Der Wind tobte heulend, und ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten.
»Wir müssen anhalten!« rief ich Imnak durch den Sturm zu. Ich wußte nicht, ob er mich überhaupt hören konnte, dabei war er nur gut einen Meter von mir entfernt. Es war pechschwarz, Monde und Sterne waren verdeckt. Böen trafen die Felle, die ich am Leibe trug, und hätten sie am liebsten fortgerissen. Meine linke Hand lag fest auf den Vorräten auf dem Schlitten. Gleich darauf begann es zu schneien; die Kristalle peitschten uns beinahe waagerecht ins Gesicht. Ich zog mir die Kapuze tief ins Gesicht. Das Lartfell, das die Umrandung bildete, wurde mir auf der linken Seite gegen das Gesicht gepreßt und rechts beinahe abgerissen. Meine Gesichtshaut schien zu gefrieren. Zu sehen war nichts mehr. Den Schlitten festhaltend, stolperte ich dennoch weiter. Die Mädchen waren nicht zu sehen, aber ich wußte, daß sie am Schlitten festgebunden waren und im Sturm nicht verlorengehen konnten.
»Wir sehen nicht mehr, wohin wir fahren!« rief ich Imnak zu. »Wir müssen anhalten!«
Der Sleen im Geschirr vor mir jaulte kurz auf, ein Laut, der von dem Sturm zerrissen wurde. Ich spürte, daß Imnak sich umdrehte, dann stand er wieder an den senkrechten Stützen aus Tabukhorn, mit denen er den Schlitten lenkte. Eine schmale Lücke in den Wolken zeigte nicht nur ihn, sondern die Mädchen, die die Hände an die Sklavenkragen gehoben hatten und erschöpft dahinstolperten, in Felle gehüllte, müde Gestalten. Und schon war es wieder dunkel. Weiter vorn hatte ich Rams Schlitten gesehen, nicht aber Karjuks Gefährt.
»Es wäre Wahnsinn, nicht zu rasten!« rief ich Imnak zu.
Unser Schlitten steckte zwischen zwei Eisblöcken fest. Imnak und ich neigten ihn, ließen ihn auf einer Kufe weiterlaufen und stellten ihn wieder gerade.
Ich glaubte einen Schrei zu hören, wußte es aber nicht genau. Das Heulen des Windes war zu laut.
Imnak zerrte mit voller Kraft an den Schlittenstangen, und auch ich versuchte das Gefährt zu bremsen. Der Schnee-Sleen blieb stehen. Ich ertastete die Leinen Audreys und Arlenes und zerrte sie zum Schlitten. Dann ging ich nach vorn. Der Sleen hatte sich im wirbelnden Schnee bereits zusammengerollt. Sein Fell zitterte unter meiner Hand. Das Tier würde bald einschlafen. Der Schnee ging mir fast bis zu den Knien. Ich tastete mich am Schlitten entlang nach hinten. Imnak rief mir etwas zu, doch ich verstand nichts. Ich ertastete Audrey und Arlene, die sich am Schlitten niedergekauert hatten. Ich ging hinten um den Schlitten herum. Zu sehen war nichts. Der Wind heulte. Auf der anderen Seite ertastete ich mit vorgestreckten Armen Poalu, die wie die anderen Frauen im Schnee hockte. Neben mir tauchte Imnak auf und drückte mir eine Leine in die Hand. Ich zog sie zu mir heran. Barbara war fort. Das Ende der Leine war abgeschnitten worden. Ich machte Anstalten, in den Schnee hinauszustapfen, um sie zu suchen, doch Imnak stellte sich mir in den Weg und schob mich zurück. Ich leistete keinen Widerstand, denn er hatte natürlich recht. Es wäre Wahnsinn, in der heulenden Dunkelheit von Schnee und Wind nach ihr zu suchen. Die eigene Spur mußte nach wenigen Sekunden verdeckt sein, so daß man Gefahr lief, den Rückweg zum Schlitten nicht mehr zu finden.
Den anderen Mädchen wurde wohl sofort bewußt, daß Barbara verschwunden war. Poalu, die am Ende ihrer Kräfte war, schlummerte neben dem Schlitten schnell ein. Auch die anderen Mädchen schliefen.
»Was sollen wir tun?« brüllte ich Imnak zu, indem ich meinen Mund näher an seine Schläfe führte.
»Wir werden schlafen und aufpassen«, rief er zurück.
Darauf fand ich nicht sofort eine Antwort. Ich wollte nicht recht glauben, was er da eben gesagt hatte.
»Bist du müde?« fragte Imnak.
»Nein!« brüllte ich.
»Dann wachst du als erster! Ich schlafe!«
Ich stand neben dem Schlitten. Imnak legte sich daneben nieder. Ich konnte kaum glauben, daß er unter diesen Umständen schlafen konnte, und doch schien ihm das innerhalb weniger Augenblicke zu gelingen.
Nach einer Weile hockte ich mich im Windschatten des Schlittens nieder und starrte in die Dunkelheit.
Der Wind pfiff. Ich fragte mich, wie lange Ram noch weitergefahren war. Karjuk hatte ich vorhin nicht mehr gesehen. Ich fragte mich, wo Barbara steckte. Ich glaubte nicht, daß sie in der Wildnis herumirrte. Die Leine war säuberlich durchgeschnitten worden. Die hübsche blonde Sklavin war gefangengenommen worden, doch ich wußte nicht, von wem oder was.
Nach einiger Zeit erwachte Imnak. »Jetzt schlaf«, sagte er. »Ich übernehme die Wache.«
Und ich legte mich hin. Imnaks Hand lag auf meiner Schulter; ich erwachte.
»Schau dir mal den Sleen an«, sagte Imnak.
Das Tier, das etwa neun Fuß lang war, zeigte sich wach und unruhig. Die Ohren hatte es aufgestellt, die Nüstern bewegten sich zuckend. Aus den breiten und weichen Pfoten ragten die Klauen und wurden wieder eingezogen. Zornig schien das Tier nicht zu sein.
Es hob die Schnauze in den Wind.
»Es hat irgendeine Witterung aufgenommen«, sagte ich.
»Er ist erregt, aber nicht beunruhigt«, sagte Imnak.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Daß wir in großer Gefahr sind. Es gibt andere Sleen in der Nähe.«
»Aber wir sind doch weit draußen auf dem Eis.«
»Um so größer ist die Gefahr.«
»Ich verstehe«, sagte ich. Wenn der Sleen andere Sleen witterte, so mochte es sich um ein oder mehrere Tiere handeln, die vom Hunger auf das Eis hinausgetrieben worden waren. Solche Tiere waren natürlich sehr gefährlich.
»Vielleicht sind Karjuk oder Ram in der Nähe«, sagte ich.
»Unser Sleen kennt Karjuks und Rams Tiere«, sagte er. »Bei ihnen würde er sich nicht so aufregen.«
»Was können wir tun?«
»Wir müssen uns schleunigst einen Schutzwall bauen«, sagte Imnak und stand auf. Die Mädchen schliefen noch immer. Das Unwetter war vorbei, und das Licht der Monde spiegelte sich hell auf Schnee und Eis. »Die Zeit ist knapp«, fuhr er fort.
In der Nähe des Schlittens zeichnete Imnak mit dem Stiefelabsatz einen etwa zehn Fuß durchmessenden Kreis in den Schnee. »Im Kreis trampelst du den Schnee fest«, sagte er. »Dann lädst du den Schlitten ab und stapelst unsere Vorräte im Kreis auf.«
Ich kam seiner Aufforderung nach, während Imnak mit einem großen, krummen und mit Sägezähnen versehenen Knochenmesser, einem Schneemesser, in einer nahegelegenen Schneewehe herumsäbelte.
Die Unruhe unseres Sleen steigerte sich noch mehr, und er begann Laute auszustoßen.
»Hör mal!« sagte Imnak. Ich horchte. Durch die kalte, stille Luft tönte ein Jaulen; ich wußte nicht, wie weit es entfernt war.
»Sie verfolgen eine Spur?« fragte ich.
»Ja.«
»Unsere.«
»Anzunehmen ist es«, meinte er.
Er begann Schneeblöcke aus der Wehe zu lösen und stellte sie an der Grenze der Fläche, die ich niedertrampelte, im Kreis auf. Der erste Block war am schwierigsten herauszulösen. Die erste Reihe Blöcke war jeweils etwa zwei Fuß lang und je einen Fuß breit und hoch.
Audrey schrie auf, und ich fuhr zusammen. Imnak eilte mit dem Schneemesser zu ihr.
»Wo ist Barbara!« rief Audrey außer sich. »Sie ist fort!« Ihr Gesicht war entsetzt verzerrt. In der Hand hielt sie die abgeschnittene Lederleine. Sie war aufgewacht, hatte das Lederstück gefunden, seine Bedeutung erkannt und losgeschrien.
Imnak versetzte ihr einen Schlag, und sie sank vor ihm in den Schnee, noch immer am Schlitten festgebunden.
Imnak stand über ihr, den Kopf horchend geneigt. Das Jagdgebell der fernen Sleen hatte sich irgendwie verändert. Es klang beinahe erneuert, voller Energie und frischem Mut.
Imnak zerrte Audreys Kapuze zurück, krallte die Hände in ihr Haar und schüttelte sie. Dann stieß er sie zornig in den Schnee.
Kein Zweifel – ein Sleenrudel jagte auf uns zu.
Die Spur, der es folgte, war zweifellos sehr vage und schwierig, ein Hauch, der in der Luft lag und nur sehr schwach eine Richtung anzeigte. Der Sturm hatte die Schlittenspuren und anderen typischen Abdrücke verweht. Durch Audreys Schrei hatte das Rudel nun einen klaren akustischen Hinweis auf uns, ein Zeichen, das sowohl die ungefähre Entfernung wie auch die Richtung anzeigte. Daß die Sleen darauf reagierten, zeigte sich in der plötzlichen Veränderung ihres Jagdgebells. Sie hatten ihre Beute sozusagen klar im Visier.
Audrey lag schluchzend im Schnee.
Ich lauschte auf die Sleen.
Imnak setzte den ersten Schneeblock der zweiten Reihe über die Fuge zwischen zwei Blöcken in der ersten Reihe; die Blöcke der zweiten Reihe waren etwas kleiner.
»Barbara ist fort«, sagte Arlene zu mir. Sie stand dicht neben mir.
»Ja«, sagte ich.
»Wo ist sie?«
»Die Leine ist durchgeschnitten worden. Jemand hat sie entführt.«
»Wohin?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wir sollten umkehren«, flehte sie.
Ich nahm sie in die Arme und blickte ihr in die Augen. Einen Augenblick lang spürte ich Zärtlichkeit in mir aufsteigen. Aber dann besann ich mich darauf, daß sie eine Sklavin war.
»Verzeih mir, Herr«, sagte sie und kniete nieder.
»Selbst wenn wir umkehren wollten«, sagte ich, »würden wir es wohl nicht mehr schaffen.«
»Ich höre Sleen«, sagte sie.
»Ja.«
»O nein!«
Ich horchte. Das jaulende Gebell der Bestien war inzwischen recht deutlich zu hören.
»Wieviel Zeit haben wir noch?« fragte ich Imnak.
Er antwortete nicht, sondern schnitt hastig seine Eisblöcke aus dem Schnee. »Binde Poalu und die anderen los«, sagte er schließlich.
Ich kam seiner Aufforderung nach und befahl Arlene, mir beim Verladen der Vorräte in den Eisring zu helfen.
Poalu kniete im Kreis zwischen unseren Hab Seligkeiten und machte sich an der Lampe zu schaffen. Sie schlug Feuersteine zusammen, ließ Funken in Zunder fallen, getrocknetes Gras aus Sommergras. Die Lampe flackerte.
Imnak stellte die zweite Reihe Schneeblöcke fertig.
»Distel«, sagte Poalu zu Audrey, »bring mir das Kochgestell und den Wasserkessel.« Sobald die Lampe entzündet ist, die als Lichtquelle, Ofen und Herd dient, wird Schnee zum Trinken geschmolzen und Wasser erhitzt, um Fleisch darin zu kochen.
Unser Sleen warf plötzlich den Kopf in den Nacken und stieß einen langen, schrillen Schrei aus.
»Er wird wieder wild«, sagte Imnak.
»Soll ich ihn töten, solange dazu noch Gelegenheit ist?« fragte ich.
»Binde ihm Kiefer und Läufe zusammen«, sagte Imnak. »Der Anfall geht vorbei.«
Ich sammelte die Lederleinen ein, mit denen die Mädchen an, die Schlitten gefesselt gewesen waren.
»Da sind sie!« rief Arlene. »Da! Da!«
Der Sleen wehrte sich, doch ich warf ihn im Schnee auf die Seite und band ihm die Schnauze zu. Dann schnürte ich seine drei Beinpaare zusammen.
»Bring das Tier in die Umfriedung!« sagte Imnak,
Ich hakte das Geschirr vom Schlitten los und zerrte das Tier daran in den schützenden Kreis.
»Wenn es sich windet, wird es die Mauer aufbrechen oder die Lampe umwerfen«, sagte ich.
»Dazu darfst du es nicht kommen lassen«, sagte Imnak.
Ich band die Vorderpfoten des Sleen an seine Hinterpfoten, die die größte Sprungkraft besaßen. Auf diese Weise wurde ein Großteil seiner Energien in den Fesseln gebannt.
»Sie kommen näher!« rief Arlene.
»Komm in die Umfriedung!« sagte ich zu ihr. Imnak hatte erst zwei Reihen errichtet und erst einen Teil der dritten. Dennoch hörte er nicht auf, Schneeblöcke aus der Wehe zu schneiden.
Arlene begab sich in den Schutz der niedrigen, kreisförmigen Mauer. Das Jagdgeschrei der Sleen war von erschreckender Wildheit. Das Rudel war kaum noch einen halben Pasang entfernt.
»Die Zeit wird knapp, Imnak!« sagte ich. »Komm zu uns!«
Er schnitt weiter seine Blöcke, allerdings ohne sie noch auf die Mauer zu stellen. Normalerweise werden solche Bausteine von innen angebracht. Wenn der Kuppelbau vollendet ist – was bei unserem nicht der Fall war – wird der letzte Block von draußen angebracht. Der Erbauer begibt sich dann ins Innere und schließt die letzte Lücke von innen mit Hilfe seines Schneemessers. Eine Öffnung bleibt für Luft und Rauch. Imnaks Mauer war hastig aufeinandergetürmt; Lücken zwischen den Blöcken konnten noch mit Schnee ausgestopft werden, der bei dieser Kälte wie Mörtel wirkte.
»Halt dich bereit, die Sleen von der Mauer zurückzudrängen!« sagte Imnak zu mir.
Ich stand innerhalb der niedrigen Umfriedung und hob meinen Speer. »Komm zu mir herein!« sagte ich.
»Gleich!« antwortete er und wandte sich an Poalu. »Kocht das Wasser?«
»Nein«, sagte sie, »aber es ist warm.«
»Beeil dich, Imnak!« rief ich. Ich verstand nicht, warum er Schneeblöcke schnitt, wenn er keine Zeit mehr hatte, sie auf die Mauer zu stellen. Außerdem wußte ich nicht, warum sich Poalu damit abgab, über der flachen Lampe Schnee zu schmelzen. Solche hausfraulichen Tätigkeiten schienen mir jetzt nicht an der Tagesordnung zu sein.
Die Sleen strömten über das Eis auf uns zu – wie eine schwarze Wolke, die von Wind auseinandergetrieben wird und sich dann doch wieder zusammenballt. Die Wolke war nur noch einen Viertel-Pasang entfernt.
»Ist es jetzt aus, Herr?« fragte Arlene.
»Es sieht so aus«, antwortete ich. »Was mich betrifft, so soll es ein guter Kampf werden. Es tut mir allerdings leid, daß du hier bist.«
»Willst du mir nicht die Freiheit geben?« fragte sie.
»Nein.«
Wenn wir von den Sleen zerrissen werden sollten, dann würde ich als freier Mann sterben und sie als Sklavin. Das waren wir nun mal.
»Ja, Herr«, sagte sie.
Schrill drang das scheußliche Geschrei der Sleen an unsere Ohren. Durch die kalte Luft tönte sogar das Keuchen der Tiere zu uns, das Kratzen der Klauen auf dem Eis.
Etwa zwanzig Fuß vor dem teilweise errichteten Schutzkreis hackte Imnak immer noch mit seinem Messer auf das Eis ein.
Die Sleen waren noch zweihundert Meter entfernt und hasteten voller Erregung naher.
Imnak eilte zu der niedrigen Eismauer, doch anstatt hereinzukommen, nahm er von Poalu eine Scheibe Fleisch entgegen und griff mit der anderen Hand nach dem Griff des Wasserkessels. Er eilte zu dem Loch, das er in das Eis geschnitten hatte, stieß das Fleisch auf die Klinge des Messers und drückte dann den Messergriff in das Loch, das er ins Eis gehackt hatte. Schließlich schüttete er das Wasser in das Loch, rings um den Messergriff. Er brauchte nur einen Moment lang zu warten, ehe das Wasser gefror und das Messer in der Eisschicht verankerte.
»Beeil dich!« rief ich.
Ein Sleen hatte sich auf Imnak gestürzt. Er rollte mit dem Tier zur Seite. Ich sprang über die niedrige Mauer, stürzte zu ihm und stieß dem Tier den Speer in den Leib. Mit dem Speer hielt ich den um sich schnappenden Angreifer auf dem Eis fest, während Imnak mit zerrissenem Pelzgewand aufsprang. Einem zweiten Sleen, der auf mich zusprang, versetzte er einen Tritt in die Schnauze. Ich zog den Speer aus dem verwundeten Tier, das sich mit klaffendem Maul aufrappelte; gleich darauf stieß ich mit dem Speerschaft einen dritten Angreifer zur Seite. Imnak brüllte mir etwas ins Ohr. Mit der Speerspitze wehrte ich die Fänge des verwundeten Sleen ab. Schon umringten uns weitere Sleen, sich windend, uns umkreisend. Brüllend und um sich tretend zerrte mich Imnak auf die Umfriedung zu. Ein weiterer Sleen strich an mir vorbei. Ein anderes Tier rupfte an dem Pelz meiner Stiefel. Im nächsten Augenblick standen Imnak und ich im Schutz der niedrigen Schutzmauer; jeder von uns hielt einen Speer in der Hand. Schon strömte die dichte Flut der Sleen, nicht mehr nur die Führungstiere, um die kleine kreisförmige Schutzzone, fauchend und zähnefletschend. Die Augen funkelten zornig im Mondschein. Ich stieß ein Tier von der Mauer fort, und auch Imnak erwehrte sich heftig der Angriffe. Unser zahmer Sleen bewegte sich ruckartig zu unseren Füßen und versuchte von den Fesseln loszukommen. Ein Tier sprang in unseren Schneekreis; ich geriet unmittelbar unter diesen Angreifer, bäumte mich auf und hebelte ihn mit eigener Kraft zur anderen Seite wieder hinaus, mitten zwischen seine Artgenossen. Audrey schrie auf. Poalu schleuderte brennendes Öl aus der Lampe in das Gesicht eines Sleen. Schluchzend wich Arlene vor einem Tier zurück, das halb über der Mauer hing. Ich packte das Geschöpf mit einer Hand um die Kehle, hebelte die andere unter die linke Vorderpfote und drängte es wieder zwischen die anderen. Imnak schob ebenfalls einen Sleen zurück. Erneut griff ich nach meinem Speer und stieß ihn einem Sleen ins Gesicht, der eben über die Mauer springen wollte. Fauchend und zischend zuckte er zur Seite.
Die Sleen umkreisten unsere Umfriedung, zwanzig oder dreißig Fuß entfernt, dunkle Schatten auf dem Eis.
Ein Wesen hastete auf die Mauer und sprang in die Höhe, doch ich begegnete den Angriff mit der Speerspitze. Mit blutender Schnauze fiel das Ungeheuer zur Seite. Imnak wehrte zwei weitere Angreifer ab.
Dann war es eine Zeitlang ruhig.
»Es sind so viele«, sagte Arlene.
»Ein großes Rudel«, sagte ich.
Im schwachen Licht vermochte ich die sich schattenhaft bewegenden Geschöpfe nicht zu zählen, so sehr liefen sie durcheinander, doch es war klar, daß ihre Zahl sehr groß war. Vermutlich umfaßte das Rudel mehr als fünfzig Sleen. Es hatte schon Rudel von hundertundzwanzig und mehr Tieren gegeben.
»Ich wünsche dir alles Gute, Imnak«, sagte ich.
»Willst du irgendwohin?« fragte er. »Das wäre jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.«
»Es sind so viele Sleen«, sagte ich.
»Das stimmt.«
»Bist du nicht bereit zu sterben?«
»Ich doch nicht«, sagte er. »Rothäutige Jäger rechnen nicht mit dem Tod. Natürlich können sie sterben, doch sie werden stets von ihm überrascht.«
Ich warf den Kopf in den Nacken und lachte.
»Warum lachst du, Tarl, der mit mir jagt?« fragte er.
»Ich habe trotz der Umstände den Eindruck, daß du nicht die Absicht hast, in den Tod zu gehen.«
»Genau«, sagte er. »Du hast es getroffen. Diese Absicht habe ich nicht.«
»Imnak hat keine Angst vor dem Sleen des Todes«, sagte Poalu.
»Wenn er zu mir kommt«, meinte Imnak, »schirre ich ihn vor meinen Schlitten.«
»Ich würde stolz sein, neben dir zu sterben, Imnak«, sagte ich.
»Aber noch besser eigne ich mich als jemand, neben dem du leben solltest«, meinte Imnak. »So sehe ich die Dinge.«
»Das kann ich akzeptieren«, sagte ich.
Ich blickte in Arlenes Augen.
»Gibt es keine Hoffnung?« fragte sie.
»Ich fürchte, es ist alles verloren«, sagte ich. »Ich wünschte, du wärst nicht bei uns.«
Sie lehnte den Kopf an meinen Arm und blickte zu mir auf. »Eigentlich möchte ich an keinem anderen Ort sein«, sagte sie.
»Ich wäre jetzt lieber im Festhaus«, warf Imnak ein.
»Es ist noch nicht alles verloren«, sagte Poalu.
Ich schaute über das Eis und begriff plötzlich die schreckliche Präzision der Sleenfalle, die Imnak so hastig errichtet hatte, während sich das Rudel bereits unserem Schutzwall näherte.
Eines der größeren Tiere umkreiste das Fleisch auf dem Messer und biß plötzlich danach, um es von der Klinge zu ziehen. Es gelang dem Tier, das Fleisch vom Messer zu lösen, dabei zerschnitt es sich aber an der scharfen Klinge das Maul. Heißes, frisches Blut tief über das Messer. Ein zweiter ausgehungerter Sleen, dessen Rippen sich durch das Fell deutlich abzeichneten, näherte sich halb wahnsinnig vor Hunger dem Messer und leckte nach dem Blut. Dabei verletzte er sich natürlich an der fest im Eis steckenden Klinge. Im Bann seines Hungers, und weiter angefeuert durch das frisch fließende Blut, gab sich der Sleen doppelte Mühe, das Blut aufzulecken. Ein größeres Tier drängte den Sleen von der Klinge, leckte ebenfalls und verletzte sich natürlich, ohne es zu wissen. Dunkles Blut, das zu gefrieren begann, bedeckte die Klinge. Ein Sleen griff das erste Tier an, das aus dem Maul blutete. In einem zornfauchenden Knäuel aus fetzendem Fell und zuschnappenden Fängen begannen die beiden Tiere zu kämpfen. Einem Sleen wurde die Kehle aufgerissen, und augenblicklich stürzten sich vier oder fünf dunkle Gestalten gierig auf das liegende Tier und schoben die reißenden, schmatzenden, fressenden Schnauzen in seinen Leib. Das Tier schrie schmerzerfüllt auf. Andere Sleen versuchten sich an der Orgie zu beteiligen und kletterten dabei über die Rücken fressender Tiere, in dem Bemühen, sich dazwischenzudrängen. Andere Sleen hasteten zum Eis. Das Blut war bereits gefroren; trotzdem kämpfen zwei Sleen darum, den scharfen Stahl abzulecken, und verwundeten sich dabei von neuem. Nun lief wieder frisches Blut an der Klinge herab. Im Lecken vermag ein Sleen seinem Leben ein Ende zu setzen, unentwegt an der Klinge leckend, bis er verblutet ist.
Arlene und Audrey wandten den Kopf ab.
Aber an diesem Abend verblutete kein Sleen als Opfer dieser einfachen und grausamen Falle. Dazu waren zu viele andere hungrige Tiere anwesend.
Wenn ein Sleen in seinen Kräften nachließ oder der Anreiz des Blutes zu stark wurde, fielen die anderen Sleen, gequält vom Hunger, über ihn her.
Nach knapp einer Ahn verließ Imnak zu meiner Überraschung unsere halb fertiggestellte Umfriedung, ging zwischen vollgefressenen und fressenden und toten Sleen hindurch zur Schneewehe und begann Blöcke zur Mauer zu schleppen. Gleich darauf folgte ich ihm. Wir gingen nur wenige Fuß entfernt an gefährlichen Schnee-Sleen vorbei, die aber kaum von uns Notiz nahmen.
Fünfzehn bis zwanzig Sleen waren getötet worden, die meisten durch Artgenossen aus dem Rudel. Die verbleibenden Tiere hatten sich an ihren Opfern sattgefressen. Einige zerrten noch an Knochen und bloßgelegten Eingeweiden herum. Mehrere Tiere waren erschöpft und übersättigt eingeschlafen.
Imnak setzte neue Blöcke auf unsere Schneemauer und schnitt schließlich kleinere Blöcke zurecht, die er brauchte, um das flache Kuppelbauwerk zu vollenden. Wenn der Schnee stimmt, dauert es nicht lange, ein solches Bauwerk zu vollenden, insgesamt brauchte er wohl vierzig oder fünfzig Minuten. Mit dem Schneemesser schloß er dann von außen die Fugen und glättete die Mauer. Drinnen hatte Poalu die Lampe wieder angezündet und schmolz bereits Schnee zu Wasser und setzte einen Topf auf, der am Kochgestell hing, um darin Fleisch heißzumachen.