»Da ist noch ein Delka«, sagte ich zu Marcus.
»Ganz schön unverschämt, es an einem solchen Platz anzubringen«, erwiderte er.
Marcus und ich spazierten die Straße des Zentralzylinders entlang, die im gewissen Sinne die Hauptstraße Ars ist. Auf jeden Fall ist es seine berühmteste, wenn nicht sogar belebteste Straße; sie führt zum Park des Zentralzylinders, in dem sich das Bauwerk befindet, das ihr den Namen verlieh. Es ist eine lange, im Schatten liegende, breite, elegante Straße, mit teuren Geschäften und Springbrunnen.
Seit dem Vorfall im Laden des Geschirrverkäufers waren einige Tage vergangen.
»Gestern nacht hat man eine Soldatenunterkunft niedergebrannt«, sagte Marcus. »Das habe ich gehört.«
»Falls es stimmt«, entgegnete ich. »Ich glaube nicht, daß davon etwas auf den Anschlagtafeln zu lesen sein wird.«
»Hast du nicht auch den Eindruck, daß in der Stadt ein neuer Geist herrscht?« fragte er mich.
»Mir kommt alles sehr ruhig vor.«
»Trotzdem. Die Dinge haben sich verändert.«
»Schon möglich.«
»Da, hör doch!«
Wir drehten uns um. Eine Gruppe Jugendlicher marschierte in geordneten Reihen vorbei und sang ein Lied. Anscheinend handelte es sich um eine Gruppe Sportler. Sie trugen sowohl die Farben Ars wie auch die Cos’. Solche Gruppen, die in den einzelnen Stadtteilen aufgestellt werden, messen sich in den unterschiedlichsten Disziplinen, im Steinwurf, im Speerwurf – sowohl in bezug auf Weite als auch auf Zielgenauigkeit – und in allen möglichen Arten von Wettläu fen. Es finden Treffen und örtliche Ausscheidungskämpfe statt, bei denen der Beste ermittelt wird und dann einen Preis erhält. Diese Wettkämpfe waren den Goreanern vertraut und wurden schon seit Jahren in den verschiedenen palestrae der Stadt privat veranstaltet. Manchmal traten auch die palestrae gegeneinander an.
»Das ist anders«, sagte Marcus.
»Solche Sportgruppen hat es doch schon immer gegeben«, entgegnete ich.
»Man hat sie Wiederaufleben lassen«, sagte Marcus.
»Sieht du darin etwas Bedeutsames?«
»Natürlich«, erwiderte er sofort. »Warum sollte Cos solche Veranstaltungen fördern?«
»Um sie beim Herrschen zu unterstützen?« mutmaßte ich. »Um edel und gütig erscheinen zu lassen? Um der Öffentlichkeit ein hübsches Spielzeug zu geben, interessante Dinge, mit denen sie sich die Zeit vertreiben kann? Um Ar von seiner Niederlage und seinem traurigen Zustand abzulenken?«
»Aber das haben die Cosianer bis jetzt doch nicht getan«, sagte er. »Warum gerade jetzt?«
Wir sahen zu, wie die Jugendlichen an uns vorbeimarschierten.
Ich tat Marcus den Gefallen. »Also warum?« fragte ich.
»Um der Deltabrigade entgegenzutreten«, sagte er. »Um ihren Einfluß zu beschneiden!«
»Cos weiß doch nicht einmal, daß es uns gibt.«
»Die Ubara weiß Bescheid«, sagte er. »Seremides und der Polemarkos auch.«
»Du spinnst.«
»Diesmal ist mein Kaissaspiel geschickter als das deine.«
»Das würde ich gern glauben«, sagte ich.
»Und das Kunstzentrum?« gab Marcus zu bedenken.
»Was ist damit?«
»Genau das gleiche!«
Ich lachte.
»Nein, ich meine es ernst!« beharrte er. »Es ist genau das gleiche, nur eben für die Intellektuellen, die Schriftgelehrten, die hohen Kasten.«
»Werden sie dafür den gestohlenen Marmor aus Cos zurückholen?« fragte ich spöttisch.
»Ich meine es ernst, Tarl!«
»Vielleicht hast du ja recht«, sagte ich. »Ich hoffe es jedenfalls.«
»Ich sage dir, die Dinge in Ar verändern sich.«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Es hat den Anschein, als wären die Erleuchteten nun nicht mehr so willkommen in den Straßen wie zuvor«, sagte der junge Krieger. »Die Männer gehen ihnen aus dem Weg. Sogar manche Frauen gehen ihnen aus dem Weg. Einige haben sogar verlangt, daß sie in ihren Tempeln bleiben sollen, wo sie hingehören, daß sie sich von den anständigen Leuten fernhalten.«
»Das ist interessant.«
»Nun läuten sie ihre Glocken und schwingen ihre Weihrauchbehälter in verlassenen Straßen«, sagte Marcus. »Sie singen mit ihren Litaneien nur noch Wände an.«
»So schlimm wird es ja wohl noch nicht sein«, erwiderte ich.
»Ist dir so viel an dieser unproduktiven, parasitären Kaste gelegen?« fragte er.
»Ich denke nicht viel über sie nach.«
»Bestimmt bedauerst du die Leute, deren Verstand sie verdorben haben.«
»Natürlich, falls es sie geben sollte.«
»Sie machen sich die Leichtgläubigkeit zunutze, sie beuten Furcht aus, sie fördern den Aberglauben.«
»So verdienen sie sich eben ihren Lebensunterhalt.«
Marcus schnaubte ärgerlich. Er gehörte zu den Leuten, die es noch immer nicht müde geworden waren, Heuchelei und Schwindel anzuprangern. Er hatte einfach noch nicht begriffen, welche Rolle solche Dinge im komplizierten Webmuster des Lebens spielten. Was war, wenn einige Menschen Lügen brauchten, sie der Preis für ihre geistige Sicherheit waren? Sollte man ihnen trotzdem ihren Trost nehmen, sie ihrer Illusionen berauben? War ihr Glück weniger wert als das anderer Menschen?
Wenn sie etwas Derartiges brauchen, ist es dann nicht besser, ihnen zu sagen, daß die Illusionen die Realität darstellen, die Lügen die Wahrheit sind? Und wenn es viele nach solchen Dingen verlangte, war es dann ein Wunder, daß sich Menschen fanden, die ihnen diese Ware verkauften, vielleicht sogar aus aufrichtigen Beweggründen?
Ich dachte darüber nach. Im Gegensatz zu Marcus kannte ich viele Gesellschaftsformen, die unnatürlich waren, die den falschen, auf Mythen und Lüge basierenden Weg eingeschlagen hatten. Vielleicht mißbilligte Marcus die Erleuchteten deshalb so sehr. In seiner Welt erschienen sie ihm als Anomalie, als sinnlos und gefährlich.
»Glaubst du an die Priesterkönige?« fragte Marcus.
»Aber sicher.«
»Ich nicht.«
»Das ist deine Angelegenheit.«
»Aber wie sollen wir dann die Waffengesetze oder den Flammentod erklären?«
»Das dürfte doch wohl eher dein Problem sein«, erwiderte ich, »da ich ihre Existenz akzeptiere.«
»Etwas existiert«, sagte er, »aber es sind keine Priesterkönige.«
»Das ist ein interessanter Gedanke.«
»Sie gebieten eben nur über die Macht der Priesterkönige.«
»Noch ein interessanter Gedanke«, sagte ich. »Aber wenn sie über die Macht von Priesterkönigen gebieten, warum sie dann nicht auch Priesterkönige nennen?«
»Glaubst du, es würde sie stören, wenn ich es nicht hie?«
»Vermutlich nicht.« Es verhielt sich tatsächlich so; solange sich die Menschen an die Gesetze der Priesterkönige hielten, ließen die sie tun, wonach ihnen der Sinn stand. Die Hauptsorge der Priesterkönige bestand offenbar darin, so wenig wie nur möglich mit den Menschen zu tun zu haben. Dafür hatte ich immer großes Verständnis gehabt.
»Aber wie sieht die Beziehung der Erleuchteten zu den Priesterkönigen aus, falls es sie gibt?« fragte er.
»Meiner Meinung nach dürfte sie, vorausgesetzt sie existieren, eher schwach ausgeprägt sein.«
»Du glaubst also nicht, daß die Priesterkönige ständig engen Kontakt zu den Erleuchteten pflegen?«
»Würdest du gern in engem Kontakt mit den Erleuchteten stehen?« fragte ich ihn.
»Mit Sicherheit nicht.«
»Siehst du.«
Ein Bäcker ging vorbei und musterte uns mit furchtlosem Blick. »Sieh dir den an!« sagte Marcus.
»Das ist doch nur ein Mann.«
»Er geht aufrecht und voller Stolz daher.«
»Er wird nicht mehr stolz sein, wenn ihn erst einmal eine cosische Patrouille verprügelt hat«, meinte ich.
»Wie dem auch sei«, sagte Marcus, »die Macht der Erleuchteten hat deutlich abgenommen.«
»Zumindest im Augenblick.«
»Im Augenblick?«
»Sollten die Bürger wieder verwirrt und ängstlich werden«, sagte ich, »sollten sie wieder anfangen zu jammern und nach einer Führung verlangen, werden auch wieder die weißen Gewänder auf der Straße zu sehen sein.«
»Als Leitbilder braucht man die Erleuchteten unbedingt.«
»Das ist wahr.« Es konnte auch eine Kaste, der Staat oder ein Führer sein.
»Die Erleuchteten hätten der Kern einer Widerstandsbewegung gegen Cos sein können«, sagte Marcus.
»Cos hat schon dafür gesorgt, daß es nicht dazu kam, und zwar mit Geschenken und Opfergaben.«
»Damit sie ihre Passivität und Resignation predigten?«
»Natürlich«, sagte ich. »Aber verringere die Opfergaben, bedrohe ihre Schätze, stelle ihre Macht in Frage, und es wird nicht lange dauern, bis sie ihren Patriotismus wiederentdeckt haben.«
»Cos ist sehr gerissen«, sagte Marcus.
»Allerdings.«
»Ich hasse die Erleuchteten!«
»Das habe ich mir schon gedacht.«
»Ich verabscheue sie.«
»Vielleicht –kannst du dich ja bloß nicht dazu überwinden, dich an Unehrlichkeit zu erfreuen und blanken Schwindel und Heuchelei zu feiern.«
»Sollte die Erklärung dafür so einfach sein?«
»Wer weiß.«
»Ich habe meine Grenzen«, stellte Marcus bestimmt fest.
»Wer hat die nicht.«
»Und doch ist die Welt sehr geheimnisvoll.«
»Das ist wahr.«
»Was ist nur ihre Natur?«
Ich sagte: »Ich bin sicher, daß ich das nicht weiß.«
Plötzlich schlug er sich mit der geballten Faust in die Hand. Es mußte weh getan haben. Ein Passant drehte sich um, sah ihn an und ging dann weiter. »Aber ich bin hier!« rief Marcus aus und betrachtete die Straße, die Gebäude, die Bäume, die Springbrunnen und den Himmel. »Und hier lebe ich!«
»Das halte ich für einen vernünftigen Gedanken«, erwiderte ich.
»Tarl, ich habe diese Unterhaltung sehr genossen«, sagte er. »Sie hat mir viel bedeutet.«
»Ich habe nicht das geringste verstanden.«
Er schnaubte. »Manche Leute sind so oberflächlich!«
»Aber vielleicht hast du ja recht«, räumte ich ein. »Vielleicht hat sich ja tatsächlich etwas in Ar verändert.«
»Ganz bestimmt!« sagte er und betrachtete ein Mädchen.
»Bleib stehen, Frau!« befahl ich.
Die Sklavin gehorchte.
»Sie ist nicht die erste, die du in letzter Zeit gesehen hast.«
»Nein«, sagte ich. Die Sklavin wollte niederknien, aber ich schüttelte den Kopf. Marcus und ich gingen um sie herum.
»Sieh nur die Kürze ihrer Tunika«, sagte Marcus. »Der tiefe Ausschnitt, der ärmellose Schnitt.«
»Ja«, sagte ich.
Das Mädchen errötete.
»Das ist ein Zeichen, daß die Männlichkeit der Männer Ars wiedererstarkt.«
»Allerdings.«
»Dir ist sicher nicht entgangen, daß in letzter Zeit viele Sklavinnen leichter gekleidet sind als zuvor.«
»Nein, natürlich nicht.«
»Ich finde es offensichtlich, daß die Bürger ihre Männlichkeit zurückerobern«, sagte er. »Sie werden wieder gefährlicher.«
»Ja.«
Ein paar Wochen zuvor hatte es Gerüchte gegeben, das Ubarat wolle die Männlichkeit der Bürger von Ar beschneiden und unterdrücken. Das geschah unter dem Deckmantel einer Kleiderordnung, die die Zurschaustellung der Sklavinnen einschränken und nur die erste einer Reihe von geplanten Maßnahmen sein sollte. Es war die Rede davon, allen Sklaven größeren ›Respekt‹ entgegenzubringen und dergleichen mehr. Natürlich sollten die Bürger damit nur noch weiter unterdrückt, ja, kastriert werden. Aber dieser vorsichtige Versuch war auf einen derart verbissenen Widerstand gestoßen, daß man ihn sofort zurückgezogen hatte. Tatsächlich war auf den Anschlagtafeln sogar ein Aufruf der Ubara erschienen, daß Sklavinnen ihren Herren gehorchen sollten. Dieser Rückzieher war vernünftig gewesen. Die Männer von Ar wären bestimmt eher gestorben als auch noch die letzten, von der Natur vorgegebenen Reste ihrer Männlichkeit aufzugeben.
»Sicher werden den Cosianern die Veränderungen nicht entgehen«, sagte Marcus, als wir die Sklavin entließen und weitergingen. »Ich habe gehört, daß es unter den Jugendlichen zu Kämpfen gekommen ist. Diese Banden, die sich ›Cosianer‹ nennen und alles Cosische nachahmen, werden von anderen mit so farbigen Namen wie ›die Larls‹ oder ›die Ubars‹ überfallen.«
»Das habe ich auch gehört.«
»Interessanterweise hat es den Anschein, daß einige der Jungen, die sich früher als ›Cosianer‹ gaben, jetzt ganz andere Farben und Haarschnitte tragen, und zwar solche, die man den aus dem Delta zurückgekehrten Veteranen zuschreibt.«
Ich nickte. Das war mir ebenfalls nicht verborgen geblieben. Dabei konnte ich mich noch genau daran erinnern, wie diese Veteranen vor Monaten in der Stadt nicht willkommen gewesen waren. Trotz der Strapazen und Entbehrungen, die sie im Namen ihrer Heimstadt auf sich genommen hatten, hatte man sie verachtet. Man hatte sie beleidigt, angespuckt und lächerlich gemacht. Gefühle, die man besser für den Feind aufgespart hätte, ließ man an den eigenen Brüdern aus. Einige Bürger hatten sie als Versager beschimpft, als besiegte Narren, die sich oben im Norden hatten dezimieren und demütigen lassen, als Männer, die es gewagt hatten, ohne die Krone des Sieges in das stolze Ar zurückzukehren. Es wäre besser gewesen, sagte man, sie wären alle im Sumpf gestorben, anstatt in Schande nach Hause zurückzukehren. Aber die das sagten, waren nicht im Delta dabeigewesen oder hatten je eine Waffe in der Hand gehalten. Andere, die sich die politischen Täuschungsmanöver von Cos zu eigen gemacht hatten, hatten die Veteranen als potentielle Kriminelle sowie als imperialistische Kriegstreiber beschimpft, als entsprächen Cos’ Bestrebungen nicht denen Ars. Viele Männer waren verwirrt und verbittert. Hatten sie dafür ihre Pflicht getan, war das die Belohnung für das, was sie im Delta hatten aushalten müssen: Tharlarion, Insekten, Hunger, die Pfeile der Rencebauern, die Klingen von Cos?
»Einige dieser Kerle, ob nun die einstigen ›Cosianer‹ oder die anderen, sind anscheinend immer noch die reinsten Wandalen, aber andere beschatten cosische Patrouillen, verfolgen Truppenbewegungen und zeichnen die Runden der Wächter auf, um der Deltabrigade Bericht zu erstatten.«
»Wenn das stimmt, ist es ein gefährliches Spiel für die Jungen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ihre Jugend die Cosianer davon abhalten würde, sie zu pfählen oder zu hängen.«
»Einige haben sich andere Aufgaben gestellt«, sagte ich, »wie den Schutz ihrer Nachbarschaft.«
»Ein hoffnungsvolles Zeichen«, sagte Marcus, »wenn Ar wieder anfangen sollte, selbst auf sich aufzupassen.« Er verstummte. »Selbst wenn es nur die Jugend ist.«
»Da ist die Deltabrigade.«
»Wir sind keine Arer«, stellte er fest.
»Aber die anderen, wer auch immer sie sein mögen, müssen welche sein.«
»Cos können diese vielen Veränderungen nicht verborgen geblieben sein«, sagte Marcus.
»Anscheinend besteht ihre offizielle Politik darin,
Unwissenheit vorzutäuschen.«
»Das halten sie nicht lange durch.«
»Nein.«
»Und sie haben die Schwerter.«
»Lurius von Jad und viele seiner Minister sind zweifellos dafür, sie auch zu gebrauchen. Bis jetzt hat sie zweifellos nur der allgemeine Erfolg ihrer politischen Kriegsführung zurückgehalten.«
Marcus lächelte. »Diejenigen, die eingeladen sind, mit den Sleen zu speisen, sollten sich in acht nehmen.«
Ich nickte, dann fiel mir etwas auf.
»Dort vorn, an den öffentlichen Anschlagtafeln, hat sich eine kleine Menschenmenge versammelt.«
»Dann sehen wir uns doch an, was da los ist«, schlug er vor. Und wir eilten dorthin.