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Marcus sagte: »Ich kann mich an eine Zeit erinnern, als die Männer Ars, die mir im Norden begegneten, stolz und erhobenen Hauptes daherschritten.«

Mit Ausnahme von ein paar idealistischen Jugendlichen, die stolz auf den Fall der Stadt zu sein schienen, herrschte in den Straßen eine gedämpfte Stimmung.

»Ja, das stimmt.«

Seit Myrons Einzug in die Stadt waren einige Monate vergangen. Die systematische Plünderung war fortgesetzt worden, ebenso wie die Zerstörung der Stadtmauer.

Marcus und ich gingen die Straße des Zentralzylinders entlang.

»Der schwerste Schlag war zweifellos der Transport des Heimsteins nach Telnus«, erklärte er.

Nach langem Zögern hatte man es auf den städtischen Anschlagtafeln sogar zugeben müssen. Anfangs war das Gerücht aufgekommen, während des Aussaatfestes sei eine Kopie des Heimsteins herumgetragen worden, was aber dementiert worden war. Als aber später die Bürgerschaftszeremonie – in der der Heimstein eine wichtige Rolle spielt – verschoben wurde, war es zu wilden Spekulationen gekommen. Zuerst hatten ein paar unbedeutende Eingeweihte der kleineren Tempel außerhalb der Stadt danach verlangt, die Zeremonie durchzuführen oder – als das nicht geschah – den Heimstein der Öffentlichkeit vorzuführen. Während die Gerüchte durch die Stadt schwirrten, schwiegen die weltlichen und geistlichen Autoritäten. Angesichts der deutlich spürbaren Unruhe auf den Straßen und der möglichen Gefahr von Aufständen und Demonstrationen sandte der Zentralzylinder eine Botschaft, die gemeinsam von Talena, der Ubara von Ar, Seremides, dem Hauptmann der Wache, Antonius, dem Vorsitzenden des Hohen Rates, Tulbinius, dem Ersten Erleuchteten, und Myron, dem Polemarkos von Temos, verkündet wurde. Als alles gesagt worden war, hatten die Bürger erfahren, daß sich Ar freuen konnte, da Lurius von Jad in seiner Weisheit und Großzügigkeit in diesen schweren Zeiten auf Bitten der Regierung von Ar und im Interesse der Bürger und aller Räte erlaubt habe, den Heimstein nach Telnus in Sicherheit zu bringen. Und so nahm man für die Bürgerschaftszeremonie einen Ersatzstein. Einige Jugendliche weigerten sich daraufhin, an dieser und anderen Zeremonien teilzunehmen und den Ersatzstein zu berühren, während sie in nordwestlicher Richtung – nach Cos – auf ihren Heimstein gerichtet stehend die Eide und Versprechen leisteten.

Marcus und ich trugen die Armbinden der Hilfswächter und salutierten einem cosischen Offizier, der uns entgegenkam.

»Tarsk«, murmelte Marcus.

»Der ist sicher gar kein übler Kerl«, sagte ich.

»Manchmal bedaure ich, daß du ein guter Freund bist.«

»Warum denn das?«

»Weil ich dich zu keinem Zweikampf auf Leben und Tod herausfordern kann.«

»Es ist schon vorgekommen, daß Männer ihre besten Freunde erschlagen haben.«

»Das ist wahr«, sagte er, schon fröhlicher gestimmt.

»Nur weil jemand dein Todfeind ist, muß das nicht heißen, daß man ihn nicht mag.«

»Vermutlich nicht.«

»Natürlich nicht.«

Wir gingen weiter.

»Du hast einfach nur schlechte Laune«, sagte ich. Das war bei Marcus nichts Ungewöhnliches.

»Schon möglich.«

»Du warst gestern abend aus«, sagte ich.

»Ja.«

»Bist du durch die Tavernen gezogen?«

»Nein«, sagte er. »Ich bin einfach nur so herumgelaufen.«

»Mittlerweile ist es gefährlich, nachts durch die Straßen Ars zu streifen.«

»Für wen?«

»Nun, ich schätze, für jeden.«

»Vielleicht.«

»Wo bist du spazierengegangen?«

Er sah starr geradeaus. »Im Anbarischen Bezirk.«

»Das ist ein gefährlicher Bezirk«, entgegnete ich. »Das war schon früher so.« Selbst vor dem Fall der Stadt waren die Bezirke Anbar und Trevelyan zwei der gefährlichsten Gegenden der Stadt gewesen.

Marcus sah mich überrascht an.

Ich nickte. »Ja. Dort gibt es viele Straßenräuber.«

»Jetzt sind es zwei weniger«, sagte Marcus.

»Warum tust du so etwas?« fragte ich ungehalten.

»Mein Schwert war durstig.«

»Das macht mich wütend.«

»Ich habe bei dem Händel einen Vorteil erzielt«, sagte er.

»Du hast die Straßenräuber beraubt?«

»Ihre Leichen.«

»Wir brauchen kein Geld.« Tatsächlich hatten wir noch die meisten der hundert Goldstücke, die wir letzten Sommer in Brundisium in unseren Besitz gebracht hatten.

»Nun, ich tat es eigentlich nicht wegen des Geldes«, sagte Marcus.

»Ich verstehe.«

»Nicht alle Werte sind materieller Natur«, erinnerte mich Marcus.

»Du solltest dein Leben nicht auf eine solche Weise aufs Spiel setzen«, sagte ich noch immer ärgerlich.

»Was soll ich sonst tun?«

»Ich bin sicher, dir fiele etwas ein, wenn du dich ernsthaft bemühen würdest.«

»Jetzt scheinst du es zu sein, der hier die schlechte Laune hat.«

»Wenn du dich im Anbarischen Bezirk niederstechen läßt, wird das dem Heimstein von Ar-Station wenig nutzen«, sagte ich.

»Du hast mir erzählt, der Heimstein von Ar-Station werde wieder öffentlich ausgestellt!«

»Ich bin auch davon überzeugt, daß er wieder ausgestellt wird.«

»Das hast du schon vor Monaten behauptet.«

»Hab Geduld.«

»Ich weiß nicht einmal, wo er aufbewahrt wird«, sagte der junge Krieger. »Vielleicht ist er schon längst in Telnus.«

»Das glaube ich nicht.«

»Wenigstens wissen die Bürger von Ar, wo sich ihr Heimstein befindet.«

»Sei nicht so mürrisch«, sagte ich.

»Glaubst du nicht, daß er in Telnus ist?«

»Nein«, erwiderte ich. »Er ist bestimmt noch in Ar.«

»Warum?«

»Ich habe einen ausgezeichneten Grund für diese Annahme.«

»Wärst du so nett, ihn mir mitzuteilen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Du bist zu anständig, um ihn ernstzunehmen.«

»Danke«, sagte er, um dann hinzuzufügen: »Glaube ich zumindest.«

Wir blieben vor einem Brunnen stehen, um etwas zu trinken.

»Hör mal«, sagte ich.

»Ja«, erwiderte er.

Wir drehten uns um.

Etwa zwanzig nackte Männer kamen näher; sie trugen kettenverbundene schwere Eisenkragen. Man hatte ihnen die Hände auf die Rücken gefesselt, und sie wurden durch Lanzenstöße der Begleitwächter angetrieben. Hinter der Reihe tanzte ein Flötenmädchen und spielte ihr Instrument. Ein paar Leute blieben stehen, um zuzusehen.

»Politische Gefangene«, sagte Marcus.

Das konnte man daran erkennen, daß man die Nasen und Ohren der Gefangenen gelb angemalt hatte, damit sie lächerlich aussahen.

»Bemerkenswert, daß man sie in aller Öffentlichkeit die Straße des Zentralzylinders entlangtreibt«, sagte Marcus.

»Damit war doch zu rechnen«, entgegnete ich. »Hätte man sie verstohlen aus der Stadt gebracht, wäre es zu vielen Fragen gekommen, zu einem Aufschrei. Es hätte so ausgesehen, als wolle der Zentralzylinder ihr Schicksal verschleiern, als habe man Angst, es öffentlich zu machen, als könne man es rechtlich nicht verteidigen. Auf diese Weise geschieht es jedoch in aller Öffentlichkeit, ohne besondere Aufmerksamkeit, aber auch ohne besondere Heimlichkeit. Damit verkündet man, daß es eine gerechte Sache ist, ganz normal, ja sogar banal.«

»Die im Zentralzylinder sind schlau«, meinte Marcus.

»Sie könnten sich verschätzt haben.«

»Wohin bringt man sie eigentlich?«

»Vermutlich in die Steinbrüche von Tyros.«

»Es muß viele Leute in Ar geben, die mit der Ubara eine Rechnung zu begleichen haben«, überlegte Marcus laut.

»Ich vermute, daß diese Verhaftungen eher das Werk von Seremides und Antonius vom Hohen Rat sind.«

»Du verteidigst Talena?« fragte Marcus.

»Ich mache sie nicht für Dinge verantwortlich, an denen sie keine Schuld trägt«, sagte ich.

»Aber ihre Komplizenschaft ist doch eindeutig«, sagte er.

Ich schwieg.

»Sie gehört zum Kreis der Erzverschwörer, die für den Sturz von Ar verantwortlich sind.«

»Schon möglich«, mußte ich zugestehen.

»Was bedeutet sie dir?«

»Nichts«, sagte ich.

Die Männer mit ihren Wächtern marschierten an uns vorbei.

»Einige von ihnen bekleideten bestimmt hohe Stellungen in der Stadt«, meinte Marcus.

»Zweifellos.«

»Einige tragen sogar ein Schild um den Hals.«

»Ich bin mit der hiesigen Politik nicht vertraut«, entgegnete ich, »daher kenne ich die Namen nicht.«

»Den Namen des letzten in der Reihe kenne ich«, sagte Marcus. »Mirus Torus.«

Auf dem an seinem Hals befestigten Schild stand nicht nur sein Name, sondern auch das Wort Verräter ‹.

»Wer ist er?« fragte ich.

»Ich nehme an, daß er der Mirus Torus ist, der vor Gnieus Lelius der Erste Vorsitzende des Hohen Rates war und später unter Lelius dasselbe Amt innehielt.«

»Ich glaube, ich habe von ihm gehört«, sagte ich.

»Er stand einige Monate unter Hausarrest.«

»Der Zentralzylinder scheint seiner Macht mittlerweile sehr sicher zu sein«, sagte ich.

»Zweifellos hat ihn sein Erfolg bei der Geschichte mit dem Heimstein bestärkt.«

»Zweifellos.«

»Du scheinst ungehalten zu sein.«

»Es ist nichts«, wehrte ich ab.

Wir sahen den Gefangenen nach. Noch lange Zeit hörten wir das Spiel des Flötenmädchens.

»Was ist?« fragte Marcus.

»Nichts scheint Ar aufrütteln zu können«, stieß ich hervor.

»Vergiß Ar«, sagte Marcus. »Die Männer Ars sind zu rückgratlosen Urts geworden.«

»Diese Männer«, erwiderte ich, »gehörten einst zu den stärksten und prächtigsten der ganzen Welt.«

»Ar ist im Delta gestorben.«

»Vielleicht.« In der nüchternen Bemerkung des jungen Kriegers schien viel Wahres zu stecken.

»Was bedeutet dir Ar?« fragte er.

Ich machte eine abweisende Handbewegung. »Nichts.«

»Cos plündert ungestraft«, sagte Marcus. »Es reißt sogar den Marmor von den Wänden und verschleiert seinen Raub durch absurde Rhetorik. Es ist so, als würde ein Sleen vortäuschen, der Freund des Verrs zu sein. Und was tun die Männer von Ar? Sie lächeln, sie beeilen sich, ihre Reichtümer wegzugeben, sie schlagen sich an die Brust, beklagen ihre Wertlosigkeit. Sie können die, die sie berauben, nicht hoch genug loben, sie eilen in ihre Tempel, um Opfer darzubringen. Sie verbrennen ihre Stadttore, sie reißen ihre Mauer nieder, sie verbergen sich nachts in ihren Häusern. Sie jubeln, während die Frauen, die ihnen gehören könnten, statt dessen zu den cosischen Häfen gebracht werden. Sorge dich nicht um sie, mein Freund. Sie sind es nicht wert.«

Ich blickte Marcus an.

Er lächelte. »Du bist wütend«, sagte er.

»He da! Zur Seite, ihr blöden Arer!« rief ein Söldner, der wie sein Kamerad eine blaue Armbinde trug.

Wir traten zur Seite, während die beiden vorbeistolzierten.

»Ich bin kein Arer«, sagte ich zu Marcus.

»Ich auch nicht.«

»Also können sie wohl nicht uns gemeint haben.«

Marcus nickte. »Wir könnten sie töten«, schlug er vor.

»Am hellichten Tag?« fragte ich.

»Vielleicht sind es ja nette Kerle.«

»Vielleicht.«

»Andererseits kann man sich nicht immer von solchen Überlegungen abhalten lassen«, fuhr Marcus fort.

»Das ist wahr.«

»Sie glauben, ihnen gehöre die Straße.«

»Ein Eindruck, den sie zweifellos von den Arern gewonnen haben.«

Marcus schnaubte verächtlich. »Da hast du bestimmt recht.«

»Es gibt nichts, das Ar aufrütteln könnte«, sagte ich.

»Nein.«

»Wäre Marlenus noch am Leben und würde zurückkehren«, sagte ich, »dann könnte Ar wütend werden und so rasch auf die Füße kommen, wie ein aufgeweckter Larl.«

»Wäre Marlenus noch am Leben, wäre er schon vor langer Zeit nach Ar zurückgekehrt«, sagte Marcus.

»Dann gibt es keine Hoffnung mehr.«

»Nein«, sagte Marcus. »Es gibt keine Hoffnung mehr.«

Ich blickte ihn an.

»Ar ist vergangenen Sommer im Delta gestorben.«

Darauf gab ich ihm keine Antwort. Ich fürchtete, daß er recht hatte.

Wir gingen schweigend weiter auf der Straße des Zentralzylinders. Schließlich sagte Marcus: »Du bist noch immer wütend.«

»Es ist, als sähe man einen Larl, den man durch eine List dazu bringt, sich selbst zu vernichten«, erwiderte ich. »Als hätte man ihm gesagt, nur ein kranker, demütiger, geduckter, von Schuld zerfressener Larl sei ein guter Larl. Es ist, als würden Vulos Gesetze für Tarns beschließen, an deren Ende der Tod aller Tarns oder ihre Verwandlung in etwas Neues, Angepaßtes, Krankes steht, das dann als der wahre Tarn gefeiert wird.«

»Ich kann dir beim besten Willen nicht folgen«, sagte Marcus.

»Das liegt daran, daß du ein Goreaner bist.«

Er zuckte mit den Schultern. »Schon möglich.«

»Aber du siehst doch, daß solche Dinge in Ar geschehen.«

Er nickte.

»Der Larl stellt einen erbärmlichen Verr dar«, sagte ich. »Der Tarn stellt einen schrecklichen Vulo dar. Kannst du dir nicht vorstellen, wie er sich zusammenkrümmt und so tut, als wäre er klein und schwach? Ist dieses Bild nicht abscheulich? Warum rast er nicht zwischen den Klippen umher, schleudert dem Himmel laut krächzend seine Herausforderung entgegen?«

Marcus starrte mich verblüfft an.

»Das Tier, das dazu geboren wurde, von Fleisch zu leben, kann nicht überleben, wenn es wie ein Urt an Blättern nagt.«

»Es ist wirklich schwer, dir zu folgen«, sagte Marcus.

»Es ist lange her, daß ich das Brüllen des Larls oder den Ruf des Tarns gehört habe«, erklärte ich.

»In Ar gibt es eben keine Larls und auch keine Tarns.«

»Ich weiß nicht, ob das wirklich den Tatsachen entspricht«, erwiderte ich nachdenklich.

»Hier gibt es nur noch Frauen«, sagte Marcus, »und Männer, die sich wie Frauen verhalten.«

Ich schlug mir mit der Faust in die Hand.

»Was ist los?« fragte Marcus.

»Ar muß wachgerüttelt werden!« rief ich.

»Das ist unmöglich.«

»Ar fehlt die Führung, der Wille zum Widerstand!«

»Dann führ doch du Ar«, schlug Marcus vor.

»Das ist nicht möglich«, erwiderte ich. »Ich komme nicht einmal aus Ar.«

Marcus zuckte mit den Schultern.

»Es muß jemanden anderen geben!« sagte ich.

»Marlenus ist tot.«

»Es muß jemanden anderen geben!« Ich spürte, wie mir Tränen die Wangen hinunterliefen.

»Es gibt keinen anderen.«

»Es muß einen Weg geben!«

Marcus schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Doch, es muß!«

»Zerbrich dir doch nicht den Kopf deswegen«, sagte Marcus. »Ar ist tot. Es ist im Delta gestorben.«

»Im Delta?« wiederholte ich.

»Im Delta«, sagte Marcus. »Wir waren dabei, schon vergessen?«

»Das ist es möglicherweise«, flüsterte ich. »Das Delta.«

Marcus sah mich seltsam an. Möglicherweise hegte er den Verdacht, ich hätte den Verstand verloren. Und vielleicht stimmte das sogar.

»Das könnte der Schlüssel sein«, fuhr ich aufgeregt fort. »Das Delta!«

»Ich verstehe nicht.«

»Bist du dabei?« fragte ich ihn.

»Hat das etwas mit der Rückeroberung des Heimsteins von Ar-Station zu tun?«

»O ja!« erwiderte ich. »Und ob.«

»Dann bin ich dabei.«

»Ist dein Schwert noch immer durstig?«

»Es ist ganz ausgetrocknet«, grinste er.

»Gut!«

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