7

Wir wurden ständig angerempelt.

»Hörst du die Stäbe?« fragte Marcus.

»Sie verkünden die Freude«, antwortete ich.

Es war nun zwei Tage her, daß wir die ersten Bekanntmachungen der versöhnlichen Botschaft von Lurius von Jad an den Anschlagtafeln gelesen hatten.

»Heil Ar! Heil Cos!« riefen die Menschen um uns herum. Es war schwierig, auf den Füßen zu bleiben.

»Kommen sie endlich?« rief ein Mann.

»Ja«, antwortete ein anderer und schob sich auf die Straße.

»Zurück«, sagte ein Stadtwächter. »Zurück.«

Wir hatten diesen günstigen Platz gewählt, am Morgen in aller Frühe, zur zweiten Ahn. Trotzdem hatten sich hier bereits viele Menschen versammelt, einige mit Decken, um auf dem Steinboden schlafen zu können. Es handelte sich um einen offenen Platz in der Nähe des Zentralzylinders, der sich inmitten eines kreisrunden Parks genau im Mittelpunkt der Straße erhob, dessen freies Gelände sich gut verteidigen ließ.

»Glück und Segen für Ar! Glück und Segen für Cos!« rief ein Zuschauer.

Viele Leute hielten kleine cosische Fähnchen in den Händen, mit denen sie winken konnten. Auch das Banner von Ar war oft zu sehen.

Vorgestern nacht, nachdem wir die Bekanntmachung gelesen hatten, waren die Tore von Ar ausgehängt und verbrannt worden. Einige Bürger hatten versucht, sich dagegenzustellen, waren aber mit Schlagstöcken und Klingen von ihrem Vorhaben abgebracht worden. Es hatte sogar vereinzelt Meutereien kleiner Einheiten von Stadtwächtern gegeben, die entschlossen gewesen waren, ihre Posten zu halten, aber sie waren beendet worden, als man erfuhr, daß der Befehl vom Zentralzylinder gekommen war. Zwei der bewaffneten Widerstandszellen, die weder vernünftigen Argumenten noch Befehlen zugänglich waren, wurden von den Taurentianern blutig ausgelöscht. Anscheinend war Gnieus Lelius gestürzt worden, und Seremides hatte – mit Hilfe einer Militärrevolte, die er selbst als bedauerlich bezeichnete – für eine Übergangszeit die Macht an sich gerissen, eine Macht, die er so lange behalten wollte, bis der Hohe Rat, jetzt die höchste zivile Autorität, einen neuen Führer wählen konnte, sei es ein Administrator, ein Regent, ein Ubar oder eine Ubara.

»Ich hätte niemals gedacht, einmal die Tore Ars brennen zu sehen«, sagte Marcus, »noch dazu von den eigenen Bürgern angezündet.«

»Nein«, sagte ich.

Man hatte die Eisenplatten abgerissen, um sie einzuschmelzen. Dann waren die riesigen Holzbohlen zerschlagen, zu gigantischen Scheiterhaufen aufgetürmt und verbrannt worden. Ich glaube, man konnte ihr Licht noch in einer Entfernung von fünfzig Pasang sehen. Marcus, Phoebe und ich hatten eine Zeitlang zugesehen, wie das große Stadttor brannte. Viele Bürger der Stadt waren herausgekommen, um ebenfalls zuzusehen, manche voller Trauer, andere ungläubig oder wie betäubt. Wir konnten ihre Gesichter in dem Licht sehen. Viele hatten geweint. Einige klagten lautstark, rauften sich das Haar und rissen an ihrer Kleidung. Noch hundert Schritte von den Flammen entfernt war es unerträglich heiß gewesen, so groß war die entstehende Hitze gewesen. Ich war oft an dem Tor vorbeigegangen.

In der Ferne ertönte Jubel.

»Die Cosianer haben die Stadt betreten«, sagte Marcus.

»Endlich sind wir frei!« rief ein Zuschauer.

»Wir sind befreit worden!« jubelte ein anderer und schwenkte ein cosisches Fähnchen.

Die Stadt war mit Schleifen und Girlanden geschmückt. Inmitten des Lärms der Alarmstäbe und des Jubels der Menge fiel es mir schwer, Marcus zu verstehen.

»Gab es je einen Tag in Ar, an dem es Grund für ein solches Fest gab?« fragte mich ein Mann.

»Kann ich nicht sagen«, gab ich zur Antwort. Schließlich stammte ich nicht aus Ar.

In der Ferne ertönten Fanfaren und Trommelschlag.

»Glaubst du, Cos wird die Stadt jetzt brandschatzen und plündern?« fragte Marcus.

Ich schüttelte den Kopf.

»Sie sind innerhalb der Stadtmauern.«

»Ausgesuchte, disziplinierte Einheiten, vermutlich überwiegend reguläre Truppen.«

»Du rechnest nicht damit, daß sie Ar niederbrennen?«

»Nein«, sagte ich. »Ar ist eine prächtige Beute, in seinem jetzigen Zustand sicherlich wertvoller als ein Aschehaufen.«

»Werden sie die Bevölkerung nicht abschlachten?«

»Das bezweifle ich«, sagte ich. »Hier gibt es ein großes Reservoir an Fertigkeiten und Talenten. Auch das gehört zur Beute.«

»Aber sie werden doch wohl die Stadt plündern!«

»Vielleicht im Laufe der Zeit.«

»Was willst du damit sagen?«

»Studiere die Feldzüge Dietrichs von Tarnburg«, erwiderte ich.

Marcus blickte mich an.

»Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß Myron, der Polemarkos von Cos, oder seine Berater das getan haben.«

»Du sprichst in Rätseln«, sagte Marcus.

»Ich kann sie sehen!« rief ein Mann.

»Seht doch, dort, am Zentralzylinder!« rief ein anderer Zuschauer.

Am Rand des kreisrunden Parks, in dem sich der Zentralzylinder erhob, war eine Plattform errichtet worden, vermutlich damit die zahllosen Bürger, die sich in den Straßen versammelt hatten, die zu erwartenden Geschehnisse verfolgen konnten. Wir standen nur wenige Meter von der Plattform entfernt. Sie konnte von zwei Seiten bestiegen werden; eine Rampe befand sich an der Rückseite, die auf den Zentralzylinder hinaussah, die andere vorn, zur Straße des Zentralzylinders hin. Phoebe klammerte sich an Marcus fest, damit sie in der Menge nicht von uns getrennt wurde.

»Dort, am Fuß der Plattform!«

»Dieser Sleen! Der Schuft, der Tyrann!«

Haßerfüllte Rufe waren zu hören. Kinder zerrten eine traurige Gestalt an einem Dutzend Ketten heran, die an dem schweren Eisenkragen um ihren Hals befestigt waren. Der Mann stolperte, da seine Füße aneinandergefesselt waren; der Oberkörper war fast völlig unter Ketten verborgen. Es war Gnieus Lelius. Fünf Kinder mit Peitschen schwirrten wie Stechfliegen um ihn herum. Gelegentlich erhielten sie die stumme Erlaubnis der aufmerksam wachenden Taurentianer, auf die sie begierig warteten, dann stürmten sie vor und schlugen auf ihn ein. Das entlockte den Zuschauern fröhliches Gelächter. Gnieus Lelius war barfuß. Darüber hinaus hatte man ihn in Lumpen gesteckt, Lumpen von der Art, die Narren auf der Bühne trugen. Meiner Meinung nach war das nicht einmal das schlechteste. So hatte Gnieus Lelius immerhin die Hoffnung, dem Tod auf dem Pfahl auf den Mauern von Ar zu entgehen. Vielleicht schickte man ihn zum Palast von Telnus, damit er dort als Hofnarr in einem Käfig Lurius und seinen Hof erheiterte.

»Sleen! Tyrann!«

Ein paar Männer stürmten los und bewarfen ihn mit Ostraka. »Hier, nimm deine Ostraka, Tyrann!« riefen sie. Gnieus zuckte zusammen, als ihn einige der Geschosse trafen. Es waren dieselben Ostraka, die noch vor ein paar Tagen ihr Gewicht in Gold wert gewesen waren, Passiermarken, die das Aufenthaltsrecht in der Stadt garantierten. Nach dem Verbrennen der Tore mußte man sich natürlich nicht länger um Dinge wie Ostraka und Passiermarken kümmern.

»Wir sind jetzt frei!« brüllte ein Mann und schleuderte sein Ostrakon auf Gnieus Lelius.

Bürger stürmten herbei, um sich auf den einstigen Regenten zu stürzen, aber die Taurentianer trieben sie mit gezielten Stößen ihrer Speerschäfte zurück.

Sie zerrten Gnieus Lelius über die Vorderrampe auf die Plattform. Viele Zuschauer, die ihn zuvor nicht hatten sehen können, brüllten nun ihren Haß heraus. Oben angekommen, zwang man ihn auf die Knie, die Kinder befestigten die Ketten an vorher kreisförmig im Boden versenkten Halteringen und verschwanden dann. Die fünf Jungen mit den Peitschen erhielten zum Vergnügen der Menge ein letztes Mal Gelegenheit, den einstigen Regenten zu schlagen, bevor man auch sie wegschickte.

Die Trommeln und Fanfaren waren schon näher gekommen.

»Seht doch, dort!« rief ein Zuschauer. Er zeigte in Richtung Zentralzylinder, aus dem vor wenigen Augenblicken Gnieus Lelius und seine Eskorte gekommen waren.

»Seremides und Mitglieder des Hohen Rates!«

Seremides, den ich schon lange nicht mehr aus solcher Nähe gesehen hatte – das war ebenfalls in Ar gewesen, damals in den Tagen von Minus Tentius Hinrabius und Cernus –, bestieg mit anderen Männern die Plattform.

»Er trägt kein Büßergewand!« rief ein Zuschauer freudig.

»Nein, er ist in Uniform!«

»Und seht doch, er trägt sein Schwert!«

»Seremides darf sein Schwert behalten!« rief ein Mann denjenigen zu, die ein Stück weit von der Plattform entfernt standen.

Diese Nachricht wurde mit viel Jubel begrüßt.

Dann trat der Hohe Rat zur Seite, während sich Seremides zur hinteren Rampe begab.

Die Alarmstäbe verstummten, zuerst die des Zentralzylinders, dann folgten die in seiner Nähe und schließlich die in der ganzen Stadt. Das geschah jedoch so schnell, daß es garantiert nicht die Idee der Trommler gewesen, sondern durch ein Signal vom Zentralzylinder ausgelöst worden war, ein Signal, das mit Hilfe von Flaggen weitergeleitet wurde.

Die Zuschauer blickten einander gespannt an.

Jetzt, nach dem Schweigen der Alarmstäbe, hörte ich auch nicht länger die Fanfaren und Trommeln der anrückenden Cosianer. Diese Instrumente waren ebenfalls verstummt. Ich hegte jedoch nicht den geringsten Zweifel, daß sie noch immer auf der Straße des Zentralzylinders näher kamen.

Seremides streckte die Hand aus und geleitete eine in blendendes Weiß gekleidete und verschleierte Gestalt auf die Plattform. Es war eine anmutige Gestalt, die mit gesenktem Kopf und den Fingern der linken Hand in Seremides’ huldvollem Griff nach vorn trat.

Ein Aufstöhnen ging durch die Menge.

»Es ist Talena«, schluchzte ein Mann.

Trotz des weißen Schleiers bezweifelte ich keinen Augenblick lang, daß es sich tatsächlich um Talena handelte, der einstigen Tochter von Marlenus von Ar, des Ubars aller Ubars.

»Sie trägt ja keine Handschuhe!«

»Sie ist barfuß!«

»Sie trägt das Gewand einer Büßerin, einer Bittstellerin!«

»Talena, nein!«

»Das lassen wir nicht zu!«

»Die Menge wird unruhig«, bemerkte Marcus.

»Das ist Ar nicht wert!«

»Da lassen wir es eher niederbrennen!«

Ein paar Männer stemmten sich mit dem Ruf »Laßt uns kämpfen!« gegen die Taurentianer, die mit ihren ausgestreckten Speeren Mühe hatten, sie aufzuhalten.

»Gut«, sagte Marcus. »Es wird einen Aufstand geben.«

»Dann sollten wir uns zurückziehen«, meinte ich.

»Da habe ich nun Gelegenheit, einigen dieser Burschen das Messer in den Leib zu stoßen«, sagte er.

»Phoebe könnte verletzt werden.«

»Sie ist nur eine Sklavin«, entgegnete er, aber mir entging nicht, daß er sie in die Arme nahm, dazu bereit, sich einen Weg rückwärts durch die Menge zu bahnen.

Ich legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Warte.«

Auf der Plattform streckte Talena die Arme aus und bat mit fast verzweifelten Bewegungen um Ruhe.

Ich mußte lächeln.

Dieses Benehmen schien kaum zu der Würde einer vermeintlichen Ubartochter zu passen, ganz zu schweigen zu ihrem Gebaren als Büßerin.

»Sie will, daß wir ruhig sind!« rief ein Mann.

»Sie bittet uns, ruhig zu bleiben!« rief ein anderer. »Kommt zurück.«

»Edle Talena!« schluchzte jemand in unserer Nähe.

Die Menge geriet in Bewegung. Einige der Männer, die sich bis zur Straße durchgekämpft hatten, kehrten an den Straßenrand zurück.

Jetzt, da die Zuschauer in zwei Lager gespalten und verwirrt waren, schienen sie auch lenkbarer zu sein, und Talena ließ den Kopf hängen, hob die Arme und machte eine demütig und zugleich erhaben wirkende Geste, mit der sie die Menge weiter zurückdrängte.

»Sie will unseren Beistand nicht«, sagte ein Mann.

»Sie hat Angst, wir könnten ihretwegen leiden«, stöhnte ein anderer.

Es war wirklich knapp gewesen. Hätte Talena nicht plötzlich ihren Willen auf so unmißverständliche, fast schon verzweifelte Weise kundgetan, hätte es auf der Straße und der Plattform nur so von wütenden Bürgern gewimmelt, die zu ihrer Rettung herbeigeeilt wären. Die Handvoll Taurentianer wäre beiseite gefegt worden wie Blätter von einem Wirbelsturm.

»Laß das nicht zu, Seremides!« rief ein Mann.

»Beschütze Talena!«

Jetzt nahm Seremides ganz ruhig die Hände in die Höhe, hob und senkte sie mehrmals langsam.

Ein drohendes, unbehagliches Murmeln durchlief die Menge.

»Talena will sich für uns opfern, für die Stadt und den Heimstein!«

»Das dürfen wir nicht zulassen!«

»Wir werden es nicht zulassen! Laßt uns handeln.«

Wieder ging ein Ruck durch die Menge. Männer drängten auf die Plattform zu. Die Taurentianer gingen in Stellung und stemmten sich mit den Speerschäften gegen die Bürger.

Seremides bat noch immer um Geduld.

Wieder kehrte Ruhe ein, aber es herrschte noch immer eine gespannte Atmosphäre. Es würde eines geringen Anstoßes bedürfen, damit es zu Gewalttätigkeiten käme. Im Augenblick war noch alles ruhig, aber unter der Oberfläche brodelte es. Solche Ereignisse unterliegen stets einem hochsensiblen Gleichgewicht; manchmal genügt schon der geringste Anlaß, ein scheinbar nichtssagender Vorfall, der eine plötzliche, massive Reaktion auslöst.

Seremides hielt Talena wieder die Hand hin. Dann führte er sie zur Vorderrampe. Als sie sich Gnieus Lelius näherten, der neben der Rampe in seinen Ketten kniete, schien Talena zu zögern, voller Abscheu vor ihm zurückzuschrecken. Sie streckte sogar die Hand aus, mit abgewinkelter Handfläche, als wolle sie allein schon seinen Anblick abwehren, als könne sie den Gedanken nicht ertragen, in seiner Nähe sein zu müssen. Sie wandte sich sogar Seremides zu, zweifellos flehte sie ihn mit der ganzen mitleiderregenden Verletzlichkeit der Büßerin an, nicht in der Nähe dieses ekelerregenden Mannes stehen zu müssen, der die schreckliche Katastrophe und solches Elend über die Stadt gebracht hatte.

Seremides schien kurz zu zögern, aber dann ging sichtlich ein Ruck durch ihn, und er schien eine Entscheidung getroffen zu haben, einerlei, wie unklug auch immer, und er führte Talena ein Stück von dem knienden Lelius weg.

Die Menge gab murmelnd ihren Beifall kund.

Als Talena stehenblieb, zog sie ihr weißes Gewand mit der rechten Hand ein Stück in die Höhe, bis es ihre Knöchel entblößte. Auf diese Weise sah auch der letzte Zuschauer, daß sie barfuß ging. Dieser winzige Akt der Enthüllung, der so völlig natürlich aussah, fast schon zufällig, als wolle sie nur einen sicheren Stand suchen, mußte der vermeintlichen Tochter des Marlenus einiges von ihrer Schicklichkeit abverlangt haben.

Ein Mann, der neben mir stand, schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Marcus schenkte ihm einen verächtlichen Blick.

Plötzlich ertönten rechts von uns ein Fanfarenstoß und ein Trommelwirbel, der nicht nur mich zusammenschrecken ließ. Reguläre Truppen von Cos rückten vor, in geordneten Reihen, in sauberem, frisch gestärktem Blau, mit polierten Helmen und Schilden; ihnen voraus marschierten zahllose Musikanten und Standartenträger, die mit Sicherheit mehr Einheiten repräsentierten, als sich im Augenblick tatsächlich in der Stadt aufhielten. Sie wurden von Tharlarionkavallerie flankiert, sowohl zwei- als auch vierbeinigen Echsen.

Die Straße erbebte unter dem Schritt der Bestien. Hätte man sie auf die Menge losgelassen, hätten sie Hunderte von Menschen zertrampelt.

Beim Anblick der Cosianer schien die Menge auf eine seltsame Weise fügsam zu werden. Das war keine Handvoll Taurentianer, die man hätte aus dem Weg fegen können wie Figuren von einem Kaissabrett. Dort standen Krieger in geordneten Reihen, von denen die meisten zweifellos in der Schlacht gekämpft hatten. Gegen sie anzutreten wäre dasselbe gewesen, als hätte man sich freiwillig gegen die Messermauern von Tyros geworfen. Sollten die Truppen auseinanderströmen und mit gezückten Klingen angreifen, hätten sie Tausende töten, sie wie Sa-tarna zur Erntezeit niedermähen können.

Die Cosianer kamen mit Trommelwirbel und einem Fanfarenstoß nur wenige Meter vor der Vorderrampe zum Stehen.

Ich glaubte sehen zu können, daß Talena dort oben auf der Plattform erzitterte. Vielleicht erkannte sie in diesem Augenblick, was es bedeutete, die Cosianer in der Stadt zu haben. Begriff sie plötzlich, wie verwundbar sie und Ar tatsächlich waren, daß diese Männer tun konnten, was immer ihnen in den Sinn kam? Sie trug das weiße Büßergewand. Der Büßer hat unter dem Stoff eines solches Gewandes nackt zu sein. Doch ich bezweifelte, daß Talena unter dem Stoff nackt war. Sie wollte höchstens, daß die guten Bürger glaubten, sie sei es.

Einen Augenblick lang schien eine unheilverkündende Stille einzukehren. Hätte ich gesprochen, hätte man es sicher meterweit hören können, so still war die zusammengedrängt stehende Menge.

»Myron«, ertönte ein Flüstern. »Myron, der Polemarkos von Cos!«

Ich sah nichts außer der Menge, der Plattform, den dort oben stehenden Leuten und den Cosianern.

»Er kommt!«

Falls es sich tatsächlich um den Polemarkos handelte, mußte er sich seiner Sache sehr sicher sein, um Ar auf eine solche Weise zu betreten. Ich glaube nicht, daß Lurius von Jad es getan hätte. Lurius verließ nur selten die Umgebung seines Palastes in Telnus. Mehr als ein triumphaler Einzug in eine goreanische Stadt war vom Bolzen eines Attentäters verdorben worden.

»Ich sehe ihn«, sagte ich zu Marcus.

»Ja, ich auch.« Phoebe stand auf den Zehen und klammerte sich an Marcus’ Arm, während sie den schlanken, süßen Körper ganz gerade hielt und den Nacken gestreckt hatte. Doch ich bezweifelte, daß sie viel sehen konnte. Der enganliegende Eisenkragen schmiegte sich aufregend um ihren Hals. Der Kragen und sein Schloß steigern die Schönheit einer Frau beträchtlich.

Ein stattliches zweibeiniges Satteltharlarion mit aufwendigem Geschirr, polierten Krallen und sauber geputzten Schuppen kam vor den Standardartenträgern zum Stehen. Hinter ihm ritten weitere prächtige Tharlarion heran, die allerdings kleiner und weniger prächtig herausgeputzt waren. Myron oder derjenige, der in seinem Namen handelte, ließ sich mit Hilfe eines Abstiegsbügels, der durch das Gewicht des Reiters nach unten glitt, zu Boden sinken. Es war seltsam, den Mann zu sehen, von dem ich so viel gehört hatte. Er war ein großer Mann mit einem goldenen Helm, der von einem ebenfalls goldenen Helmbusch gekrönt wurde, und einem goldenen Umhang. Bewaffnet war er mit einem gewöhnlichen Gladius, dem Kurzschwert, der gebräuchlichsten Infanteriewaffe Gors, und einem Dolch. In der Sattelscheide steckte eine längere Waffe, ein Zweihänder, mit dem man andere Tharlarionreiter gut erreichen konnte, der nun aber dort verblieb. Im Sattelschuh steckte keine Lanze.

Er nahm den Helm ab und reichte ihn an einen seiner Adjutanten weiter. Er schien ein ansehnlicher Bursche mit langen Haaren zu sein. Begleitet von zwei weiteren Adjutanten, von denen jeder einen Tornister schleppte, schritt er zur Plattform hinauf.

Seremides ging ihm entgegen, zog das Schwert und hielt es ihm mit dem Griff entgegen.

»Myron nimmt sein Schwert nicht an!«

Tatsächlich hatte sich Myron mit einer großmütigen Geste geweigert, die Waffe Seremides’ anzunehmen, des Hohen Generals von Ar. Seremides steckte das Schwert zurück in die Scheide.

»Heil Cos! Heil Ar!« flüsterte ein Mann.

Ein Aufstöhnen durchlief die Menge, als Seremides die Hand nach Talena ausstreckte und sie Myron zuführte.

Die Töchter besiegter Ubars versüßen oft die Triumphe siegreicher Generäle. Das kann auf verschiedene Weise geschehen. Manchmal müssen sie nackt und in Ketten neben ihren Steigbügeln hermarschieren; manchmal sind sie nur eine Sklavin von vielen, die die andere Beute schleppen. Aber fast immer werden sie in aller Öffentlichkeit versklavt, entweder vor oder nach dem Triumph, entweder in ihrer Stadt oder der Stadt der Eroberers.

Myron verbeugte sich jedoch tief vor Talena, salutierte damit vor der Ehrbarkeit ihres Status als freie Frau.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Marcus.

»Warte ab.«

»Wird er sie jetzt nicht ausziehen und in Ketten legen lassen?« fragte Marcus.

»Sieh zu«, erwiderte ich.

»Noch vor Einbruch der Nacht wird sie als eine seiner Frauen in seinem Zelt liegen.«

»Du sollst zusehen.«

»Vielleicht kommt sie in die Lustgärten von Lurius oder die Unterkünfte seiner Haussklavinnen, falls sie für die Gärten nicht schön genug sein sollte.«

»Warte doch einen Moment ab.«

Wie ich nur zu gut wußte, war Talena eine außerordentlich schöne Frau, mit olivfarbener Haut und dunklen Augen und Haaren. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, daß sie es wert war, in den Lustgarten eines Ubars aufgenommen zu werden.

Myron wandte sich einem seiner beiden Adjutanten zu, die mit ihm die Plattform betreten hatten.

»Was wohl in dem Bündel steckt?« fragte ein Mann.

»Ein Sklavenkragen, Handschellen und so weiter«, erhielt er zur Antwort.

»Nein, seht doch«, sagte ein anderer Mann.

Myron zog einen schimmernden Schleier aus dem Tornister. Er schüttelte ihn aus und zeigte ihn der Menge.

»Das ist der Schleier einer freien Frau!« sagte ein Zuschauer.

Myron reichte ihn Talena, die ihn entgegennahm.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Marcus.

Ein Mann schnaubte verächtlich. »Das ist alles, was sie bekommen wird«, stieß er ärgerlich hervor.

»Ein Scherz der Cosianer. Sie werden ihn ihr abnehmen, wann immer sie wollen.«

»Cosische Sleen.«

»Wir müssen kämpfen.«

»Wir können nicht kämpfen«, sagte ein anderer Bürger. »Es ist hoffnungslos.«

Myron zog ein reichbesticktes Gewand der Verhüllung aus dem Tornister und zeigte es der Menge, wie er es zuvor mit dem Schleier getan hatte. Es wurde ebenfalls Talena übergeben.

»Warum geben sie ihr ein solches Gewand?«

»Das ist ein cosisches Gewand.«

»Vielleicht will Lurius von Jad der erste sein, der sie vollständig zu Gesicht bekommt, in seinen Lustgemächern.«

»Wehe Talena.«

»Wehe uns, wehe Ar!«

»Wir müssen kämpfen«, sagte der Mann, der das schon eben gesagt hatte.

»Aber das ist hoffnungslos!«

»Nein, seht doch«, unterbrach sie ein anderer Mann. »Er verbeugt sich wieder vor ihr. Myron, der Polemarkos, verbeugt sich vor unserer Talena!«

Auch Talena neigte nun den Kopf vor dem Polemarkos, sie tat es auffällig schüchtern, dankbar.

»Sie würdigt die Achtung, die er ihr entgegenbringt!« sagte ein Mann.

»Anscheinend will sie sich zurückziehen.«

»Arme, sittsame kleine Talena.«

Es sah wirklich so aus, als hege Talena, die nun, von Sittsamkeit überwältigt, das Gewand dankbar mit einer Hand umklammerte, während sie mit der anderen offenbar versuchte, an dem weißen Gewand herumzuzupfen, um die nackten Füße besser zu bedecken, den Wunsch, die Plattform zu verlassen.

Doch Seremides hielt sie sanft zurück.

Der Polemarkos trat an den Rand der Plattform. Gnieus Lelius kniete zu seiner Rechten.

Schließlich begann Myron zu sprechen. Er sprach mit klarer, energischer, weittragender Stimme. Außerdem sprach er deutlich und langsam.

»Ich überbringe euch Grüße von meinem Ubar Lurius von Jad, eurem Freund.« Er drehte sich zu Talena um, die ein Stück hinter ihm stand, während noch immer Seremides’ Hand auf ihrem Arm lag, als brauche sie dringend Unterstützung in diesen aufreibenden Augenblicken. »Zuerst«, fuhr Myron fort, »überbringe ich Grüße von Lurius von Jad an Talena von Ar, die Tochter des Marlenus von Ar, des Ubars aller Ubars!« Talena senkte den Kopf und nahm die Grüße entgegen.

Myron wandte sich wieder der versammelten Menge zu.

Talena zuerst zu grüßen war sehr eindrucksvoll gewesen, und ich hegte nicht den geringsten Zweifel, daß dies eine tiefere Bedeutung hatte. Außerdem war mir nicht entgangen, daß Cos sie als Marlenus’ Tochter nannte, obwohl Marlenus sie verstoßen hatte. Indem Cos sie als seine Tochter anerkannte, war klar, daß es sich kaum einem möglichen Thronanspruch von Seiten Talenas oder einer in ihrem Namen handelnden Seite in den Weg stellen würde.

Lurius hätte es vermutlich nicht sonderlich geschätzt, daß Marlenus als Ubar der Ubars bezeichnet wurde, da er vermutlich der Meinung war, ihm stehe der Titel eher zu; von Myrons Standpunkt aus gesehen war die Bezeichnung jedoch vernünftig. Es war ein eindeutiger Appell an den Patriotismus der Arer. Diese Erwähnung Marlenus’ würde Talenas Bild in keiner Weise schädigen, sie aber stillschweigend als Tochter des Ubars aller Ubars bestätigen.

»Und Grüße an unsere Freunde und Brüder, die edlen Bürger von Ar!«

Die Zuschauer blickten einander an.

»Ab heute seid ihr frei!«

»Heil Cos! Heil Ar!« rief ein Mann lautstark.

»Der Tyrann, unser gemeinsamer Feind« – Myron zeigte auf Gnieus Lelius –, »ist besiegt!«

»Tötet ihn!« rief jemand, und der Ruf wurde sofort von anderen aufgenommen.

»Unseren Brüdern in Ar wünschen wir Frieden, Freundschaft, Freude und Liebe!« rief Myron.

Eines der Mitglieder des Hohen Rates, dem Anschein nach der Vorsitzende, der dem Regenten Lelius in zivilen Angelegenheiten direkt unterstellt gewesen war, so wie Seremides in militärischen Dingen, trat vor, um auf Myrons Worte etwas zu erwidern, wurde aber von Seremides mit einer Warnung zurückgehalten.

»Ich spreche für Talena von Ar, der Tochter Marlenus’ von Ar, dem Ubar der Ubars!« rief Seremides. »Im Namen der Bürger und des Heimsteins von Ar dankt sie unseren Brüdern und Freunden aus Cos, daß sie ihre Stadt und ihr Volk von dem Joch Gnieus Lelius’ befreit haben.«

Genau an dieser Stelle ertönten die Alarmstäbe des Zentralzylinders – zweifellos auf ein vorher abgesprochenes Signal hin –, nur Augenblicke später gefolgt von den anderen Stäben der Stadt. Aber man hatte den Eindruck, die Stäbe nicht hören zu können, so laut, wild, dankbar und erleichtert war der Jubel der Menge. Die Schreie waren ohrenbetäubend.

Auf der Plattform griffen Myron und seine Adjutanten in den zweiten Tornister, nahmen Hände voll Münzen heraus und warfen sie ins Volk. Männer griffen danach, so schnell sie konnten. Taurentianer traten zurück. Die Gefahr eines plötzlichen Aufstandes bestand nicht länger.

Während Myron und seine Helfer die Münzen verteilten, verließen Seremides, der der Menge zugewinkt hatte, Talena, die ebenfalls die Hand erhoben hatte, und der Hohe Rat die Plattform. Beinahe unbemerkt stieg gleichzeitig eine Abteilung Cosianer hinauf. Man stieß Gnieus Lelius’ Kopf nach unten. Eine etwa zwei goreanische Fuß lange Kette wurde ihm um den Hals gelegt und an der kurzen Kette befestigt, die seine Fußschellen zusammenhielt. Außerdem legte man ihm eine Leine um. Dann zog man ihn auf die Füße. Die Länge der neuen Halskette verhinderte, daß er aufrecht stehen konnte; er war gezwungen, tief gebückt zu gehen. Ein Taurentianer befreite ihn von dem schweren Eisenkragen mit den kreisförmig angebrachten Ketten, an denen ihn die Kinder auf die Plattform geführt hatten. Dann zerrten ihn die Cosianer an der Leine die Rampe hinunter, und Gnieus Lelius, der ehemalige Regent von Ar, der in ein Narrenkostüm gekleidet und dessen Oberkörper mit Ketten umwunden war und der wegen der kurzen Kette zwischen seinem Hals und seinen Fußfesseln tief gebückt gehen mußte, versuchte das Gleichgewicht zu bewahren und machte kleine Schritte.

Er stürzte zweimal, solange er in meinem Blickfeld war, und beide Male prügelte man ihn mit Speerenden wieder auf die Füße und stieß ihn eilig die Straße des Zentralzylinders entlang. Einige der Bürger, an denen er auf seinem Weg so hilflos und gefesselt vorüberkam, brüllten vor Lachen; andere machten ihrem Haß Luft und riefen ihm Beleidigungen zu, spuckten ihn an und versuchten ihn zu schlagen.

Meiner Meinung nach steckten hinter der Entscheidung der Verräterclique, Gnieus Lelius in ein Narrenkostüm zu stecken, politische Gründe. Sollte es ihm jemals gelingen, seine Freiheit wiederzuerlangen, würde es nicht nur mit ziemlicher Sicherheit seine Rückkehr zur Macht verhindern, sondern auch die Gründung einer Partei, die dies befürworten könnte. Tatsächlich würden sogar seine engsten Anhänger geneigt sein, den Betrug, dem er zum Opfer gefallen war, als gegeben hinzunehmen. Die Verräter mußten erkannt haben, daß viele Bürger Ars wußten oder es im Laufe der Zeit begreifen würden, daß Gnieus Lelius alles andere als ein Tyrann gewesen war, ganz gleich, welche Fehler er als Führer in einer Krisenzeit auch begangen haben mochte. Falls überhaupt, waren seine Fehler in seiner Toleranz, Kompromißbereitschaft und Duldsamkeit zu suchen, in einer Politik, die es Cos und seinen Partisanen erlaubt hatte, beinahe ohne jeden Widerstand in der Stadt zu agieren, in einer Politik, die zuließ, daß man ihm Ar entriß. Nein, würden sie vermutlich untereinander sagen, er war kein Tyrann, aber ein Narr.

Lurius von Jad wußte natürlich, daß Gnieus Lelius kein Tyrann war.

Ich blickte ihm nach. Vermutlich brachte man ihn nach Cos. Vielleicht würde er Lurius’ Hof als angeketteter Hofnarr schmücken. Vielleicht würde er irgendwann Bankettgäste unterhalten, an seiner Leine so tun, als wäre er ein Tanzsleen.

Die Münzen regneten noch immer herab, und die Menge bejubelte Myron.

Er und seine Adjutanten liefen die Rampe hinunter und saßen wenige Augenblicke später in ihren Sätteln. Sie drehten ihre Reittiere und trabten in südlicher Richtung davon. Myrons Helmträger schloß sich ihnen an. Es war ein geschickter Schachzug von ihm gewesen, der Menge sein Gesicht zu zeigen. Es kündete von Offenheit, Mut und Vertrauen. Er lächelte. Er winkte. Die Alarmstäbe dröhnten ihre Freude in die ganze Stadt hinaus. Die Menge zu beiden Seiten der Straße jubelte. Dann stimmten die Musikanten einen Marsch an, und die Standartenträger wandten sich um. Dann drehten auch die Soldaten von Cos um. Umgeben von der jubelnden Menge, begaben sie sich auf den Rückzug. Mädchen rannten herbei und überreichten den Soldaten Blumen. Einige der Männer banden sie sich an die Speere.

»Heil Cos! Heil Ar!« brüllten zahllose Bürger.

»Wir sind frei!« jubelten andere. »Lurius von Jad sei Dank!«

Kinder wurden auf Schultern gehoben, damit sie die Soldaten sahen. Tausende cosischer Fähnchen wurden geschwenkt. Beide Straßenseiten verwandelten sich in ein Meer aus Farben und Jubel. »Heil Seremides! Heil Talena!«

Ich blickte Marcus an.

Phoebe hielt den Kopf gesenkt; sie hatte die Augen geschlossen und hielt sich die Hände vor die Ohren, so groß war der Lärm.

Aber ein paar Ehn später löste sich die Menge auf, nachdem die Cosianer abgezogen waren. Ich sah zu der verlassenen Plattform hinüber. Dort hatte die barfüßige Talena gestanden, in einem Büßergewand. Der Sitte nach hätte sie unter dem Gewand nackt sein müssen, aber ich bezweifelte, daß sie nackt gewesen war. Ich fragte mich, was wohl geschehen wäre, wenn sich die Dinge anders als geplant entwickelt hätten, wenn zum Beispiel Myron ihr das Gewand ausgezogen und sie bekleidet vorgefunden hätte. Ich mußte lächeln. Sie hätte getötet werden können. Zumindest hätte sie erfahren, wie eine Peitsche die Unzufriedenheit des Mannes zum Ausdruck bringen kann, und zwar in aller Deutlichkeit.

Es war aber unwahrscheinlich, daß sie oder Seremides diese Möglichkeit gefürchtet hatten. So war sie der Verräterclique, in der sie sicherlich einen hohen Rang einnahm, viel nützlicher, von den Cosianern ganz zu schweigen, die sie lieber auf dem Thron sahen statt nackt und in Ketten. Seremides und Myron hatten ihre Rollen gut gespielt.

Während ich über diese Dinge nachdachte, kamen ein paar Arbeiter und begannen damit, die Plattform abzureißen. Sie hatte ihren Zweck erfüllt. Mittlerweile waren auch die Alarmstäbe des Zentralzylinders verstummt. Ich sah wieder zur Plattform hinüber. Dort oben hatte Talena von Ar barfuß gestanden. Ich ging davon aus, daß sie sich dabei die Füße nicht verletzt hatte.

Phoebe kniete mit gesenktem Kopf neben Marcus.

»Es ist seltsam«, sagte ich. »Der Krieg zwischen Cos und Ar hat sein Ende gefunden.«

Er nickte bloß.

»Es ist vorbei. Einfach so.«

»Und Cos hat den Sieg davongetragen«, sagte Marcus.

»Einen vollständigen Sieg.«

Marcus blickte zu Phoebe hinunter. »Du hast gewonnen«, sagte er bitter.

»Nein, ich habe nicht gewonnen«, erwiderte sie. »Cos hat gewonnen«, sagte er.

»Cos«, sagte sie. »Nicht ich.«

»Du bist eine Cosianerin.«

»Das war ich einmal. Jetzt bin ich eine Sklavin.«

»Aber zweifellos freust du dich über ihren Sieg.«

»Vielleicht freut sich ja mein Herr, daß Ar, das sich weigerte, Ar-Station zu Hilfe zu eilen, gefallen ist.«

Marcus blickte sie an.

Sie fragte mit bebender Stimme: »Werde ich jetzt getötet?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Du bist nur eine Sklavin.«

Aufschluchzend umklammerte sie seine Beine und bedeckte seine Füße mit Küssen. Dann sah sie tränenblind zu ihm hoch. »Dann bin ich nicht mehr deine kleine Cosianerin?«

»Du wirst immer meine kleine Cosianerin sein«, sagte er.

»Ja, Herr.«

»Spreize die Beine, Cosianerin!«

»Ja, Herr!« erwiderte sie lachend.

Ich hörte das Klopfen von Hämmern, als die Arbeiter Bretter von der Plattform abrissen.

»Wir sollten uns eine Unterkunft suchen«, meinte Marcus.

»Ja«, sagte ich. »Das sollten wir tun.«

Phoebe stand auf und schmiegte sich an ihn. Er legte den Arm um sie.

»Ich schätze, daß Myron morgen seine Triumphfeier bekommen wird«, sagte Marcus.

»Wohl eher der Ubar von Cos, mittels seines Stellvertreters. Ar wird sein Bestes tun, seinem Befreier Lurius von Jad seinen Dank auszudrücken.«

»Der durch seinen Hauptmann und Vetter Myron, den Polemarkos von Temos, repräsentiert wird«, sagte er. Das war Myrons genauer Titel. Temos ist eine der größten Städte auf der Insel Cos. Die Menge sah ihn bloß als den Polemarkos von Cos, womit sie gar nicht so falsch lag.

»Natürlich.«

»Seremides wird zweifellos an dem Triumph teilhaben.«

Ich nickte. »Das sollte er auch. Schließlich ist es genausogut sein Triumph. Er hat ohne jeden Zweifel lange und hart gearbeitet, um ihn in die Tat umzusetzen.«

»Und Talena.«

»Ja.«

»Du klingst bitter.«

»Vielleicht.«

»Myron wollte Seremides’ Schwert nicht haben.«

»Das ist verständlich.«

»Tatsächlich?«

»Bestimmt sogar.«

Die Entgegennahme des Schwertes hätte soviel wie die öffentliche Kapitulation der Armee von Ar bedeutet, der Fußsoldaten wie auch der Kavallerie, der Tharnstreitkräfte wie auch der Tharlarionreiter. Daß Myron das Schwert in der Öffentlichkeit auf der Plattform nicht angenommen hatte, stand völlig mit der vorgespielten Befreiung in Einklang.

»Ich glaube, sie haben das Schwert gestern in Myrons Zelt übergeben oder, was wahrscheinlicher ist, irgendwo abseits der Stadt vor seinen Truppen, um es ihm dann später im kleinen Kreis wieder zurückzugeben.«

»Ja«, sagte Marcus. »Ich wette, du hast recht!«

»Die Truppen des Polemarkos würden so etwas erwarten.«

»Natürlich. Von Lurius von Jad ganz zu schweigen.«

»Auf jeden Fall hat Ar in jeder Hinsicht kapituliert, mit oder ohne Pfand. Man hat befohlen, den Widerstand gegen Cos einzustellen. Die Streitkräfte Ars, zumindest was davon noch übrig ist, haben die Waffen niedergelegt. Vermutlich wird man in Kürze ihre Zahl reduzieren, wenn man sie nicht sogar ganz auflöst. Vielleicht bleibt eine Handvoll Wächter übrig, die cosischen Offizieren unterstellt werden. Man wird das Waffentragen innerhalb der Stadt unter Strafe stellen. Die Tore sind verbrannt worden. Ich rechne damit, daß man auch die Stadtmauern abträgt, und zwar Stein für Stein. Dann wird Ar schutzlos und völlig auf die Gnade von Cos oder seiner Marionetten angewiesen sein.«

»Das ist das Ende der Kultur«, meinte Marcus.

»Eine Form von Kultur wird bestehen bleiben«, erwiderte ich, »Teile der Kunst, der Literatur, eben solche Dinge.«

»Vielleicht wird Gor ja davon profitieren.« Marcus’ Stimme klang bitter.

Ich schwieg.

»Wie werden die Männer ihre Männlichkeit bewahren?«

»Vermutlich werden sie es irgendwie schon schaffen.« Ich hatte großen Respekt vor den Männern von Ar.

»Und was wird aus den Frauen?«

»Das weiß ich nicht. Wenn die Männer ihre Männlichkeit nicht behalten, wird es für die Frauen schwer, wenn nicht aussichtslos, Frauen zu bleiben.«

Er nickte.

»Cos ist der Herrscher über Gor.« Ich mußte wieder daran denken, daß Dietrich von Tarnburg diese Möglichkeit – die Vorherrschaft einer der großen Mächte – befürchtet hatte. Für die freien Söldnerkompanien konnte das das Ende bedeuten.

Marcus sagte: »Nur in einem gewissen Sinn.«

Ich blickte ihn fragend an.

»In vielen Städten und Ländern, eigentlich in den meisten Teilen der Welt, werden die Dinge bestimmt so bleiben, wie sie sind.«

Ich dachte über die Mühen der Nachrichtenübermittlung nach, wie schwierig es war, Nachschublinien zu unterhalten, über die Länge von Märschen, den Zustand der Straßen, die Abgelegenheit mancher Städte, über die mannigfaltigen Kulturen.

»Ich glaube, du hast recht.«

Cos wäre von nun an lediglich die beherrschende Macht auf dem Kontinent. Geopolitisch gesehen war es eher unwahrscheinlich, daß es diese Macht für alle Zeiten aufrechterhalten konnte. Sein Stammsitz lag in Übersee, und seine Armeen setzten sich hauptsächlich aus Söldnern zusammen, die nur schwer zu kontrollieren und teuer zu unterhalten waren. Dieser Feldzug mußte eine gewaltiges Loch in die Staatsfinanzen von Cos und in die seines Verbündeten Tyros gerissen haben. Sicher, die Kosten konnte man wieder hereinholen, dafür war zum Beispiel das besiegte Ar gut geeignet.

Cos war es gelungen, Ar zu besiegen. Aber plötzlich wurde mir klar, daß seine Vorherrschaft damit nicht zwangsläufig gesichert war. Sollte Cos nun, da Ar hilflos und verletzlich und als militärische Macht ausgeschaltet war, irgendwann seine Macht verlieren, könnte ein neues barbarisches Zeitalter anbrechen, zumindest innerhalb der traditionellen Einflußsphäre Ars. Eine gesetzlose Barbarei, die nur hier und da von unbedeutenden Tyranneien gebrochen werden würde, von Inseln der Macht, wo bewaffnete Männer ihren Willen durchsetzten.

»Ich höre die Alarmstäbe nicht mehr«, sagte Marcus. »Die Menge auch nicht.«

»Stimmt.«

Im Park des Zentralzylinders schien Stille eingekehrt zu sein, die nur von den Geräuschen der Arbeiter gebrochen wurde, die die Plattform abbauten. Es waren nur wenige Leute in der Nähe. Der Wind wehte winzige Banner aus buntem Papier über den Boden, die Banner von Ar und Cos.

Ich sah wieder zur Plattform hinüber. Dort oben hatte Talena barfuß gestanden.

»Sieh mal«, sagte ich dann und zeigte auf einige Holzbohlen, die man bereits aufgestapelt hatte.

Marcus zuckte mit den Schultern. »Und?«

»Die Bohlen, ihre Oberseite wunde geglättet«

»Und dem Glanz nach zu urteilen hat man Sie auch versiegelt.«

»Genau.«

»Zweifellos hat man sie für die Füße der edlen Talena vorbereitet.«

»Ja.«

»Eine ungewöhnliche Sorge für eine Büßerin.«

»Da hast du recht«, mußte ich ihm zugestehen.

»Aber wir wollten ja nicht, daß ihre kleinen Füße Schaden nehmen, oder?« fragte Marcus seine Sklavin.

»Nein, Herr«, antwortete Phoebe.

Obwohl Marcus’ Worte ironisch gemeint waren, hatte Phoebe ihre Antwort völlig ernst gemeint, was auch richtig war. Sie konnte nicht einmal daran denken, sich in dieselbe Kategorie wie eine freie Frau einzureihen. Auf Gor trennt ein unüberbrückbarer und furchterregender Abgrund die freie Frau von einer Sklavin wie Phoebe.

»Es ist bedauerlich, daß sie gezwungen war, auf so demütigende Weise barfuß aufzutreten, nicht wahr?« fragte Marcus.

»Ja, Herr«, erwiderte Phoebe, »schließlich ist sie eine freie Frau.«

In der Tat hatte es Talena bestimmt eine große Überwindung gekostet, sich der Öffentlichkeit barfuß zu zeigen.

Phoebe ging natürlich barfuß. Das ist bei Sklavinnen so üblich.

Ich sah zu, wie das nächste Brett der Plattform auf dem Stapel landete. Dabei dachte ich darüber nach, wie wohl Talena auf einer anderen Art von Plattform aussähe, einer Auktionsplattform, nackt und in Ketten, wo Männer um sie feilschten.

»Laß uns eine Unterkunft suchen«, schlug Marcus vor.

Ich nickte. »Gehen wir.«

Загрузка...