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»Wo ist Ibn Saran?« fragte Haroun, der Hohe Pascha der Kavars. Der Mann, der mit gefesselten Händen vor ihm kniete, rief: »Ich weiß es nicht!«

»Er muß noch in der Festung sein!« bemerkte ein Mann.

»Die Kasbah ist erobert«, sagte ein anderer. »Sie gehört uns. Aber er ist nicht hier. Andererseits kann er nicht geflohen sein.«

»Brennt die Kasbah nieder!« rief jemand aus dem Hintergrund.

»Nein«, sagte Haroun. Dazu war die Festung viel zu wertvoll. Die Kavars wollten sie übernehmen.

Ich betrachtete die gefesselten Gefangenen in dem großen Saal. Ibn Saran war nicht darunter.

Draußen, im Schatten der Kasbahmauern, knieten zahlreiche andere Gefangene; dort befand sich Ibn Saran ebenfalls nicht.

Ibn Saran war nicht der einzige, den wir vermißten. Unter den Gefangenen und Gefallenen fehlte Abdul, Wasserverkäufer und Agent des großen Abdul, auch Ibn Saran genannt; außerdem fehlte der verräterische Hamid, der Suleiman verwundet hatte.

Mit wehendem Burnus drehte sich Haroun um und sprang zornig auf die Plattform des Salz-Ubar.

»Nehmen wir einmal an, Pascha«, sagte ich zu ihm, »daß Ibn Saran diese Kasbah betreten hat.«

»Das hat er getan!« rief ein Mann.

»Nehmen wir außerdem an, daß unsere Suche sehr gründlich war und niemand durch unsere Reihen schlüpfen konnte.«

»Das könnte ja alles richtig sein«, sagte Haroun. »Aber wie können deine Vermutungen stimmen, wenn Ibn Saran dennoch nicht gestorben oder in unsere Hände gefallen ist?«

»Ganz in der Nähe steht eine zweite Kasbah die Festung seiner Verbündeten Tarna«, sagte ich.

»Die wäre durch die Wüste aber nicht zu erreichen gewesen«, sagte ein Mann.

»Ja! Ja!« rief Haroun. »Begleitet mich!«

Gefolgt von zahlreichen Männern, die sich mit Lampen versehen hatten, stieg er in die Verliese und Kellerräume unter der Kasbah hinab. Eine Stunde später fanden wir hinter einem scheinbar festen Regal in einem unschuldig wirkenden Vorratsraum tief unter der Erde eine Falltür und dahinter einen Durchgang.

Wir verschafften uns Zugang und stießen auf einen unbeleuchteten Tunnel. Dieser Tunnel stellte eine unterirdische Verbindung zur benachbarten kleinen Kasbah her, die von Tarna, der Banditenführerin, beherrscht wurde.

»Ibn Saran«, sagte ein Mann, »hält sich zweifellos in Tarnas Kasbah auf.«

»Aber diese Kasbah haben wir nicht erobert«, klagte ein Mann.

»Ibn Saran ist uns also entwischt. Er wird aus Tarnas Kasbah fliehen.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Haroun lächelnd. »Die Kasbah Tarnas wird nämlich belagert.«

»Unmöglich«, sagte Suleiman Pascha. »Dort halten sich keine Aretai auf.«

Andere Stammesführer stimmten ihm zu; auch sie hatten keine Männer dorthin abkommandiert. »Wenn nicht die Kavars und nicht die Aretai und auch kein anderer Stamm die Festung belagern wer ist es dann?« wollte Suleiman wissen.

»Tausend Lanzen bedrohen die Kasbah«, erwiderte Haroun. »Tausend Kaiilareiter.«

»Und woher hast du diese tausend Lanzenreiter?«

Haroun lächelte. »Darüber sollten wir bei Bazi-Tee sprechen, wenn der Tag vorüber ist. Im Augenblick gibt es wichtigere Dinge.«

Suleiman grinste. »Führe uns an, Kavar-Sleen!« sagte er. »Du hast die Kühnheit Hassans des Banditen, mit dem dich eine große Ähnlichkeit verbindet.«

»Das hat man mir schon öfter gesagt«, erwiderte Haroun. »Hassan muß ein mutiger und sympathischer Bursche sein!«

»Das könnte man bei Bazi-Tee besprechen, wenn der Tag zu Ende ist«, sagte Suleiman und musterte Haroun aus zusammengekniffenen Augen.

»Gewiß«, sagte Haroun. Daraufhin machte er kehrt und schritt in den Tunnel. Hunderte von Männern, zu denen auch ich zählte, folgten ihm; viele trugen Lampen.

Auf der Spitze des höchsten Turms von Tarnas Kasbah stießen wir auf Ibn Saran - Hassan führte den Angriff, ich befand mich dicht hinter ihm.

»Kameraden!« sagte Ibn Saran und hob seinen Krummsäbel.

»Er gehört mir«, sagte Hassan.

»Vorsicht!« sagte ich.

Sofort begannen die beiden Männer zu kämpfen. Selten hatte ich einen schöneren Schwertkampf gesehen.

Kurz darauf traten die beiden Männer zurück. »Du kämpfst gut«, sagte Ibn Saran. Er schien zu schwanken. »Ich kann dich jederzeit besiegen.«

»Das ist lange her«, gab Hassan zurück.

»Ja«, sagte Ibn Saran, »das ist lange her.« Grüßend hob er den Krummsäbel in meine Richtung.

»Man erringt einen Sieg«, sagte ich. »Und verliert einen Feind.«

Ibn Saran nickte mir zu. Dann wurde sein Gesicht bleich, er machte kehrt und taumelte zur Balustrade des Turms.

Gleich darauf ließ er sich in die Tiefe fallen.

Hassan steckte sein Schwert in die Scheide. »Ich hatte einmal zwei Brüder«, sagte er. »Der eine kämpfte für die Priesterkönige. Er starb in der Wüste. Der andere kämpfte für die Kurii. Er starb auf dem Turm von Tarnas Kasbah.«

»Und du?«

»Ich hatte mir vorgenommen, neutral zu bleiben«, erwiderte er. »Ich mußte feststellen, daß das unmöglich war.«

»Es gibt keine Neutralität«, bemerkte ich.

»Nein«, sagte er und sah mich an. »Ich hatte einmal zwei Brüder.« Er faßte mich an den Schultern. In seinen Augen standen Tränen. »Jetzt habe ich nur noch einen.«

»Bruder«, sagte ich.

»Bruder«, erwiderte er.

Hassan richtete sich auf. »Es gibt Arbeit«, sagte er. Wir hasteten die Turmtreppen hinab und begaben uns auf die Mauern der Kasbah. Unten in der Wüste wurden bereits Gefangene zur Festung zurückgetrieben; sie hatten in die Tahari fliehen wollen.

Zu ihnen gehörte Abdul der Wasserverkäufer, dichtauf gefolgt von Hamid, dem ehemaligen Leutnant Shakars, des Hauptmanns der Aretai. Shakar selbst eilte aus der Kasbah, um sich um Hamid zu kümmern. Dieser hatte offenbar mit den Männern des Salz-Ubar gekämpft und dabei die Klinge gegen seine eigenen Stammesbrüder erhoben.

Hassan und ich stiegen in den Hof der Kasbah hinab.

Verblüfft starrte ich dort auf einen Kaiilareiter den Anführer der geheimnisvollen Lanzentruppe, von der Hassan gesprochen hatte. Er schob seinen Schleier zur Seite.

»T’Zshal!« rief ich.

Der bärtige Mann grinste mich an.

»Ich habe tausend Kaiila und tausend Lanzen mit den entsprechenden Vorräten nach Klima geschickt«, erklärte Haroun, der hohe Pascha der Kavars. »Ich hatte mir gedacht, daß uns solche Männer nützen könnten.«

T’Zshal hob seine Lanze; die Kaiila stieg auf die Hinterhand. »Wir werden die Kavars nicht vergessen, Pascha«, sagte er.

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Hoffentlich hatte Hassan hier keinen schrecklichen Fehler begangen. Wer konnte es wagen, solche Männer mit Waffen zu versorgen?

T’Zshal zog geschickt sein Tier herum. Er war ein Sohn der Tahari. Sandwolken wurden aufgewirbelt, als er an der Spitze seiner Männer in die Wüste hinausgaloppierte, um zu seinen Truppen zu stoßen, die die Kasbah umzingelt hatten.

Hamid und Abdul knieten gefesselt im Sand.

Hassan hielt seinen Krummsäbel an Hamids Hals. »Wer hat den Anschlag auf Suleiman Pascha verübt?« fragte er drohend. Hamid sah ihn an. »Ich«, sagte er.

»Bringt ihn weg«, befahl Suleiman Pascha. Hamid wurde davongezerrt.

»Woher wußtest du, daß er der Attentäter war?« fragte Suleiman.

»Ich war doch dabei«, erwiderte Hassan. »Ich habe die Tat gesehen.«

»Haroun, der Hohe Pascha der Kavars?« rief Shakar. »Unmöglich! Es waren doch nur Aretai anwesend, außerdem Ibn Saran, Hakim aus Tor und . . .« Er hielt inne.

»Und Hassan der Bandit«, sagte Hassan lächelnd.

»Du!« rief Suleiman und begann zu lachen.

»Du hast doch nicht etwa angenommen, daß es zwei solche sympathischen und wagemutigen Männer gibt!« sagte Hassan.

»Kavar-Sleen!« rief Suleiman lachend.

»Bitte behaltet meine zweite Identität für euch«, bat Hassan. »Sie ist mir manchmal recht nützlich, besonders wenn einem die Pflichten des Paschas zu schwer werden.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagte Suleiman. »Dein Geheimnis ist bei mir in sicheren Händen.«

»Bei mir auch«, sagte Shakar.

»Du bist Hakim aus Tor, nicht wahr?« wandte sich Suleiman an mich.

»Jawohl, Pascha«, erwiderte ich und trat vor.

»Wir haben dir großes Unrecht zugefügt«, sagte er.

Ich zuckte die Achseln. »In dieser Kasbah gibt es noch einige Widerstandsnester. Bitte gestatte mir, mich darum zu kümmern.«

»Möge dein Auge scharf und deine Klinge schnell sein«, sagte Suleiman Pascha. Ich verbeugte mich.

»Und was soll aus diesem kleinen Sleen werden?« fragte Shakar und deutete auf den Wasserverkäufer Abdul, der im Sand kniete.

»Bringt ihn ebenfalls fort.«

Ich betrachtete das Hauptgebäude der Kasbah. In einigen Räumen wurde noch gekämpft.

»Sucht Tarna«, sagte Suleiman Pascha. »Bringt sie zu mir.« Männer hasteten davon. Ich beneidete die Frau nicht. Sie war frei. Sie hatte Brunnen zerstört. Schlimme Folterqualen erwarteten sie, die nur mit dem Tod enden konnten.

Die Männer der Tahari haben wenig Geduld mit Menschen, die Brunnen zerstören.

Ich entfernte mich unauffällig.

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