Ich hielt die Leine zusammengerollt in der linken Hand; sie war am Griff des durchlöcherten Schöpfkegels befestigt, der in meiner Rechten pendelte.
Es war kühl in der Höhle, auf dem großen Floß. An jeder Ecke des Floßes schimmerte auf einem hohen Pfahl eine kleine Öllampe. Es war dunkel hier unten; das einzige Licht kam von unseren Lampen und den Lichtern der anderen Flöße. Ich vermochte, zwei Flöße zu erkennen; das eine etwa zweihundert Meter entfernt, das andere gut einen Pasang entfernt auf dem Wasser. Stellenweise vermochten wir die Decke der Höhle zu erkennen, nur wenige Fuß über unseren Köpfen; dann wieder verlor sich die Höhlung in der Dunkelheit und mochte eine Höhe von hundert oder mehr Fuß erreichen. Ich schätzte, daß wir uns etwa vierhundert Fuß unter der Goroberfläche befanden. In dem dunklen, zähflüssigen Wasser unter uns schwankte das Floß.
Ich warf den Schöpfkegel in die Dunkelheit hinaus, wobei ich das Seil mit der linken Hand auslauten ließ.
Acht weitere Männer verrichteten auf unserem Floß dieselbe Arbeit; sie warfen ebenfalls Kegel aus und wurden ›Einsammler‹ genannt. Außerdem befanden sich vier Stakenmänner und der Steuermann an Bord. Die Einsammler und die Männer an den Staken wurden periodisch ausgewechselt. Das Floß wurde durch ein Paddel am Heck gelenkt hierfür ist der Steuermann zuständig. Die Stakenmänner sorgen für die Fortbewegung. Die Stangen sind am unteren Ende beschwert und haben eine Länge von etwa zwanzig Fuß. Läßt man eine solche Stange im tiefen Wasser los, bleibt sie aufrecht stehen, und etwa ein Meter ragt noch über die Wasseroberfläche. Das Gewicht erleichtert die Aufgabe, die Stange unter Wasser zu halten. Natürlich gibt es Stellen in der Höhle, wo das Wasser tiefer ist. Hier werden Paddel eingesetzt, von denen jedes Floß vier besitzt; sie sind in der Nähe der Aufbewahrungsfässer befestigt. Allerdings läßt sich so ein Floß mit Paddelkraft nur mühsam fortbewegen. Das Floß ist etwa zwölf Fuß breit und vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Fuß lang. Jedes Floß verfügt über einen niedrigen Rahmen, in dem sich die Aufbewahrungsgefäße befinden; etwa einen Meter hohe und vier Fuß durchmessende Fässer. Jedes Floß hat vier dieser Fässer an Bord, entweder in einem langen Rahmen in einer Reihe oder paarweise in der Mitte des Floßes angeordnet.
Ich ließ den Kegel zum Grund hinabsinken.
An den Salzdocks werden die Fässer mit Hilfe von Flaschenzügen und Gegengewichten von den Flößen gehoben; für diese Arbeit ist die jeweilige Floßbesatzung zuständig. Hängen die Aufbewahrungsgefäße in der Luft, werden sie geneigt, und der Salzschlamm wird von Hand in die weit offenen Säcke geschaufelt. Diese liegen auf niedrigen Wagen, welche sich auf Holzschienen bewegen. Die Säcke werden zu den mit Haken versehenen Liftseilen befördert, die sich in einer Art Paternoster zur Oberfläche bewegen und auf der anderen Seite zurückkehren. An der Oberfläche schuften Sklaven an Winden; sie entleeren die Säcke, die dann in die Tiefe zurückkehren. Die belastete Seite des Lifts kann nicht zurückgleiten, da die Windenmaschine an der Oberfläche so angelegt ist, daß sie sich nur in eine Richtung bewegt; jeder hochgeholte Haken dient als Sperre. Der Steuermann war mit einer Lanze bewaffnet, denn wir waren in der Höhle nicht allein.
Mit beiden Händen zog ich den Schöpfkegel durch das schwere Wasser. Mit Erstaunen hatte ich erfahren, daß es in den Salzgruben, bei denen es sich in Wirklichkeit um ein Gewirr kleiner unterirdischer Meere handelte, tierisches Leben gab. Ich hatte das nicht erwartet; immerhin gab es hier kein Sonnenlicht, womit die Photosynthese unmöglich war und eine Nahrungskette gar nicht in Gang kommen konnte; ganz abgesehen vom hohen Salzgehalt der Flüssigkeit.
Beispielsweise kann ein menschlicher Körper in diesem Wasser nicht absinken. Hier liegt auch einer der Gründe, warum die Floßstangen beschwert werden müssen als Gegengewicht zum ungewöhnlichen Auftrieb des Salzwassers. Jedenfalls irrte ich mich gründlich, was das Leben in diesen Seen anging.
»Dort«, rief ein Salzsklave.
Auch ich sah die Erscheinung. Die anderen Männer kamen auf meine Seite des Floßes, und wir verfolgten die Bewegung im Wasser. Der Steuermann senkte die Lanzenspitze und ließ sie mitwandern. Unsere Fackeln spiegelten sich flackernd auf der Wasseroberfläche; gelbliche, zuckende Reflexe.
»Dort!« sagte einer der Männer.
Lelts fühlen sich oft zu den Salzflößen hingezogen vorwiegend durch die Bewegungen der Schöpfkegel und Stangen im Wasser, Vibrationen, die sie mit farnähnlichen Kopfrezeptoren auffangen. Obwohl sie blind sind, scheint das Licht oder die Hitze unserer Lampen eine Anziehung auf sie auszuüben. Sie heben die winzigen augenlosen Köpfe aus dem Wasser, und die farnwedelähnlichen Erscheinungen an der Seite des Kopfes öffnen sich und orientieren sich nach dieser oder jener Lampe. Der Lelt ist im allgemeinen fünfzehn bis zwanzig Zentimeter lang. Sein Körper ist weiß und verfügt über lange Flossen. Das Geschöpf schwimmt langsam und elegant dahin, wobei sich die Flossen kaum bewegen. Zwischen den Lelts waren da und dort winzige Salamander zu erkennen, ebenfalls bleichhäutig und blind. Wie die Lelts verfügen sie über einen langsam arbeitenden Metabolismus, was in einer nicht gerade nahrungsreichen Umgebung sehr nützlich ist. Im Gegensatz zu den Lelts hatten die Salamander lange, spinnenähnliche Beine.
Im Augenblick jedoch interessierten uns weder die Lelts noch die Salamander.
»Dort ist es wieder!« rief der Mann. Aber die Erscheinung war bereits verschwunden. Ich hatte nichts gesehen.
Das einzige Licht in den Höhlen kam von unseren Lampen. Ohne Licht gibt es keine Photosynthese; ohne Photosynthese kann keine Umwandlung von Kohlendioxyd stattfinden, kann sich kein Zucker bilden, kann keine Nahrungskette beginnen. Letztlich kommt aber dennoch Nahrung in die Höhlen, gewöhnlich in der Form organischer Überreste aus Hunderten von Quellen, von denen manche viele hundert Meilen entfernt sind; diese Überreste werden von den Frischwasserzuleitungen herangetragen, vor allem verschiedene Arten von Bakterien. Diese Bakterien werden von Protozoen und Rädertieren verzehrt. Diese bilden die Nahrung für verschiedene Würmer und zahlreiche winzige Geschöpfe, beispielsweise Isopoden, die ihrerseits von blinden weißen Krebsen, Lelts und Salamandern verzehrt werden.
Diese jedoch stehen nicht am Ende der Nahrungskette. Nicht diese Geschöpfe hatten das Interesse der Männer erregt.
»Ist es der Alte?« fragte einer der Männer.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ein anderer. Der Steuermann stand mit der Lanze bereit.
»Dort!« Einer der Männer hob den Arm.
Da sah ich die Erscheinung, eine langsame Bewegung, ein Herumdrehen. Lelts und Salamander verschwanden unter der Wasseroberfläche. Das Ding verschwand ebenfalls. Das Wasser war wieder ruhig.
»Er ist fort«, sagte einer der Männer.
»War es der Alte?« fragte jemand.
»Ich weiß nicht«, erwiderte der Steuermann. Der Alte war in der Höhle seit über einem Jahr nicht mehr gesehen worden.
»Seht!« rief ich. Diesmal war das Wesen ganz nahe. Kaum zehn Fuß von dem Floß entfernt stieg es über die Wasseroberfläche. Wir sahen den breiten, stumpfen Kopf, augenlos, weiß. Dann versank es wieder, mit einem Schlenker des langen Rückens und Schwanzes.
Der Steuermann wurde bleich. »Der Alte«, sagte er leise. Auf dem hellen Rücken zog sich in der Nähe der hohen Flosse eine lange Narbe hin; ein Teil der Flosse war eingerissen und vernarbt. Hier war offenbar eine Lanze am Werk gewesen.
»Er ist wieder da«, sagte einer der Männer.
Das Wasser regte sich nicht mehr.
Am Ende der Nahrungskette in den Höhlen lauerte ein an die Dunkelheit angepaßter Abkömmling des ewigen Schreckens der Meere der Salzhai mit seinem langen Körper und neun Kiemen.
Fast eine Viertel-Ahn lang starrten wir auf das Wasser.
»Er ist fort«, sagte ein Mann.
»Wir müssen unsere Quote zusammenbekommen«, meinte einer der Einsammler.
»Holt Salz ein« sagte der Steuermann.
Wir griffen nach den Seilen und den Schöpfkegeln und machten uns wieder an die Arbeit.
»Die Lelts sind noch nicht zurück«, sagte der Steuermann zu mir.
»Was bedeutet das?« wollte ich wissen.
»Daß der Alte noch in der Nähe ist«, erwiderte er und blickte auf das dunkle Wasser hinab. »Holt Salz ein«, wiederholte er. Und ich warf meine Schöpfkelle hinaus.
Es wurde spät.
Das Öl der Lampen an den Ecken des Floßes war fast ausgebrannt. Oben an der Oberfläche mußte bald die Abenddämmerung hereinbrechen.
Ich fragte mich, wie man aus Klima fortkommen konnte. Es schien unmöglich zu sein, selbst wenn man sich Wasser beschaffen konnte. Man konnte einfach nicht genügend Wasser tragen, um den ganzen Weg zu Fuß zurückzulegen. Ganz abgesehen von der Frage des richtigen Weges, den niemand zu kennen schien. Bisher hatte noch kein Sklave aus Klima fliehen können.
Ich dachte an die Priesterkönige und die Anderen, die Kurii, und an ihre Auseinandersetzung. Dies alles schien mir weit entrückt zu sein. Plötzlich schnellte die Erscheinung aus der Tiefe des Wassers empor, kaum fünf Fuß von mir entfernt. Der Kopf des Hais war gut einen Meter breit und von fahler Färbung. An Stelle der Augen besaß das Tier tiefe Einbuchtungen. Unter dem Gewicht des Fisches neigte sich das Floß zur Seite, wurde herumgedreht, als das Tier mit einem eleganten Schlenker wieder in der Dunkelheit verschwand.
»Stangen!« schrie der Steuermann. »Stangen!« Die Stakenmänner griffen nach den Hölzern, senkten sie ins Wasser.
Eine der Lampen verlöschte zischend.
»Ich habe keine Bodenberührung mehr!« rief einer der Männer. Das Floß war abgetrieben.
»Paddel!« befahl der Steuermann und lehnte sich auf sein Ruder. Die Stakenmänner ergriffen die breiten Hölzer. Eine zweite Lampe verlöschte flackernd.
Langsam drehte sich das Floß.
Nur noch zwei Lampen brannten.
»Ihr anderen«, wandte sich der Steuermann an uns. »Ihr nehmt Stangen!« Wir gehorchten. Wir hofften natürlich, daß die Paddler das Floß an eine Stelle bringen konnten, wo wir uns mit Hilfe der Stangen weiterbewegen konnten.
»Er ist fort«, sagte einer der Männer an den Paddeln.
»Das war der Alte«, sagte der Steuermann. »Es muß Abend sein.«
Ich verstand, was er meinte. Normalerweise jagt man, wenn es gute Beute gibt. Der Salzhai jedoch jagte nur in der Abend und Morgendämmerung getrieben von uralten biologischen Rhythmen. Das lange gespenstische Geschöpf folgte bei seiner Jagd in diesem dunklen Gewässer einer inneren Uhr, wie sie für Kreaturen gegolten hatte, die sich vor zweihundertundfünfzig Millionen Jahren auf einer sonnenhellen Welt bewegt hatten.
»Beeilt euch!« rief der Steuermann.
Die dritte Lampe ging zischend aus. Wir hatten nur noch eine einzige Lichtquelle, auf der Backbordseite achtern. Doch auch dieses Licht ließ uns bald im Stich, und wir befanden uns in absoluter Dunkelheit. Irgendwo in der Nähe schwamm der Alte.
Da griff die Kreatur an. Sie schleuderte sich förmlich aus dem Wasser herauf. Wir wurden plötzlich von einer Wasserfontäne überschüttet, hörten den gewaltigen Körper ins Wasser zurückklatschen. Eine Zeitlang herrschte Ruhe.
Wir hörten, wie der unheimliche Fisch gegen das Floß stieß. Es neigte sich, fiel zurück. Wir klammerten uns an den Salzfässern fest. Über eine Viertel-Ahn verging. Wir nahmen schon an, der Alte sei nicht mehr bei uns. Doch plötzlich schien sich das Floß auf der Backbordseite ins Wasser zu neigen. Voller Entsetzen schrie ein Mann auf und begann mit dem Paddel um sich zu schlagen. Der breite Kopf glitt ins Wasser zurück. Der Alte hatte seinen Kopf einen Moment lang auf das Floß gelegt.
Über eine Ahn lang trieben wie in der Dunkelheit dahin. Nichts geschah. Plötzlich stieg der gewaltige Körper von neuem aus dem Wasser und fiel zuckend quer über das Floß; der mächtige Schwanz peitschte hin und her. Ich hörte Holz knacken; Fässer wurden zerschmettert und rollten polternd vom Floß ins Wasser. Männer schrien, wurden ins Wasser geschleudert.
Ich klammerte mich an die Überreste des zerschmetterten Floßes. Ein lauter Schrei hallte durch die Dunkelheit.
Viermal warf sich der mächtige Leib des Hais auf das Floß. Einmal spürte ich, wie der Fisch über meinen Rücken abrollte, wobei mein Körper von den Überresten des Holzrahmens geschützt wurde. Die Haut des Hais war nicht rauh, wie man es bei Haien im offenen Meer findet, sondern weich und schleimig. Das Geschöpf glitt über mich dahin, ohne mich von dem Holz loszureißen.
»Wo seid ihr?« fragte eine Stimme aus dem Wasser.
»Hier!« rief ich. »Das Floß ist hier!« Ich kniete auf dem Floß. Ich wußte nicht, ob ich allein war oder nicht. »Hier!« rief ich. »Hier! Hier!«
»Hilfe!« riefen einige Stimmen. Ich hörte zwei Männer auf das Floß klettern. Einer begann haltlos zu schluchzen. Ein dritter Mann zog sich an Bord und begann, sinnlos hin und her zu wandern. »Hock dich hin!«
rief ich.
»Wir müssen uns retten!« gab er zurück und sprang ins Wasser.
»Komm zurück!« brüllte ich ihm nach. Vermutlich hatte er die Absicht, zum Dock zu schwimmen, das immerhin vier Pasang entfernt war. Doch er kam nicht zurück, auch als ich ihn darauf aufmerksam machte, daß er die falsche Richtung eingeschlagen hatte.
»Armer Tor«, sagte eine Stimme neben mir.
»Hassan!« rief ich.
»Ja«, antwortete er leise.
»Hilfe!« rief jemand. Ich tastete nach einer Stange, fand sie und hielt sie in die Richtung der Stimme. Gleich darauf zog ich den Mann an Bord. Ich versuchte, einen zweiten Leidensgenossen auf ähnliche Weise zu retten, doch der Alte zog ihn mir im letzten Augenblick von der Stange. Ich sah Lichter auf dem Wasser, ein zweites Floß, das langsam näher kam. An seinem Bug stand T’Zshal mit erhobener Lanze.
Die beiden Flöße stießen aneinander, und wir stiegen um.
»Irgendwo schwimmt noch ein Mann herum«, sagte ich zu T’Zshal. »Er ist in diese Richtung geschwommen.«
»Dummkopf!« sagte T’Zshal und sah uns an. »Der Alte«, sagte er dann. Es war keine Frage.
Der Steuermann nickte. Er hatte den Zwischenfall überlebt.
»Wir sollten umkehren«, forderte einer der Stakenmänner auf T’Zshals Floß.
T’Zshal sah sich um. Ich und Hassan hatten überlebt, außerdem der Steuermann und der Kerl, den ich gerettet hatte.
Ich wußte nicht, ob der Schwimmer noch lebte oder nicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß seine Chancen allzu gut standen.
»Wir sollten zum Dock zurückkehren«, sagte einer der Männer auf T’Zshals Floß.
T’Zshal starrte auf das dunkle Wasser. »Der Alte ist wieder da«, sagte er. »Und er hat seine alten Tricks nicht vergessen. Wir fahren in diese Richtung. Dort schwimmt noch einer von uns.«
Seine Bootsleute murrten, doch sie gehorchten.
Eine Ahn später fanden wir den Mann.
»Sei gegrüßt«, sagte der Schwimmer.
»Sei gegrüßt«, erwiderte T’Zshal und zog ihn aus dem Wasser.
»Ich bin geschwommen«, sagte der Mann.
T’Zshal bettete ihn auf die Planken des Floßes. Der Schwimmer schien den Alten völlig vergessen zu haben. Er schlief sofort ein.
»Zurück zum Dock!« befahl T’Zshal.
Das schwere Floß wurde gewendet und bewegte sich langsam auf die Docks zu. Hassan und ich sahen uns an. Wir hatten in dem Moment beschlossen, T’Zshal am Leben zu lassen.
»Morgen«, sagte T’Zshal, »kehre ich in diese Höhle zurück.«
»Ich werde dich begleiten«, sagte ich.
»Ich ebenfalls«, versicherte Hassan.
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