glaube ich in der Tat nicht.«

»Und die Toten?«

»Allseits bekannte Diebe«, sagte er, »eine Beleidigung für die Armbinden, die sie trugen.«

»Und wie wird dein Bericht nun aussehen?«

»Sie waren Helden, die von einer Übermacht ermordet wurden.«

»Ich verstehe.«

»Hier findet ein Spiel statt, an dem ich mich beteilige«, sagte der Hauptmann. »Ich habe keine Lust, meinen Posten zu verlieren. Verstehst du, die Krankheit Ars hat selbst seine Eroberer angesteckt. Wir müssen so tun, als würden wir die Lügen auch glauben.«

»Ich verstehe.«

»Und selbst wenn ich keinen derartigen Bericht erstatten würde, klänge die Kunde, die schließlich bis zu Myrons Zelt vordringt, zweifellos ähnlich.«

»Er ist ein guter Offizier«, sagte ich.

»Das ist richtig.« Der Hauptmann blickte wieder auf die Wand, in die das Delka, das Dreieck, eingeritzt worden war. »Wie groß«, fragte er mich, »ist die Deltabrigade deiner Meinung nach?«

»Das weiß ich nicht«, sagte ich. »Es können nicht besonders viele Männer sein.«

»Die wenigen, die es heute sind, können morgen zu einem Regiment anwachsen, und dann, wer weiß?«

»Der Kaufmann sprach nur von zwei Männern«, erinnerte ich ihn.

»Es müssen mehr gewesen sein«, erwiderte der Hauptmann, »auch wenn man es nur schwer einschätzen kann. Aber es waren bestimmt zehn oder zwölf Mann.«

»Wie kommst du darauf?«

»Die Opfer waren keine Zivilisten, keine Kaufleute, keine Töpfer oder Bäcker, es waren erfahrene Schwertkämpfer.«

»Dann wird die Deltabrigade wohl aus zehn Männern bestehen«, sagte ich.

»Ich bin sicher, daß es mehr sind.«

»Ach ja?« fragte ich.

»Diese Zeichen tauchen häufig in der Stadt auf, jeden Tag werden es mehr. Es ist ein Symbol des Widerstandes, das man an eine Wand geschmiert, in einen Pfosten geritzt oder auf eine Serviette gemalt findet.«

Das war mir neu. Davon hatte ich noch nicht viele zu Gesicht bekommen. Zwar streiften Marcus und ich für gewöhnlich während der Dunkelheit umher, unter dem Schutz unserer Armbinden, als wären wir im Dienst. Und während des Tages hatten wir unsere üblichen Pflichten wie die Bewachung von Eingängen oder Patrouillengänge an bevölkerten Orten zu erfüllen, wobei die Wahrscheinlichkeit, beim Anbringen eines Delkas gesehen zu werden, ziemlich groß war. Die Delkas, von denen er sprach, fanden sich vermutlich in den hintersten Gassen Ars.

»Man könnte das Einritzen eines Delkas doch erlauben«, schlug ich vor, »als Ventil bedeutungslosen Widerstands, als nutzloses Protestzeichen derjenigen, die zu hilflos oder schwach sind, um mehr zu tun.«

»Ich bin sicher, daß du da größtenteils recht hättest«, sagte der Hauptmann.

»Dann würde ich mir ihretwegen keine Sorgen machen.«

»Heute morgen hat man vier ermordete Soldaten gefunden«, sagte er, »abseits der Straße von Turia. Man fand auch das Delka.«

»Ich verstehe.« Davon hatte ich nichts gewußt. Allem Anschein nach hatten Marcus und ich Verbündete.

»Sollen mein Freund und ich hier Posten beziehen, bis der Wagen eintrifft?« fragte ich.

»Nein.«

»Können wir sonst etwas tun?«

Der Hauptmann blickte sich noch einmal um, dann schüttelte er den Kopf.

»Nein.« Er gab seinen Männern ein Zeichen. Sie hoben die Kiste an. Sie würden sie mitnehmen. »Ich wünsche dir alles Gute«, sagte er.

»Ich wünsche dir alles Gute«, erwiderte ich. Der Offizier und seine Wächter gingen.

»Warum willst du nicht, daß die Leichen aus dem Laden geschafft werden?« fragte Marcus, als der Offizier und seine kleine Gruppe verschwunden waren.

Ich führte ihn zur Seite.

»Es wäre doch sicherlich besser gewesen, man hätte die Leichen hinausgebracht«, sagte Marcus, »damit alle die Stärke der Deltabrigade, wie sie genannt wird, und ihre Wirksamkeit sehen können.«

»Nein, mein Freund.« Ich sprach betont leise. »Es ist besser, man erweckt den Anschein, daß Cos fürchtet, die im Laden stattgefundene Auseinandersetzung könne bekannt werden, daß Cos sich genug Sorgen macht, um sie vor der Öffentlichkeit zu verbergen.«

»Ah!« sagte Marcus.

»Außerdem brauchst du keine Angst zu haben, es könnte nicht bekannt werden. Der Laden ist mühelos einzusehen. Die Tür stand weit offen. Ich bin davon überzeugt, daß Leute hineingeblickt und gesehen haben, was dort auf dem Boden lag. Und selbst wenn es nicht so war, wird man die Leichen vermutlich sehen, wenn sie abgeholt werden. Nicht zu vergessen der Besitzer, der es weitererzählen wird.«

»Daß die Leichen nicht auf die Straße gebracht wurden, erweckt also den Anschein, daß Cos die Deltabrigade fürchtet«, sagte Marcus.

»Ja, ich glaube schon.«

»Aha.« Er dachte nach. »Es ist wie eine Partie Kaissa, nicht wahr?«

»Natürlich.«

»Ein guter Zug.«

»Vielleicht«, sagte ich. »Aber es ist schwer zu sagen, wie es weitergehen soll.«

»Mir gefallen solche Spielchen nicht.«

»Du ziehst es vor, einen Mann vor der Schwertspitze zu haben, auf offenem Feld, mittags?« fragte ich.

»Natürlich.«

Ich konnte ihn durchaus verstehen. Dieses Spielbrett hatte tausend Seiten, Oberflächen und Dimensionen; die Zahl der Figuren und ihr Wert waren unbekannt, die Regeln waren nicht klar definiert; oftmals wußte man nicht, gegen wen man spielte oder wo der Gegner stand; oftmals mußten die Züge in der Dunkelheit stattfinden, ohne die Position des Gegners mit seinen Stärken und Fähigkeiten zu kennen.

»Vielleicht teile ich sogar deine Meinung«, sagte ich nachdenklich. Doch mir waren Männer bekannt, die diese Art von Kaissa genossen, das Spiel von Politik und Männern. Mein Freund Samos aus Port Kar war einer von ihnen.

Er schüttelte den Kopf. »Dir gefallen solche Sachen.«

»Schon möglich«, erwiderte ich. »Ich bin mir nicht sicher.« Oftmals fällt es leichter, andere zu erkennen als sich selbst. Die wenigsten von uns erkennen den Fremden, der sich im Schatten verbirgt, den Fremden, der wir selbst sind.

»Ich bin ein einfacher Krieger«, sagte Marcus. »Gib mir eine Truppe, ein Schlachtfeld oder eine Stadt. Ich weiß dann vermutlich, was ich dann zu tun habe. Zeig mir den Feind, damit ich ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten kann.«

»Täuschung und Verstohlenheit sind im Arsenal des Krieges keine neuen Waffen«, entgegnete ich. »Sie sind zweifellos so alt wie eine Keule oder ein angespitzter Stock.«

Der junge Krieger warf mir einen wütenden Blick zu.

»Studiere die Feldzüge Dietrichs von Tarnburg«, riet ich ihm.

Er zuckte ärgerlich mit den Schultern.

»Er säte Silber und erntete Städte.«

Marcus dachte nach. Dann sagte er widerstrebend: »Es sind mehr Tore mit Gold als mit Stahl geöffnet worden.«

»Du tust immer so, als wärst du nicht besonders klug«, erwiderte ich belustigt. »Aber du zitierst aus den Tagebüchern.« Ich bezog mich auf die Feldtagebücher von Carl Commenius aus Argentum, die Marcus als ausgebildeter Krieger kennen mußte.

»Auch wenn ich für solche Spiele nichts übrig habe, heißt das nicht, daß ich sie nicht spielen kann.«

»Wie viele Mann sind in der Deltabrigade?« fragte ich.

Er grinste. »Zwei«, sagte er. »Wir sind die Deltabrigade.«

»Nein«, erwiderte ich. »Es gibt noch mehr.«

Er blickte mich überrascht an.

»Heute morgen fand man vier Soldaten, zweifellos Cosianer, ermordet in der Nähe der Straße von Turia auf. Man fand auch das Delka.«

Marcus schwieg.

»Wir haben Verbündete«, sagte ich. »Darüber hinaus habe ich erfahren, daß das Delka auch an anderer Stelle erschienen ist, anscheinend hauptsächlich in den ärmeren Stadtvierteln.«

»Ich mag keine unbekannten Verbündeten«, sagte er.

»Wenigstens können sie uns unter der Folter nicht verraten, genausowenig wie wir sie«, meinte ich.

»Soll ich mich deshalb besser fühlen?«

»Warum nicht?«

»Wir können keinen Einfluß auf sie nehmen.«

»Sie auch nicht auf uns.«

»Wir haben damit angefangen«, sagte der junge Krieger nachdenklich. »Aber ich weiß nicht, wo es enden wird.«

»Cos wird gezwungen, die Krallen auszufahren.«

»Und dann?« fragte er.

»Und dann wissen wir nicht, wo es enden wird.«

»Was ist mit dem Heimstein von Ar-Station?«

»Ist das deine einzige Sorge?«

Er spuckte aus. »Soweit es mich betrifft, können sie das verräterische Ar bis auf die Grundmauern niederbrennen.«

»Sie werden ihn wieder öffentlich ausstellen.«

»Ist das ein Teil deiner Partie Kaissa?«

Ich nickte.

»Du planst weit voraus.«

»Nein«, sagte ich. »Das ist ein erzwungener Zug. Ar wird keine andere Wahl bleiben.«

»Und wenn sie den Heimstein öffentlich zur Schau stellen? Was dann?«

»Ich kenne einen Burschen, der ihn für dich besorgen wird.«

»Einen Zauberer?«

Ich lächelte.

»Die Deltabrigade, du und ich?«

»Ich glaube, da gibt es noch mehr.«

»Genug, um den Zentralzylinder zu erobern?«

»Mit Sicherheit jetzt noch nicht.«

Marcus betrachtet das Delka, das in die Häuserwand eingeritzt worden war.

»Ich habe Angst«, sagte er dann.

»Ich auch«, erwiderte ich.

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