»Ich hatte das Glück, für den Dienst auf der Mauer ausgewählt zu werden«, sagte der junge Mann zu seinem gleichaltrigen Freund.
»Ich habe mich freiwillig dafür gemeldet.«
»Das ist das mindeste, was wir tun können.«
»So wird Ar Größe erlangen.«
»Nicht alle Werte sind materieller Natur.«
»Mit solchen Taten demonstrieren wir in aller Deutlichkeit unsere Friedensliebe.«
Marcus sagte: »Ich bin müde.«
»Daran sind die Wagen schuld«, erwiderte ich.
In vielen goreanischen Städten sind die Straßen, vor allem die Nebenstraßen und Gassen, zu schmal für Wagen. Träger und Handkarren liefern die Dinge des täglichen Bedarfs ins Haus. Um verstopften Straßen und dem Lärm vorzubeugen – und auch aus Gründen der Ästhetik, die die Goreaner sehr ernst nehmen –, sind einige Straßen für jeglichen Wagenverkehr gesperrt, während er wiederum auf anderen zu bestimmten Zeiten erlaubt ist, gewöhnlich in der Nacht oder in aller Frühe. Lebensmittellieferungen vom Land, soweit sie nicht von den Bauern auf dem Rücken getragen werden, erfolgen stets nachts und in aller Frühe. Das gleiche gilt auch für Waren, die die Stadt verlassen.
Wir spazierten durch den Metellanischen Bezirk und bogen dann nach Osten auf die Straße von Turia ab. Phoebe ging dicht hinter Marcus.
Einige Ahn vor Tagesanbruch war ein Konvoi an unserer Unterkunft im Metellanischen Bezirk im insula von Torbon in der Straße des Demetrios vorbeigerattert. Unser Zimmer hatte keine Fenster, aber ich war auf den Flur gegangen und hatte den Schlagladen, der zur Straße hinausblickte, ein Stück aufgestoßen. Unten fuhren Wagen vorbei, die von Jungen mit Laternen geführt wurden. Es waren viele. Die Straße des Demetrios verfügte wie die meisten goreanischen Straßen über keine Bürgersteige; eine beidseitige sanfte Neigung führte zur Abwasserrinne in der Straßenmitte. Die Jungen mit den Laternen, deren sanfter Schein sich hier und dort auf den Wänden abzeichnete, dienten einem wichtigen Zweck. Ohne eine derartige Beleuchtung kann man nur zu leicht eine Abzweigung verpassen oder mit der Radachse eine Häuserwand rammen. Nach einiger Zeit hatte sich Marcus zu mir gesellt. Die Wagen waren mit Segeltuchplanen verhüllt, die man festgezurrt hatte. Es war nicht der erste Konvoi, den wir in den vergangenen Wochen gesehen hatten.
»Und was transportieren sie?« hatte Marcus gefragt.
»Wer weiß das schon?« hatte meine Erwiderung gelautet, woraufhin er lachte.
Natürlich wußten wir im Grunde, was dort transportiert wurde. Das war nicht schwer zu erraten. Gewöhnliche Güter verlassen nicht in solcher Anzahl die Stadt. Zwar ist es nicht ungewöhnlich, daß derartige Transporter an Treffpunkten in Nähe der Stadttore zusammenkommen, Wagen verschiedenster Manufakturen und Handelshäuser, um dann als Konvoi zu reisen, aber in einem solchen Fall kommen die Wagen von verschiedenen Orten und bilden erst in der Nähe des Tors einen Konvoi, manchmal sogar erst außerhalb der Stadt, um die Straßen nicht zu blockieren. Für gewöhnlich wird die Zusammenstellung solcher Konvois auf den Anschlagtafeln verkündet, da diese Information für viele Leute wichtig ist, seien es Kaufleute, die ihre Waren verschicken wollen, Spediteure und Wächter, die Arbeit suchen, oder Menschen, die eine Passage buchen wollen. Reiche Kaufleute stellen auch selbst Konvois zusammen, gestatten aber, daß sich andere Wagen ihnen anschließen. In der Menge liegt Sicherheit, und je größer die Menge, desto größer die Sicherheit. Wagen, die sich einem Konvoi anschließen, müssen eine Gebühr entrichten, die hauptsächlich der Bezahlung der Wächter dient. Oder für anfallende Zölle, Trinkwasser, Tierfutter. Es gibt Unternehmer, die mit der Organisation und Ausstattung von Konvois ihren Lebensunterhalt verdienen.
Aber die Wagen, die unten auf der Straße vorbeifuhren, gehörten zu einer anderen Art von Konvoi.
Zum Beispiel hatte man den Konvoi nicht angekündigt. Vermutlich wußten viele Bürger nichts davon. Ein weiterer Hinweis war, daß die Wagen zusammengewürfelt wirkten. Es gab alle möglichen Modelle, sogar Ausflugswagen, die nur wenig Ähnlichkeit mit den stabiler gebauten Transportern hatten, die für den Überlandverkehr konstruiert waren, wo die Straßen kaum mehr als kaum ausgebaute, zufällige, steile, zerklüftete und trügerische Pfade darstellten. Einige goreanische Stadtstaaten isolieren sich – vermutlich aus militärischen Erwägungen –, indem sie sich weigern, Gelder für gute Straßen zur Verfügung zu stellen. Im Frühling ist es dann wegen der Regenfälle fast unmöglich, eine solche Stadt überhaupt zu erreichen. Besnit ist eine solche Stadt.
Viele Wagen trugen keinerlei Markierungen, aber es gab unter ihnen auch solche, die der Welt ihre Besitzer verkündeten und für Weber, Bäcker, Handwerker oder Kerzenmacher warben; man hatte sie requiriert. Einen letzten Hinweis bot die Tatsache, daß diese Konvois zuviel Personal mit sich führten, insbesondere für die Stadt. Anstelle eines Fahrers und eines zusätzlichen Mannes, der als Beifahrer oder Ladehelfer diente, sowie eines Jungen, der innerhalb der Stadt durch die Dunkelheit führte, saßen auf jedem Wagen mindestens vier oder fünf ausgewachsene, bewaffnete Burschen, von denen für gewöhnlich zwei oder drei auf dem Kutschbock hockten, während die übrigen auf der Ladung oder dem Segeltuch saßen oder auf den Trittbrettern unterhalb der Hinterluke standen. Außerdem gingen ein paar an den Seiten nebenher.
»Ar blutet«, hatte Marcus gesagt.
Jetzt ging er hinter mir und fragte: »Wohin gehen wir?«
»Ich will sehen, was auf der Stadtmauer passiert«, erwiderte ich.
»Das gleiche wie beim letzten Mal.«
»Ich will sehen, welche Fortschritte sie machen.«
»Du willst doch bloß den Flötenmädchen zusehen.«
»Das auch«, gab ich zu.
Ein paar Ehn später hatten wir die Straße von Turia erreicht, eine der Hauptstraßen Ars. Sie wird von Turbäumen gesäumt.
»Welch schöne Straße!« rief Phoebe aus. Der Anblick, vor allem wenn er einen unerwartet trifft, ist eindrucksvoll.
Marcus drehte sich ruckartig um und starrte sie an. Sie blieb wie angewurzelt stehen.
»Trägst du einen Kragen?«
»Ja, Herr.«
»Bist du eine Sklavin?«
»Ja, Herr.«
»Glaubst du, nur weil ich dich am Tag von Cos’ Sieg nicht getötet habe, bin ich schwach?«
»Nein, Herr.«
»Vielleicht denkst du dann das nächste Mal nach, bevor du unaufgefordert sprichst!«
»Ja, Herr.«
Wir gingen weiter.
»Ist dir das Haar des jungen Burschen aufgefallen, an dem wir eben vorbeigingen?« fragte ich.
»Ja. Es war wie Myrons Haar geschnitten.«
»Genau.«
»Da sind die Anschlagtafeln.«
»Gibt es etwas Neues?« Ich zog es vor, daß Marcus die Bekanntmachungen entzifferte. Er konnte flüssig lesen.
»Eigentlich nicht«, sagte Marcus. »Das Übliche, Verlautbarungen von Beamten, Beschwörungen der Aufrichtigkeit sowohl von Cos wie von Ar, Erklärungen prominenter Bürger, wie sehr sie sich der unter Gnieus Lelius erfolgten Verbrechen Ars schämen.«
»Ich verstehe.« Seit dem Einzug Myrons in die Stadt und dem sich daraus ergebenden Triumph Lurius’ von Jad, der einen Tag später in seinem Namen von dem Polemarkos unter Teilnahme von Seremides und Talena gefeiert worden war, waren etwa zwei Monate vergangen; dem folgte vor einigen Wochen die Thronbesteigung Talenas. Ihre Krönung zur Ubara mochte etwas weniger spektakulär als Myrons Einzug oder Lurius’ Triumph gewesen sein, was ihr möglicherweise gar nicht gefallen hatte, aber ich hatte sie durchaus eindrucksvoll gefunden. Myron hatte ihr die Krone aus Turblättern aufgesetzt, allerdings im Namen des Volkes und des Rates von Ar. Seremides und die meisten Angehörigen des Hohen Rates waren ebenfalls anwesend gewesen. Lediglich gewisse Ratsmitglieder waren angeblich verhindert. Gerüchten zufolge standen sie unter Hausarrest.
Man hatte Talena ein Medaillon von Ar umgehängt, aber das traditionelle Medaillon, das Marlenus getragen und selten aus der Hand gegeben und vermutlich bei seinem Aufbruch aus der Stadt vor so langer Zeit mitgenommen hatte, blieb unauffindbar. Das gleiche galt für den Ring des Ubars, der allerdings sowieso viel zu groß für Talenas Finger gewesen wäre. Angeblich war der Ring schon vor Jahren aus Ar verschwunden. Es hatte sogar schon vor Marlenus’ Verschwinden das Gerücht gegeben, er sei bei einem Jagdausflug in den Nordwäldern verlorengegangen.
Nach dem Medaillon überreichte man Talena den Heimstein von Ar, den sie in der linken Hand halten mußte, während ihr das Zepter, das Symbol ihres Amtes und der Macht, in die rechte gelegt wurde. Der Krönung folgte die Verkündung, daß man fünf Feiertage anberaume. Bei Lurius’ Triumph hatte es zehn Tage gegeben. Die Hauptberater der neuen Ubara waren Myron von Cos und Seremides, ehemals aus Tyros.
»Hier steht etwas«, sagte Marcus, »auch wenn ich es nicht für wichtig halte.«
»Was denn?«
»Dort ist ein Aufruf an alle Bürger und Stadträte Ars, demnach sie sich Gedanken darüber machen sollen, wie sie für ihre Komplizenschaft bei den Verbrechen ihrer Stadt Schadenersatz leisten können.«
»Reparationen?«
»Keine Ahnung.«
»Ich hätte gedacht, daß Ar schon beträchtlichen Schadenersatz geleistet hat.« Ich mußte sofort an die Konvois denken, die unter unserem Fenster vorbeigerattert waren.
»Sei vorsichtig mit deinen Reden«, murmelte ein Obsthändler, der neben mir stand.
»Wir sind schuldig«, sagte ein anderer Bürger.
»Genau.«
»Es ist nur richtig, daß wir bei unseren guten Freunden aus Cos und anderen, denen wir geschadet haben, Wiedergutmachung leisten.«
»Das ist wahr.«
Marcus und ich gingen weiter.
»Ar-Stations Heimstein wird nicht länger öffentlich zur Schau gestellt«, sagte Marcus düster.
»Das werden sie schon wieder tun.«
»Wie kommst du darauf?« fragte er.
»Ich habe meine Gründe«, erwiderte ich. »Warte einfach ab.«
Wir kamen an einem öffentlichen Gebäude vorbei, einem Gerichtsgebäude. »Die Wände scheinen auffallend leer zu sein«, meinte Marcus. Die Häuserwand war von kleinen Löchern übersät.
»Sicher sind dir schon vergleichbare Wände aufgefallen«, sagte ich. »Schmückende Marmorreliefs wurden entfernt. Wenn ich mich recht entsinne, feierte man hier Hesius, einen legendären Helden Ars.«
Marcus nickte. »Nach ihm wurde der Monat Hesius benannt.«
»Ich glaube schon.« Hesius ist in Ar der zweite Monat. Er folgt der ersten Passage-Hand. Wie in den meisten Städten der nördlichen Hemisphäre beginnt auch in Ar das neue Jahr mit der Frühlingstagundnachtgleiche.
»War es ein gutes Relief?« fragte Marcus.
»Obwohl ich kaum qualifiziert bin, solche Dinge zu beurteilen, fand ich sie sehr gelungen. Es war die Arbeit eines alten Meisters, Aurobion, obwohl es auch die Ansicht gab, sie stammten nur aus seiner Schule.«
»Ich habe von ihm gehört.«
»Einige Leute vertreten die Meinung, daß der größte Teil der Hauptfiguren von seiner Hand stammt, während die unwichtigeren Teile und die Nebenfiguren die Arbeit seiner Schüler sind.«
»Warum sollte man die Kunstwerke entfernen?«
»Sie haben antiquarischen und ästhetischen Wert«, sagte ich. »Ich schätze, sie sind mittlerweile auf dem Weg in ein Museum auf Cos.«
»Die Reliefs auf der Straße des Zentralzylinders sowie die am Zentralzylinder und am Justizzylinder selbst sind noch vorhanden.«
»Zumindest im Augenblick noch.« Das Haus, an dem wir gerade vorbeigekommen waren, schien ein außerordentlich altes Haus zu sein. Viele Bürger waren sich nicht einmal sicher, in welchem Jahr es erbaut worden war. Möglicherweise stammte es aus dem Ersten Ubarat von Titus Honorius. Viele Behörden, die ursprünglich in seinem Innern untergebracht waren, waren schon vor langer Zeit in den neuen Justizzylinder verlegt worden, der in der Nähe des Zentralzylinders lag. Übrigens gab es in diesem Bezirk, der zu den ältesten Bezirken der Stadt gehörte, viele sehr alte Häuser. Das galt vor allem für die öffentlichen Gebäude. Viele kleinere Gebäude, Läden, insulae und dergleichen mehr waren vergleichsweise neu.
Wir gingen weiter auf der Straße der Geschirre in östlicher Richtung.
»Hat dir die Vorstellung im Großen Theater gestern abend eigentlich gefallen?« fragte ich Marcus.
»Aber sicher«, sagte Marcus. »Das war genau das Richtige, um einen langen Abend totzuschlagen, bevor man dann in der Morgendämmerung von einem Konvoi aus dem Schlaf gerissen wird.«
»Ich glaubte, es könnte dir gefallen.«
Das Stück hatte den Titel ›Die Ehre von Cos‹ getragen, und Milo, trotz seines Sklavenstatus der berühmteste Schauspieler der Stadt, hatte die Rolle des Lurius von Jad gespielt. Die überdachte Bühne des Großen Theaters, das allgemein so genannt wurde, obwohl es sich eigentlich um das Theater von Pentilicus Tallux handelte, einem Arer Dichter des vorigen Jahrhunderts, der am berühmtesten für seine Gedichte in der schwierigen Trilesianischen Form sowie zweier einfühlsamer Dramen war, hatte eine Länge von hundert und eine Tiefe von etwa zwanzig Metern. Diese Bühne bot sich für große Aufführungen wie Zirkusvorstellungen und Feste an, allerdings wurde meistens nur die Mitte genutzt. Sie konnte leicht tausend Schauspieler aufnehmen. Ihre stabile Bauweise ermöglichte den Auftritt von Tharlarion, anderen Tieren und Wagen, wie sie am vergangenen Abend in den nachgestellten Schlachten, in denen Lurius durch sein persönliches Eingreifen und unter großem persönlichen Risiko immer wieder das Ruder herumgerissen hatte, sowie dem Triumphaufmarsch am Ende des Stücks gebraucht wurden.
»Hat dir das Stück gefallen?« fragte ich Phoebe.
»Ja, Herr.«
»Ich glaube, ich hörte dich aufstöhnen, als Milo die Bühne betrat«, sagte Marcus.
»Er bietet in seinem Kostüm eine stattliche Erscheinung, Herr.«
»Zweifellos«, sagte Marcus.
»Mein Herr ist doch wohl nicht eifersüchtig?« fragte Phoebe entzückt.
»Nein«, knurrte er.
»Ich glaube, sie haben elf freie Frauen entweder ohnmächtig oder hilflos aus dem Theater getragen«, sagte ich.
Marcus schüttelte den Kopf. »Es waren nicht mehr als eine oder zwei.«
»Nein, elf«, sagte ich.
»Mein Herr ist tausendmal schöner als Milo«, sagte Phoebe.
»Anscheinend willst du unbedingt die Peitsche spüren«, sagte er.
»Nein, Herr!«
»Bin ich wirklich so anziehend?« fragte er.
»Für mich schon, Herr«, sagte sie.
»Hm.« Darüber mußte Marcus nachdenken. Er war schon ein gutaussehender junger Bursche. Wenn auch nicht ganz so gutaussehend wie ich.
»Dort vorn liegt die Straße der Mauer«, sagte Marcus. Es ist die längste Straße Ars. Sie folgt der Innenseite der Stadtmauer. Das ist nicht nur für die Einwohner bequem, sondern versetzt Truppen in die Lage, schnell von einem Verteidigungspunkt zum anderen verlegt zu werden.
Ich hörte Flötenspiel.
»Halt!« befahl eine Stimme.
Marcus und ich blieben stehen; Phoebe kniete neben ihrem Herrn nieder.
»Ihr seid bewaffnet!« Der Mann trug die Uniform eines Arers, aber sein Akzent war eindeutig cosisch. Es gab noch einheimische Stadtwächter, aber ihre Zahl war stark verringert worden, und man wies ihnen Aufgaben von niedriger Verantwortung zu. Und selbst dann standen sie unter dem Befehl cosischer Offiziere. Cosianer in arische Uniformen zu stecken erweckte den Eindruck, daß sie in gewissem Sinn so etwas wie einheimische Stadtwächter waren. Vielleicht fanden die Bürger dies ja irgendwie beruhigend oder zumindest weniger anstößig, als wenn die Männer wie Angehörige einer fremden Besatzungsarmee erschienen, die für alle sichtbar cosische Uniformen trugen. Natürlich konnte man nicht abstreiten, daß sich eine große Zahl regulärer Soldaten aus Cos in der Stadt aufhielt. Ganz zu schweigen von den Söldnern, die an ihren Armbinden und Schals zu erkennen waren. Myron hatte klugerweise die Zahl der Söldner beschränkt, die die Stadt zur gleichen Zeit betreten durften. Trotzdem war es zu einigen Zwischenfällen gekommen, wie zum Beispiel Sachbeschädigungen in einigen Tavernen und Vandalismus in Bädern und Büchereien. Außerdem waren ein paar Läden geplündert worden, auch wenn davon nichts auf den Anschlagtafeln zu lesen gewesen war. Die Streitkräfte Ars waren aufgelöst worden, und zwar vollständig. Man hatte nicht einmal die Grenzpatrouillen behalten. Tiere und Ausrüstung waren von Cos übernommen worden. Die meisten der dort Beschäftigten hatten die Stadt verlassen. Ich wußte nicht, was aus ihnen geworden war. Zweifellos würden sie Arbeit suchen und einige garantiert zu Straßenräubern werden.
Ich sagte: »Ja!«
»Seid ihr aus Ar?«
»Nein.«
»Wo arbeitet ihr?« fragte der Wächter.
»Ich suche Arbeit«, sagte ich.
»Ihr kommt also nicht aus Ar?«
»Nein.«
»Kannst du mit dieser Klinge umgehen?«
»Ganz passabel.«
»Für Leute wie euch könnte es eine Anstellung geben«, sagte der Mann. »Man braucht Männer.«
»Dürfen wir passieren?«
Er sah mich an. »Was wollt ihr überhaupt hier, wenn ihr keine Arer seid?«
»Uns die Fortschritte der Arbeit ansehen.«
Er lachte. »Und die Flötenmädchen!«
»Na klar«, sagte ich.
»Ihr dürft passieren.«
Wir gingen weiter. Das Tragen von Waffen war für die Bürger Ars nun genauso illegal wie allein schon der Besitz. Die Bevölkerung Ars wurde entwaffnet. Angeblich geschah dies zu ihrem eigenen Schutz. Das Befolgen des Entwaffnungsgesetzes wurde als sichtlicher Beweis des guten Willens der Arer angesehen, als Zeichen sowohl ihrer guten Absichten wie auch ihres eifrigen Friedenswillens. Außerdem wurden sie immer wieder darauf hingewiesen, daß Waffen unnötig geworden waren, jetzt, da man ihnen nach der Befreiung die Segnungen des Friedens gebracht hatte.
»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis alle Waffen illegal sein werden«, sagte Marcus.
»Bis auf die wenigen Männer, die Waffen tragen dürfen.«
»Cosianer.«
»Und ihre Helfershelfer.«
»Dir ist nicht entgangen, daß er nach unserer Arbeit gefragt hat?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Bald wird es Vorschriften dafür geben, werden Papiere, Genehmigungen, Ostraka und dergleichen erforderlich sein.«
»Ich schätze schon.« Ich hatte so eine Ahnung, daß die Arbeit für die Cosianer in meine Pläne passen würde – und in Marcus’ Pläne auch.
»Es wird schlimmer sein als unter Gnieus Lelius.«
»Ja.« Gnieus Lelius war vermutlich schon in Cos.
»Vielleicht kann ja Milo Ar retten.«
»Sei nicht bitter«, sagte ich. Mir hatte das Schauspiel, das Cos beziehungsweise – wie sich herausstellte – Lurius von Jad verherrlichte, recht gut gefallen. Die Aufführung war hervorragend gewesen, mit großartigen Kostümen und eindrucksvollen Darstellungen. Es ist fast unmöglich, bei tausend Schauspielern auf der Bühne nicht auf wenigstens die eine oder andere Weise beeindruckt zu sein. Außerdem mußte ich trotz einiger Zweifel zugeben, daß Milo tatsächlich ein gutaussehender Bursche war und seine Rolle gut gespielt hatte. Es besaß eine gewisse Ironie, Lurius von Jad, dem ich einmal begegnet war und der eine fette Kröte war, von einem göttergleichen Burschen wie Milo porträtiert zu sehen, aber das unterstrich die Absichten des Dramas nur; außerdem gestattet die künstlerische Freiheit solche gelegentlichen thespischen Vergehen.
»Ich glaube, das Stück hat fünf Ahn gedauert«, sagte Marcus.
»Wohl höchstens drei«, entgegnete ich. »Hat dir der Bursche gefallen, der den schurkischen Gnieus Lelius spielte?«
»Natürlich«, sagte Marcus. »Ich habe gar nicht gewußt, daß selbst ein so dummer Sleen so durchtrieben sein kann.« Er schwieg. »Aber Milo mag ich nicht.«
»Du bist nur sauer, weil er so hübsch ist.«
»Das Stück war schlecht.«
»Überhaupt nicht.«
»Eine Geldverschwendung.«
»Phoebe hat es gefallen.«
»Was weiß die schon?«
»Sie ist eine kluge, gebildete Frau.«
»Sie ist eine Sklavin.«
»Jetzt hör aber auf.« Die meisten Goreaner genießen es, kluge, gebildete Frauen zu besitzen. Es ist angenehm, wenn sie einem zu Füßen liegen, während sie darum betteln, einem dienen zu dürfen, in dem Wissen, daß sie bestraft werden, wenn sie es nicht tun.
Der Eintritt hatte drei Kupfertarsk gekostet, und einer war für Phoebe gewesen. Die Uraufführung war von der Ubara Talena besucht worden. Es war mir nicht gelungen, für diese Vorstellung an Eintrittsostraka heranzukommen, da sie anscheinend beschränkt waren. Ich hatte in der Nähe des Theaters in der Menge herumgelungert, jedoch nur ihre Sänfte sehen können, die nicht von Sklaven, sondern von Bediensteten aus dem Zentralzylinder getragen wurde. Die Sänfte war von Wächtern umringt gewesen, die entweder aus Cos oder aus Ar kamen. Ich fand es schon bemerkenswert, daß die Ubara, die in der Stadt so beliebt war, so viele Wächter brauchte. Hinter der Sänfte ritten Seremides, einst der Hohe General von Ar, jetzt in Friedenszeiten der Erste Minister ihrer Majestät der Ubara, und Myron, der Polemarkos von Temos. Seremides hatte als Hauptmann natürlich das Kommando über die Palastgarde, die Taurentianer, behalten. Sie hatten eine Stärke von etwa zweitausendfünfhundert Mann. Ich hatte Talena beim Verlassen der Sänfte nicht sehen können, da dies im Innenhof des Theaters geschehen war, der von der Straße aus nicht einzusehen war. Ich hatte nur gehört, daß sie jetzt cosische Tracht trug, mich selbst aber noch nicht davon überzeugen können.
Die Flötenmusik war nun deutlich zu hören.
»Sieh nur!« sagte ich überrascht.
Ich hatte nicht gewußt, daß seit meinem letzten Besuch in der Gegend soviel geschehen war. Ein paar schnelle Schritte brachten mich zur Straße der Mauer.
In der Stadtmauer klaffte eine riesige, mehr als vierhundert Meter breite Bresche. Die untere Kante der Bresche lag in einer Höhe von etwa vierzig oder fünfzig Metern. Ihre Ränder erreichten noch die ursprüngliche Höhe der Stadtmauer, die in dieser Gegend hundertzwanzig Meter überhalb des Straßenniveaus lag. An der Bresche wimmelte es nur so von Menschen. Ein Stein nach dem anderen wurde zur Außenseite geworfen. Wie ich gehört hatte, lud man sie auf Wagen und transportierte sie ab. Auf der Mauer standen nicht nur Männer und junge Burschen, sondern auch Frauen und Mädchen.
Ich blieb mit dem Rücken zur Straße der Geschirre stehen. Marcus hatte mich einen Augenblick später eingeholt, Phoebe blieb links hinter ihm. Bei einem rechtshändigen Herrn hält sich die Sklavin immer auf der linken Seite auf, damit sie seine Waffenhand nicht behindert.
Ich sagte: »Seit unserem letzten Besuch haben sie große Fortschritte gemacht.«
»Das sind Tausende von Arbeitern, die hier und anderswo an der Stadtmauer arbeiten.«
Dies war natürlich nicht die einzige Lücke in der Mauer, nur die, die unserer Unterkunft am nächsten lag. Hier schufteten mindestens ein paar hundert Menschen. Auf der der Stadt abgewandeten Seite gäbe es natürlich noch mehr, die die Steine aufluden und fortschafften.
Die Mauern von Ar waren zu einem Steinbruch geworden.
Das würde in verschiedenen Städten negative Auswirkungen auf den Steinmarkt haben, vermutlich bis nach Venna, davon war ich überzeugt. Solche Steine konnte man für alles mögliche benutzen, obwohl die meisten natürlich verbaut wurden. Mit Sicherheit würden Gefangene und Sklaven weitab von der Stadt auch viele zu Kies zerschlagen.
Zur Zeit gab es neunzehn solcher Breschen in der Stadtmauer. Sie vermehrten nicht nur mögliche Angriffspunkte, ihre Auswahl war auch nicht nach dem Zufallsprinzip erfolgt. Man hatte sie nach den günstigsten taktischen Gesichtspunkten für einen Angriff ausgesucht; sie waren so verteilt worden, daß sich jede Verteidigungsstreitmacht weit zerstreuen mußte. Das Endziel bestand darin, die Lücken zu vermehren und letztlich zusammenzuführen, bis die Mauern von Ar bis zum Boden niedergerissen waren.
»Obwohl ich Ar hasse«, sagte Marcus, »erfüllt mich dieser Anblick mit Trauer.«
»Du haßt nicht Ar, sondern diejenigen, die Ar und Ar-Station verraten haben.«
»Ich verabscheue Ar und seine Bürger.«
»Wie du meinst.«
Wir sahen der Arbeit weiter zu.
Hier und dort gab es in Seide gekleidete Flötenspielerinnen, die manchmal mit untergeschlagenen Beinen ober- oder auch unterhalb der Arbeiter auf flachen Steinen saßen oder zwischen ihnen umherstreiften. Einige von ihnen standen auch unten auf der Straße.
»Die Flötenspielerinnen scheinen recht hübsch zu sein«, meinte Marcus.
»Sieht so aus.« Wir standen ein ziemlich Stück weit von ihnen entfernt.
»Das ist wohl einer von Lurius’ Witzen, daß die Mauern von Ar mit Flötenspiel niedergerissen werden.«
»Der Meinung bin ich auch«, sagte ich.
»Welch unglaubliche Beleidigung.«
»Ja.«
»Dir ist sicher nicht entgangen, daß viele der Mädchen dort mit untergeschlagenen Beinen sitzen.«
»Nein«, sagte ich.
»Man sollte sie auspeitschen.«
Ich nickte nur. Auf Gor sitzen nur Männer mit untergeschlagenen Beinen, niemals Frauen. Die goreanische Frau kniet, ob frei oder versklavt, ob von hoher oder niedriger Kaste. Eine derartige Pose von Seiten einer Frau, mit der sie den Mann nachäfft, ist eine ungeheuerliche Provokation. Daß mehrere der Flötenmädchen mit untergeschlagenen Beinen dort saßen, war zweifellos eine weitere Beleidigung der Bürger Ars.
»Warum bestrafen die Männer sie nicht?« fragte Marcus.
»Keine Ahnung.«
»Vielleicht trauen sie sich nicht.«
»Ich glaube eher, es hat etwas mit den neuen Einsichten zu tun.«
»Was willst du damit sagen?«
»Offiziell soll das Spiel der Flötenmädchen die Arbeit angenehmer machen.«
Marcus schnaubte. »Wer glaubt denn so etwas?«
»Viele tun jedenfalls so oder haben es sogar geschafft, sich selbst davon zu überzeugen.«
»Und was ist mit der Provokation?« fragte Marcus. »Diese Beleidigung versteht doch wohl jeder.«
»Angeblich ist die Zeit der Freiheit angebrochen«, sagte ich. »Warum also sollte ein anständiger Bürger Ars etwas dagegen haben, wenn ein Flötenmädchen so dasitzt? Ist nicht jedem alles erlaubt?«
»Nein«, sagte Marcus. »Freiheit ist etwas für die Freien. Die anderen muß man auf ihrem Platz halten, und zwar auf angemessene Weise. Eine Gesellschaft ist auf Ordnung und die Teilung der Macht angewiesen, jedes Element stabilisiert sie in harmonischer Beziehung mit allen anderen.«
»Du glaubst also nicht, daß jedermann gleich ist oder es zumindest sein sollte, trotz aller gegenteiliger Beweise, und daß eine Gesellschaft am besten in der Form eines ständigen, ungeordneten Konflikts gedeiht?«
Marcus starrte mich ungläubig an.
»Nein«, sagte ich, »ich sehe, daß du das nicht glaubst.«
»Glaubst du das denn?«
»Nein«, antwortete ich. »Nicht mehr.«
Wir wandten unsere Aufmerksamkeit wieder der Mauer zu.
»Sie arbeiten fröhlich und entschlossen«, sagte Marcus angewidert.
»Angeblich sind sogar Mitglieder des Hohen Rates als Geste zur Mauer gekommen, haben einen Stein herausgelöst und ihn in die Tiefe geworfen.«
»So demonstrieren sie ihre Treue dem Staat gegenüber.«
Ich nickte.
»Dem Staat von Cos«, sagte er erbost.
»Andererseits arbeiten viele junge Leute aus hohen Kasten Seite an Seite mit Angehörigen niedriger Kasten.«
»Hat man sie einberufen?« fragte Marcus.
»Nicht die höheren Kasten.«
»Sie haben sich freiwillig gemeldet?«
»Wie viele der anderen auch.«
»Das ist unglaublich.«
»Die Jugend ist idealistisch«, gab ich zu bedenken. ›
»Idealistisch?«
»Ja«, sagte ich. »Man sagt ihnen, dies sei eine rechtschaffene und edle Arbeit, eine Möglichkeit zur Wiedergutmachung, um für die Fehler ihrer Stadt zu büßen, daß es im Sinne des Friedens und der Brüderlichkeit geschehe.«
»Sich den Klingen von Fremden preiszugeben?«
»Vielleicht wird Cos sie beschützen«, sagte ich.
»Und wer beschützt sie vor Cos?«
»Wer braucht schon Schutz vor seinen Freunden?«
»Sie haben Ar-Station nicht miterlebt«, sagte er. »Sie haben das Delta nicht miterlebt.«
»Diejenigen, die nur wenig von der Welt gesehen haben, sind stets am empfänglichsten für Idealismus.«
»Sie sind Narren«, sagte Marcus.
»Nicht alle jungen Männer sind Narren.«
Er sah mich an.
»Du bist selbst noch sehr jung.«
»Jeder, der nicht begreift, welch ein Wahnsinn es ist, seinen Schutz niederzureißen, ist ein Narr«, sagte Marcus. »Und es ist einerlei, ob es ein junger oder ein alter Narr ist.«
»Manch einer ist eben bereit, etwas derartiges als Beweis seines guten Willens oder seiner Ehrlichkeit zu tun«, sagte ich.
»Unglaublich.«
Ich hob die Hand. »Sieh mal da, die Kinder.« Am Fuß der Bresche spielten ein paar Kinder. Sie hatten einen kleinen Steinhügel aufgeschichtet und stießen ihn nun hinunter.
Vier Männer rollten einen schweren Stein zur Außenseite. Ein Flötenmädchen parodierte oder begleitete ihre Bemühungen auf der Flöte, das Instrument schien sich mit ihnen anzustrengen, und als sie den Stein in die Tiefe stießen, spielte sie eine schrille, absteigende Tonfolge, wirbelte herum und tanzte davon. Die Männer lachten.
»Ich habe genug gesehen«, sagte Marcus angeekelt. »Laß uns gehen.«