»Steine! Ratet die Steine!« rief ein Mann. »Wer will Steine spielen?«
Steine ist ein Ratespiel, bei man eine bestimme Anzahl vorher festgelegter ›Steine‹, für gewöhnlich zwei bis fünf, in der Hand hält, und der Gegner muß die Anzahl erraten. Es gibt viele Variationen des Spiels; gewöhnlich bekommt man für das richtige Erraten der Anzahl einen Punkt. Verschätzt man sich, erhält man die Steine, und der Gegner ist mit Raten an der Reihe. Bei dem Spiel muß eine bestimmte Anzahl an Punkten erreicht werden, in der Regel fünfzig. Meistens dienen kleine Kiesel als ›Steine‹, aber es können auch andere kleine Gegenstände sein. Glasperlen oder sogar Edelsteine. Für den wohlhabenden Spielenthusiasten gibt es kunstvoll geschnitzte und bemalte Spielkästen mit liebevoll gefertigten Spielfiguren. Das Spiel ist auf Gor alles andere als ein simpler Zeitvertreib. Man bedient sich raffinierter psychologischer Spielzüge und Strategien. Ganze Vermögen haben aufgrund einer Partie Steine den Besitzer gewechselt. Erfolgreiche, bekannte Spieler werden allgemein als Meisterspieler anerkannt. In einigen Städten veranstaltet man richtige Turniere.
»Paga! Paga!« rief ein anderer Mann, der eine große Bota Paga über der Schulter trug. Links stand eine Gruppe Bauern. Gelegentlich brachen sie in Gelächter aus, vermutlich nachdem einer einen Witz oder eine Anekdote zum besten gegeben hatte.
Ein Mann eilte an mir vorbei, der zwei Sklavinnen hinter sich herzerrte; sie hielten die Arme ausgestreckt, die eng mit durch Ketten verbundene Handschellen aneinandergefesselt waren.
Ich hielt nach Phoebe und Marcus Ausschau. Hundert Meter entfernt wuchsen die Mauern von Ar in der Dunkelheit empor. An einigen Stellen brannten Feuer, Signalfeuer für die Tarnsmänner. Bei meinem letzten Besuch in Ar, als ich die gefälschte Botschaft für Aemilianus erhalten hatte, war es nicht nötig gewesen, sich zum Betreten der Stadt eine gelbe Ostraka, eine Passiermarke, zu besorgen. Anscheinend waren in der Zwischenzeit solche Vorsichtsmaßnahmen für nötig befunden worden, zweifellos aus Sicherheitsgründen oder um den Strom der Flüchtlinge zu überwachen, die in die Stadt kamen und deren Anzahl schon damals beträchtlich gewesen war. Viele hatten auf der Straße geschlafen. Ich hatte mir damals ein Zimmer in Achiates insula gemietet.
Männer, denen man in Ar das Wohnrecht einräumte, erhielten ein Ausweis-Ostrakon, also zum Beispiel Bürger, Botschafter, zur Zeit dort wohnende Ausländer oder auch Handelsagenten. Solche Ostraka galten natürlich nur für freie Personen. Sie schlössen das Aufenthaltsrecht für Sklaven mit ein. Andere Besucher konnten die Stadt mit Passiermarken betreten, die gewöhnlich auf einen Tag befristet waren. Über die Besucher wurde Buch geführt. Ein Besucher, dessen Passiermarke abgelaufen war, wurde von Stadtwächtern gesucht. Die Wächter hatten auch das Recht, sich nach Belieben die Ostraka zeigen zu lassen. Die Passier- und Ausweismarken wurden manchmal illegal erworben. Einige Männer töteten sogar dafür. Darum tauschte man die Ostraka in gewissen Zeitabständen aus und ersetzte sie durch Marken von anderer Form oder Färbung.
Mein Blick fiel auf einige Männer, die sich um einen gefüllten, eingefetteten Weinschlauch versammelt hatten. Es gab viel Gelächter. Ich gesellte mich zu ihnen und sah zu. Derjenige, der es schafft, eine bestimmte Zeit – meistens eine Ehn – auf dem Schlauch zu balancieren, gewinnt ihn mitsamt Inhalt. Die Teilnahme kostet ein Tarskstück. Es ist außerordentlich schwierig, auf dem Schlauch zu balancieren, nicht nur wegen der Glätte der dick mit Fett bestrichenen Haut, sondern vor allem wegen seiner runden Form und den unberechenbaren Bewegungen, die der darin enthaltene Wein verursacht.
»Aii!« rief ein Bursche mit rudernden Armen, bevor er herunterrutschte. Ausgelassenes Gelächter ertönte. »Wer ist der nächste?« rief der Besitzer des Schlauchs. Diese Art von Wettbewerb ist ein fester Bestandteil derartiger Bauernfeste, obwohl bei solchen Veranstaltungen, die gewöhnlich weitab von jeder Stadt inmitten der Dorfpalisaden stattfinden, die Teilnahme kostenlos ist und Wein mitsamt Schlauch als Geschenk für das Fest gestiftet werden, zu dem alle Dorfbewohner auf die eine oder andere Weise beisteuern, sei es mit fertigen Speisen, Fleisch oder Feuerholz. Bei solchen Festen finden die verschiedensten Wettbewerbe mit den unterschiedlichsten Preisen statt. Bogenschießen ist bei den Bauern ebenso beliebt wie der Kampf mit dem großen Stab. Manchmal kann sich der Sieger seinen Preis aussuchen, einen Ballen roten Stoffs, ein angebundenes Verr oder eine Sklavin. Mehr als nur ein Stadtmädchen, das einst eine parfümierte Sklavin war, die man aufs Land verkaufte und die sich den Bauern überlegen dünkte und sie wegen ihres angeblichen Gestanks und Drecks verachtete, findet sich gebunden und auf den Knien zwischen den ausgestellten Preisen wieder. Und zu ihrer Erbitterung stellt sie vermutlich fest, daß sie nicht einmal die erste Wahl ist.
In der Dunkelheit rempelte mich ein Mann an. Solange ich ihn noch sehen konnte, tastete ich nach meinem Geldbeutel. Er war noch da, völlig intakt. Diebe gehen für gewöhnlich nach zwei Methoden vor: Sie schneiden den Beutel an seinen Schnüren vom Gürtel oder schlitzen ihn an der Unterseite auf, wodurch der Inhalt in ihre Hand gleitet. Beide Methoden erfordern Geschick.
»Willst du ein gelbes Ostrakon kaufen?« Die Stimme des Mannes war kaum zu hören gewesen. Ich betrachtete ihn. Er hatte sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Falls sein Angebot ernst gemeint war, war mir in der Tat sehr daran gelegen, eine solche Marke zu erwerben.
»Die sind sehr wertvoll«, erwiderte ich.
»Nur einen Silbertarsk.«
»Bist du ein Bürger Ars?«
»Ich verlasse die Stadt«, sagte er. »Ich fürchte Cos.«
»Aber man wird sich Cos entgegenstellen und besiegen.«
»Ich verlasse die Stadt«, sagte er. »Ich brauche kein Ostrakon mehr.«
»Laß es sehen!«
Verstohlen zeigte er es mir, beinahe ohne dabei die Hand zu öffnen.
»Bring es her, hier ins Licht.«
Unwillig erfüllte er meinen Wunsch. Ich nahm ihm das Ostrakon aus der Hand.
»Zeig es nicht so auffällig herum«, flüsterte er.
Ich versetzte ihm einen harten Schlag in den Bauch, er krümmte sich zusammen und sank auf die Knie. Er ließ den Kopf sinken, würgte und übergab sich neben einem Feuer auf den Boden.
»Wenn du keinen Paga verträgst, dann troll dich«, knurrte ein Bauer, der dort saß.
Der Bursche sah mit schmerzverzerrtem Gesicht verständnislos zu mir hoch.
»Es ist tatsächlich ein gelbes Ostrakon«, sagte ich, »in einer ovalen Form, wie die gültigen Ostraka.«
»Bezahl mich!« stieß er mühsam hervor.
»Erst heute morgen war ich am Sonnentor«, fuhr ich fort, »wo die derzeitigen Listen angeschlagen sind, um solche Betrügereien zu verhindern, wie du sie vorhattest.«
»Nein.«
»Diese Ostrakon-Serie wurde eingestellt, vermutlich schon vor Monaten.«
»Nein«, keuchte er.
»Du könntest es aus einem Carnarium haben«, sagte ich. Das waren die großen Abfallgruben außerhalb der Stadtmauern.
Ich brach das Ostrakon in zwei Teile, die ich ins Feuer warf.
»Verschwinde!« raunte ich dann leise dem Burschen zu.
Er kam taumelnd auf die Füße und schlich zusammengekrümmt davon.
»Vielleicht müssen sie das mit den Ostraka aufhören«, sagte der Bauer, der mit untergeschlagenen Beinen am Feuer saß.
»Warum?«
»Es ist gefährlich, sie bei sich zu tragen«, sagte er. »Zu viele Leute werden ihretwegen ermordet.«
»Und was wird Ar dann tun?« fragte ich.
»Ich glaube, es wird seine Tore schließen.«
»Aber seine Regimenter stehen zwischen seinen Toren und Cos.«
»Das ist wahr«, sagte der Bauer.
Ich begab mich wieder auf die Suche nach Marcus und Phoebe. Er war natürlich ziemlich stolz auf sie. Ich zweifelte keinen Augenblick lang daran, daß er hier seine Kreise zog, scheinbar ziellos umherschlenderte, doch in Wahrheit mit ihr angab. Sie war mit Sicherheit eine der schönsten Sklavinnen in der Gegend.
Ich betrachtete die Stadtmauern. Wie hoch ragten sie doch empor! Und doch bestanden sie nur aus Stein und Mörtel. Man konnte sie bezwingen, ihre Brücken in Blut tauchen. Aber zwischen ihnen und den Flaggen von Cos standen die restlichen Regimenter Ars. Alles war gut.
Plötzlich ertönte ganz in der Nähe lautes Grunzen und das Aufeinandertreffen großer Stäbe, untermalt von Anfeuerungsrufen. Zwei kräftige Burschen trugen einen Stabwettkampf aus. Sie waren beide gut. Manchmal konnte ich den Bewegungen der Waffen kaum mit dem Auge folgen. »Paß auf!« rief ein Zuschauer einem der Kämpfer zu. »Ein Hurra für Rarir!« rief ein anderer. Einer der Kämpfer schrie auf und taumelte mit blutiger Schläfe zur Seite. »Guter Schlag!« rief ein Zuschauer. Aber der Kämpfer griff mit doppelter Energie wieder an. Ich blieb noch einen Moment lang stehen. Es gelang dem Jungen aus Rarir, die Deckung seines Gegners zu durchbrechen und ihm die Stabspitze vor die Brust zu rammen. Sofort ließ er einen Schlag auf den Kopf folgen, und der Mann geriet ins taumeln. Dann, im letzten Augenblick, hielt er sich zurück. Der benommene Gegner ließ sich zu Boden sacken und lachte.
»Ein Sieg für Rarir!« rief ein Zuschauer. »Bezahl uns!« rief ein anderer. Der Sieger hielt dem Besiegten die Hand hin und zog ihn auf die Füße. Sie umarmten sich. »Paga!« rief ein Mann. »Paga für beide!«
Ich ging weiter.
Weder von Marcus noch seiner zauberhaften Sklavin war etwas zu sehen. Vermutlich waren sie ins Zelt zurückgekehrt.
Zwei Männer feilschten um den Preis eines Verr.
Ein mit einem Joch beladenes Sklavenmädchen ging vorbei, an beiden Enden des Jochs schwankten Eimer. Vermutlich holte sie Wasser für die Zugtharlarion. Es befanden sich einige im Lager. Ich hatte sie gerochen.
Ein Kerl stolperte betrunken vorbei.
Ich sah dem Mädchen nach. Es war klein und hübsch. Vermutlich mußte es mehrmals gehen, um Wasser für die Tharlarion zu holen.
Ich fragte mich, ob der Betrunkene wußte, wo seine Lagerstatt war. Glücklicherweise gab es in der Nähe keine Carnaria. Es wäre nicht angenehm, in eine dieser Gruben zu fallen.
An einem der Lagerfeuer wurde gesungen.
Ich hörte das Knallen einer Peitsche, gefolgt von Schluchzen. Ein Mädchen wurde diszipliniert. Sie lag auf den Knien, gefesselt, die Handgelenke über dem Kopf an eine zwischen zwei Pfählen befestigte Stange gebunden. Soweit ich es verstand, war sie ungehorsam gewesen.
In einem Zelt gab es eine lautstarke, erhitzte politische Diskussion. Ich hörte zu.
»Marlenus von Ar wird zurückkehren«, sagte ein Mann, seinem Akzent nach zu urteilen ein Arer. »Er wird uns retten.«
»Marlenus ist tot«, widersprach eine zittrige alte Stimme.
»Dann soll doch seine Tochter Talena den Thron besteigen«, schlug ein dritter Mann vor.
»Sie ist nicht mehr seine Tochter«, erklärte der Arer. »Marlenus hat sie verstoßen.«
»Und wie kommt es dann, daß in der Stadt ihre Kandidatur für den Thron ernsthaft in Betracht gezogen wird?«
»Ich weiß es nicht.«
»Einige sehen in ihr schon eine mögliche Ubara.«
»Das ist absurd.«
»Da sind viele aber anderer Meinung.«
»Sie ist eine anmaßende und wertlose Schlampe«, behauptete der Alte. »Man sollte ihr einen Kragen um den Hals legen.«
»Paß auf, was du sagst, bevor man es dir als Verrat auslegt!«
»Kann es Verrat sein, wenn man die Wahrheit ausspricht?«
»Ja!«
»Vielleicht kennt sie ja sogar Marlenus’ Aufenthaltsort«, sagte der Arer. »Sie und andere könnten sogar für sein Verschwinden oder seine lange, andauernde Abwesenheit verantwortlich sein.«
»Ich habe nicht gehört, was du da gesagt hast«, erklärte sein Freund.
»Und ich habe es nicht gesagt«, bekam er zur Antwort.
»Und ich glaube, Talena wird den Thron von Ar besteigen.«
»Wie praktisch für Cos!« sagte ein anderer Mann, der sich bis jetzt noch nicht zu Wort gemeldet hatte. »Das ist bestimmt genau das, was sich Cos wünscht: daß eine Frau auf dem Thron von Ar sitzt.«
»Vielleicht werden sie ja dafür sorgen, daß genau das geschieht.«
»Ar schwebt in großer Gefahr.«
»Wir müssen auf die Priesterkönige vertrauen!«
»Ja, genau!«
»Ich kann mich an eine Zeit erinnern«, sagte der erste Sprecher, der Arer, »da haben wir auf unseren Stahl vertraut.«
Ich ging weiter.
»Ai!« rief ein Mann ein paar Meter entfernt und rutschte von dem gefüllten Weinschlauch hinunter. Er würde weder den Schlauch noch seinen Inhalt gewinnen. Es gab viel Gelächter.
»Der nächste!« rief der Besitzer des Schlauchs. »Der nächste!« Bei einem Einsatz von einem Tarskstück hatte er bestimmt schon mehr Geld verdient, als Schlauch und Wein kosteten.
Ich fragte mich, ob es mir gelingen würde, auf dem Schlauch zu balancieren. Wie gesagt, es ist nicht einfach.
Der nächste versuchte sich an der Aufgabe, lag aber schon im nächsten Augenblick im Staub auf dem Rücken. Wieder erscholl vergnügtes Gelächter.
»Ein ausgezeichneter Versuch!« rief der Besitzer des Weinschlauches. »Möchtest du es noch einmal versuchen?«
»Nein«, sagte der Verlierer.
»Wir halten dich auch fest, während du hinaufsteigst«, bot der Besitzer an.
Aber der Mann winkte gutmütig ab und ging.
»Ein Tarskstück!« rief der Besitzer. »Nur ein Tarskstück! Gewinnt den Wein, den besten Ka-la-na, einen ganzen Schlauch, das ist genug für euer ganzes Dorf.«
»Ich versuche es«, sagte einer der Bauern entschlossen.
Ich gesellte mich zu dem Kreis der Zuschauer.
Man half dem Herausforderer auf den Schlauch hinauf. Aber schon eine Ihn später stürzte er zu Boden. Das Publikum schlug sich auf die Schenkel und brüllte vor Lachen.
»Wo ist jetzt der Wein?« rief einer seiner Freunde.
Weiteres Gelächter erscholl.
Mir ging durch den Kopf, wie seltsam es doch war, daß diese Menschen, die so wenig besaßen und in tödlicher Gefahr geschwebt hätten, wäre da nicht die Armee von Ar gewesen, die sich zwischen Cos und die Stadt stellte, so ausgelassen sein konnten.
Ich sah dem nächsten zu, dem man auf den Schlauch half.
Vermutlich hätte ich mittlerweile ohne weiteres ins Zelt zurückkehren können. Es war schon spät, und vermutlich waren Marcus und Phoebe längst eingeschlafen. Gewöhnlich ließ Marcus sie zu seinen Füßen schlafen – in diesem Fall wären ihre Fußgelenke überkreuzt und aneinandergekettet – oder an seiner Hüfte, dann trüge sie eine kurze Halskette, die an seinem Gürtel festgemacht war. Läßt man ein Mädchen auf diese Weise schlafen, hat das den Vorteil ihrer leichten Verfügbarkeit. Allerdings waren diese Vorkehrungen, falls sie ihre Flucht verhindern sollten, meiner Meinung nach völlig unnötig. Phoebe verbanden mit ihrem Herrn Bande, gegen die das stabilste, aus den stärksten, gröbsten Fasern geknüpfte Seil oder schwere, unzerstörbare Eisenketten so zerbrechlich wie Spinnenfäden waren. Sie liebte ihren Herrn innig und von ganzem Herzen. Und auch wenn er sich wegen seiner Schwäche Vorwürfe machte und gereizt, launisch und wütend war, war er doch vernarrt in seine schöne Sklavin.
Der Mann versuchte sich auf dem dicken, buckelnden Weinschlauch zu halten und rutschte herunter. Er war nicht schlecht gewesen. Beinahe hätte er den Wein gewonnen.
Applaus ertönte in dem kleinen Kreis.
Ganz in der Nähe pries ein Mann unüberhörbar den Stand eines Gedankenlesers an. Dieser Gedankenleser las vermutlich Münzen. Ein Zuschauer, der als Kandidat mitmacht, wählt aus einer Anzahl von Münzen, die auf einem Teller oder Tablett ausgebreitet liegen und vorher eingesetzt werden – für gewöhnlich Tarskstücke –, vorgeblich ohne Wissen des Gedankenlesers oder seines Vertrauten ein Geldstück aus, nimmt es fest in die Hand und konzentriert sich darauf. Nachdem die Münze wieder zurückgelegt wurde, dreht sich der Gedankenleser um und sucht die betreffende Münze heraus, weitaus öfter, als nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung möglich wäre. Der Zuschauer verliert dann das Tarskstück. Wählt der Gedankenleser die falsche Münze aus, erhält der Spieler das Geld. Es muß ein Trick dabei sein, obwohl ich ihn nicht kenne. Meiner Meinung nach nehmen die Goreaner ziemlich unkritisch an, daß der Gedankenleser tatsächlich Gedanken lesen kann.
Ihre Argumentation lautete wie folgt: Es ist eine Tatsache, daß ein Mann weiter in die Ferne sehen kann als ein anderer. Warum sollte es dann nicht auch möglich sein, daß jemand Gedanken ›lesen‹ kann? Einige Goreaner glauben auch an Magie, da sie im Gegensatz zu einem irdischen Publikum weniger mit Zauberkunststückchen, Taschenspielereien oder Illusionen vertraut sind. Ich habe Goreaner kennengelernt, die zum Beispiel tatsächlich glaubten, daß ein Zauberer ein Mädchen verschwinden lassen und sie dann aus dem Nichts wieder herbeizaubern könne. Sie vertrauen blindlings ihren Sinnen. Das Befragen eines Orakels vor dem Beginn von Feldzügen, Geschäftsunternehmungen und dergleichen mehr ist auf Gor weit verbreitet. Viele Goreaner machen sich Gedanken wegen solcher Dinge wie den Spuren von Spinnenbeinen oder dem Vogelflug. In unsicheren, schwierigen Zeiten gibt es wie auch auf der Erde auf Gor eine Kundschaft für Leute, die behaupten, die Zukunft vorhersagen zu können.
»Edler Bürger!« rief der Besitzer des Weinschlauchs. »Was ist mit dir?«
Ich sah ihn überrascht an.
»Ein Tarskstück, eine Gelegenheit zu gewinnen!« lud er mich ein. »Denk nur an den Weinschlauch, für dich und deine Freunde!«
Ein Weinschlauch würde mindestens vier oder fünf Kupfertarsk einbringen.
»Also gut«, sagte ich.
Die Zuschauer nickten und gaben ihren Beifall kund. »Ein guter Mann«, sagte mehr als nur einer von ihnen.
»Du willst doch bestimmt nicht deine Sandalen anbehalten«, sagte der Besitzer.
»Natürlich nicht.« Ich streifte sie mir von den Füßen. Dann rieb ich die Füße fest durch den Staub.
»Laß dir hinaufhelfen«, sagte der Mann.
»Das ist nicht nötig«, erwiderte ich.
»Komm schon, ich helfe dir.«
»Also gut«, sagte ich. Es war mir nicht gelungen, auf den Schlauch zu steigen.
»Bist du bereit?« fragte der Besitzer und stützte mich.
»Ja«, sagte ich zögernd. Ich wünschte, Lecchio aus der Truppe von Boots Tarskstück wäre hiergewesen. Er hätte es mit Leichtigkeit geschafft.
»Bereit?«
»Ja!«
»Die Zeit läuft!« rief der Mann und ließ los. »Wie gut du das kannst!« rief er dann genau in dem Augenblick, in dem ich auch schon von dem Schlauch rutschte. Ich landete lachend auf dem Boden. »Das hat er gut gemacht!« sagte ein Zuschauer. »War er überhaupt schon drauf?« fragte ein anderer Mann, der anscheinend gewettet hatte. »Er ist schon heruntergerutscht«, wurde er belehrt. »Er hat sich gut gehalten, er muß mindestens zwei Ihn dort oben gewesen sein.« Ich war der Meinung, daß es schon etwas länger gewesen war. Oben auf dem Schlauch erschien eine Ihn wie eine Ehn.
»Wer ist der nächste?« fragte der Besitzer in die Runde.
Ich sah mich um und suchte meine Sandalen. Ich hielt sie gerade in der Hand, als mir eine gewisse Stille auffiel; die Männer blickten alle in eine Richtung. Ich folgte ihrem Blick. Dort, am Rand des Kreises, trat ein bärtiger großer Mann aus der Dunkelheit, der mit Tunika und Umhang bekleidet war. Ich hielt ihn für einen Bauern. Er blickte sich um, aber auf eine Weise, als sehe er nichts von Bedeutung.
»Möchtest du dein Glück versuchen?« fragte der Besitzer des Weinschlauchs. Es freute mich, daß er den Fremden angesprochen hatte.
Der Neuankömmling trat langsam und zögernd vor, als käme er von weither.
»Man muß auf dem Schlauch stehen«, sagte der Besitzer. »Es kostet ein Tarskstück.«
Der Bärtige stellte sich vor den Besitzer, der im Vergleich klein erschien, und blickte auf ihn hinunter. Der Besitzer zitterte leicht. Dann drückte der Bärtige ihm ein Tarskstück in die Hand.
»Man muß auf dem Schlauch stehen«, sagte der Besitzer erneut unsicher.
Der große Mann sah ihn nur an.
»Vielleicht wirst du ja gewinnen«, sagte der Besitzer. Dann rief er: »Was tust du da?«
Niemand machte Anstalten, den großen Mann aufzuhalten, der seinen Umhang zurückschlug, ein Messer aus der Scheide am Gürtel zog und dann ganz langsam und bedächtig den Schlauch aufschnitt. Wein schoß aus der Öffnung, spritzte über die Knöchel des großen Mannes und rann in breiten Bahnen über den Boden. Der Staub war jetzt rot. Es sah fast wie Blut aus.
Der große Mann steckte das Messer zurück und stellte sich auf den leeren Weinschlauch. »Ich habe gewonnen«, verkündete er.
»Der Schlauch ist zerstört«, sagte der Besitzer. »Der Wein ist weg.«
»Aber ich habe gewonnen«, sagte der Bärtige.
Der Besitzer des aufgeschlitzten Weinschlauchs verstummte.
»Zwanzig Mann waren bei mir«, sagte der große Mann. »Allein ich überlebte.«
»Er gehört zu der Bauernwehr!« rief da einer der Zuschauer. Man hatte Bauernwehren als Verstärkung für die restlichen regulären Truppen aufgestellt.
Plötzlich rief alles durcheinander.
»Berichte! Sprich!«
»Der Schlauch ist aufgeschlitzt«, sagte der Mann. »Der Wein ist weg!«
Dann nahm er den Umhang ab und legte’ ihn sich über den Arm.
»Er ist verwundet!« sagte ein Mann. Die linke Seite der Tunika des Bauern war blutverkrustet. Der Umhang war daran festgeklebt, als er ihn abnahm.
»Berichte!«
»Ich habe gewonnen!« sagte der Bärtige.
»Er spricht im Fieberwahn«, sagte einer der Zuschauer.
»Nein!« widersprach ich.
»Ich habe gewonnen«, sagte der Bärtige mit dumpfer Stimme.
»Ja«, sagte ich. »Du hast auf dem Schlauch gestanden. Du hast gewonnen.«
»Aber der Schlauch ist zerstört, der Wein versickert«, sagte ein Mann.
»Aber er hat gewonnen«, beharrte ich.
»Was ist im Westen geschehen?« wollte ein anderer Mann wissen.
»Ar hat verloren«, sagte der Bärtige.
Die Umstehenden blickten sich fassungslos an.
»Die Flaggen Cos’ bewegen sich auf die Tore von Ar zu«, sagte der Bärtige.
»Nein!«
»Ar ist wehrlos«, stöhnte jemand.
»Schlagt die Alarmstäbe!« schluchzte ein anderer. »Die Stadt muß die Tore versiegeln.«
Ich hatte eine ziemlich genaue Vorstellung von der Macht Cos’. Ich hatte auch eine ziemlich genaue Vorstellung von den Streitkräften, die sich in Ar befanden und hauptsächlich aus Stadtwächtern zusammensetzten. Ar würde keiner Belagerung standhalten.
»Ich habe gewonnen«, sagte der Bärtige.
»Und wieso hast du gewonnen?« fragte ein Mann wütend.
»Ich habe überlebt.«
Ich betrachtete den aufgeschlitzten Weinschlauch und den geröteten Staub. Ja, dachte ich, er gehört zu der Sorte von Mann, die überleben werden.
Zuschauer flohen aus der Runde. In weniger als einer Ihn war das Lager in Aufruhr.
Zelte wurden umgerissen.
Eine Sklavin rannte vorbei.
Aus Ar drang der Klang von geschlagenen Alarmstäben heran. Einige Insassen des Lagers schienen zu jammern. Aber die meisten, vor allem die Bauern, schienen ihre Besitztümer zusammenzusuchen.
Der bärtige große Kerl saß nun auf dem Boden und drückte weinend den feuchten Weinschlauch an die Brust.
Ich blieb eine Zeitlang dort stehen, die Sandalen in der Hand.
Männer hasteten an mir vorbei, zogen ihre Wagen und Karren. Einige hatten ihre Sklavinnen davorgekettet. Ein Teil der Frauen stand auch dahinter und schob. Tharlarion brüllten, als sie angeschirrt wurden.
»Wie weit ist Cos entfernt?« fragte ich den Bärtigen.
»Zwei, drei Tage«, erwiderte er.
Mir wurde klar, daß es von Myrons Entscheidung abhing, wie viele Tagesmärsche er befehlen wollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß er seine Männer antrieb. Er war ein ausgezeichneter Befehlshaber, und ich entnahm dem Gehörten, daß es nicht den geringsten Grund zur Eile gab. Möglicherweise ließ er seine Männer sogar einen Tagt oder zwei Tage ausruhen. Auf jeden Fall würde er sie frisch und munter vor die Tore Ars führen.
Ich zog die Sandalen an.
Viele der Lagerfeuer waren gelöscht worden. Unter Umständen würde es schwierig werden, den Rückweg zum Zelt zu finden.
»Alles in Ordnung mit dir?« fragte ich den Bärtigen.
»Ja«, sagte er.
Ich blickte zu den Mauern von Ar herüber. Hier und dort huschten Schatten an den Tarnfeuern vorbei; die Tarnsmänner kehrten zurück.
Ich blickte nach Westen. Irgendwo dort draußen standen die Truppen von Cos, deren Appetit vom Sieg angeregt worden war. In weniger als einer Woche stünden sie in Sichtweite von Ar, begierig auf den Kampf und auf Beute. Ich lauschte den Tönen der Alarmstäbe aus der Ferne, aus der Stadt. Ich fragte mich, wie ihre freien Frauen heute nacht wohl schlafen würden. Würden sie sich voller Furcht auf ihren mit Seidenlaken bezogenen Betten herumwerfen? Ich fragte mich, ob sie in dieser Nacht ihre Abhängigkeit von den Männern besser begriffen als in anderen Nächten. Sicherlich wußten sie tief im Innern ihrer hübschen Körper, daß sie genau wie die Sklavinnen in ihren Käfigen Kriegsbeute darstellten.
»Betet zu den Priesterkönigen! Betet zu den Priesterkönigen!« schluchzte ein Mann.
Ich stieß ihn beiseite und suchte mir meinen Weg durch die Menschenmenge, vorbei an den Wagen und den Tharlarion. Ein paar Ehn später war ich an unserem Zelt angelangt.