Es war bitterkalt. Ich wußte nicht, wie viele Pasangs wir auf dem Eis schon zurückgelegt hatten.
»Schieben!« rief Imnak. Imnak und ich und die Mädchen kippten den Schlitten über eine Kuppe aus Packeis und ließen ihn auf der gegenüberliegenden Schräge hinabrutschen.
»Warte!« rief Imnak Karjuk nach.
Karjuk trat von den Kufen seines Schlittens und zerrte an den senkrechten Stangen aus Tabukhorn, die hinten am Schlitten befestigt waren. Gleichzeitig rief er seinem Schnee-Sleen ein Kommando zu.
Unsere Expedition bestand aus drei Schlitten. Karjuk führt sein eigenes Gefährt mit einem Schnee-Sleen, der ihm ebenfalls gehörte. Der zweite Schlitten wurde von Imnak gesteuert, der dritte von Ram; er hatte ihn aus dem Süden mitgebracht. Die Männer aus dem ständigen Lager hatten ihm das Gefährt zu den Unterkünften geschleppt. Vor Imnaks Schlitten war ein Schnee-Sleen gespannt, den er sich von seinem Freund Akko geborgt hatte, und Ram hatte sich im Lager ebenfalls Ersatz für das Tier zugelegt, das vor dem Lager von dem Kur getötet worden war. Er hatte Naartok etliche Portionen Bazi-Tee dafür überlassen müssen. Karjuk fuhr allein, ebenso Ram; Imnak und ich bildeten mit Imnaks Schlitten die Nachhut, ein Schlitten, der vor längerer Zeit aus Überresten der Mauer gebaut worden war. Die vier Mädchen begleiteten uns, gewöhnlich zu Fuß wie wir. Wenn es müde wurde, durfte ein Mädchen eine Weile auf dem Schlitten sitzen.
Karjuk hob die Hand, zum Zeichen, daß wir die Fahrt fortsetzen wollten.
»Nein, warte!« rief Imnak. Er blickte zum Himmel empor. Das Unwetter hatte bisher noch nicht zugeschlagen, doch der Himmel zog sich allmählich zu. Seit fünf Tagen wanderten wir über das Eis, und seit Tagen dräute der Sturm, ohne bisher loszubrechen. Und das war ein großes Glück für uns. Wie schon erwähnt, ist die arktische Nacht selten ganz dunkel, im Gegenteil, die Sicht ist sogar recht gut, denn das Licht der Monde und sogar der Sterne spiegelt sich auf der ungeheuren Weite von Eis und Schnee. Ich ließ meinen Blick zwischen den unheimlichen Formationen des Packeises wandern, die uns auf allen Seiten überragten, überzogen von gespenstischen Lichtreflexen, durchdrungen von tiefschwarzen Schatten. Inmitten dieser unglaublichen Geometrie kamen wir uns wie Zwerge vor. In den Riesenstrukturen lag Schönheit und zugleich Gefahr, waren sie doch unter dem bitteren Biß des Windes und von der Gewalt der unter uns wühlenden See geformt worden. Manchmal überquerten wir offene Wasserläufe, die sich im ächzenden, knirschenden Eis auftaten, um sich bald wieder zu schließen, oft auch schon, während wir noch darüber hinglitten.
Imnak deutete zum südlichen Himmel empor. Dort waren keine Sterne auszumachen. Wolken waren aufgezogen.
»Wir wollen hier lagern!« rief Imnak.
Karjuk antwortete nicht, sondern blickte nach vorn und hob den Arm.
Ram eilte zu uns. »Es wird ein Unwetter geben«, sagte Imnak. »Wir müssen ein Lager bauen.«
Wieder hob Karjuk den Arm.
»Ich muß die Kufen meines Schlittens überprüfen!« rief Imnak.
Karjuk rührte sich nicht; er wartete ab.
Die Schlittenkufen bestanden aus Holz. Zu Beginn der Schlittensaison, im Spätherbst, wird dieses Holz mit einer Paste bestrichen, die aus Erde, Gras und Moos besteht und eine fünf bis sechs Zoll dicke Schicht ergibt. An diesem Überzug setzt sich Eis fest, das auf blankem Holz keinen Halt finden würde. Dieses Eis ist sehr wichtig. Bei niedrigen Temperaturen wird Schnee körnig und fühlt sich beinahe wie Sand an. Eine Eisschicht auf den mit dem Lehm verstärkten Kufen verringert die Reibung und macht den Schlitten beweglicher. Normalerweise genügt eine Umhüllung der Kufen für den Winter; zuweilen muß sie ausgebessert werden. Die Eisschicht dagegen wird oft erneuert, manchmal mehrmals am Tag. Oft wird dazu Urin genommen, der sofort gefriert. Aber man kann auch einen Lederbeutel nehmen, gefüllt mit Schnee. Dieser Beutel wird unter der Kleidung am Körper getragen, was den Schnee zum Schmelzen bringt. Nachts werden die Schlitten mit den Kufen nach oben hingestellt, damit sie nicht am Eis festfrieren. Sleengeschirre und Zügel hängen an einem senkrechten Pfosten, damit sie nicht von dem Sleen aufgefressen werden. Imnak urinierte gegen die Kufen. Außerdem verwendete er Wasser aus dem Lederbeutel, den er an der Hüfte trug. Man kann übrigens auch Schnee in den Mund nehmen, schmelzen lassen und auf die Kufen spucken, aber diese Methode kostet viel Zeit. Wenn man Schnee ißt, muß man ihn vor dem Herunterschlucken gründlich im Mund schmelzen lassen. Dies hilft bei der Bewahrung der Körperhitze und vermeidet Überlastungen des Systems.
»Fahren wir weiter!« rief Karjuk.
»Ein Sturm zieht auf«, gab Imnak zu bedenken und deutete nach Süden. »Wir sollten unser Lager aufschlagen.«
»Wir lagern später«, sagte Karjuk.
»Ist das ratsam?« fragte Ram.
»Nein«, sagte Imnak.
Wir richteten unsere Schlitten aus.
»Bindet die Mädchen an den Schlitten«, sagte Imnak.
Der Wind frischte auf.
Ich band Arlene mit einer Lederleine am Schlitten fest; das Leder verknotete ich fest um ihren Hals. Die Leine war etwa fünfzehn Fuß lang. Audrey wurde auf ähnliche Weise gesichert. Imnak machte Barbara und Poalu auf der anderen Seite des Schlittens fest.
Karjuk trat auf die Kufen seines Schlittens und ließ über den Köpfen der Schnee-Sleen seine Peitsche knallen.
Rams Schlitten fuhr hinter ihm an.
»Los!« rief Imnak, der seinen Platz hinter dem Schlitten eingenommen hatte, und schwang die Peitsche. Akkos Schnee-Sleen stemmte sich mit gekrümmtem Rücken und breitgestellten Krallenfüßen in das Geschirr und brachte den Schlitten in Gang. Ich schob von der Seite noch einen Augenblick lang mit, damit das Fahrzeug Tempo gewann. Imnak fuhr nicht auf den Kufen mit, sondern rannte dazwischen. Ich trottete daneben her, auf der rechten Seite. Die Mädchen, ihren Fesseln folgend, liefen ebenfalls los.
Manchmal läuft ein Mann oder eine Frau vor dem Schlitten her, um den Sleen zur Eile anzutreiben; das Tier paßt sich einem solchen Vorbild normalerweise an. In unserer Situation war so etwas jedoch nicht erforderlich, da uns das Tempo von zwei Schlitten vorgegeben wurde, von Karjuk und Ram, die unsere Kolonne anführten.
Von Zeit zu Zeit stellte sich Imnak auf die Kufen, drehte sich um und musterte das zerklüftete Terrain hinter uns. So etwas ist üblich bei den rothäutigen Jägern. Auf diese Weise vergewissern sie sich, daß keine Gefahren von hinten drohen, außerdem erhalten sie einen Eindruck davon, wie das Land auf der Rückfahrt aussehen wird. Damit verringert sich die Wahrscheinlichkeit, daß er fehlgeht, weil er sich auf eine Weise das Bild der Gegend aus umgekehrter Sicht schon eingeprägt hat. Natürlich ist so etwas auf einem Eismeer weniger ergiebig, weil die endlosen bizarren Eisformationen sich so ähnlich sind. Es gibt natürlich auch noch die Sterne und die Winde. Für den rothäutigen Jäger sind Winde bei der Richtungsbestimmung äußerst wichtig, denn zu gewissen Zeiten wehen sie vorherrschend aus bestimmten Richtungen. Er vermag sogar bei dunkler Nacht, wenn bei bewölktem Himmel Windstille herrscht, die Richtung zu bestimmen, indem er mit behandschuhten Händen die Ausrichtung von Eiskristallen auf Hängen und Eisblöcken bestimmt, Spuren des früher vorbeistreichenden Windes. Damit soll nicht gesagt sein, daß sich rothäutige Jäger niemals verirren. Andererseits hat ein erfahrener Spurenleser im allgemeinen eine recht gute Vorstellung davon, wo er sich befindet. Das Land, die Winde, die Sterne helfen ihm bei der Kursbestimmung, hinzu kommt der ausgeprägte Orientierungssinn, der auf die rauhe Umgebung bestens eingestimmt ist. Interessanterweise zeigt ein rothäutiger Jäger bei seinen Beschreibungen und bei primitiven in den Schnee gezeichneten Landkarten weniger Interesse für Landmassen oder ihre Formen. Sein Interesse richtet sich auf feste geographische Fixpunkte. Die Form einer Halbinsel, auf der er sein ständiges Lager hat, interessiert ihn beispielsweise weniger als Richtung und Entfernung zum Nachbarlager. Darin liegt eine gewisse Logik. Wenn man zwischen karthographischer Genauigkeit und dem sicheren Eintreffen im nächsten Lager wählen müßte, würde man sich wohl in jedem Falle für das Überleben entscheiden. Und sollte sich ein rothäutiger Jäger einmal verirren, kann er sich unter normalen Umständen ohne weiteres eine Zeitlang am Leben halten. Zu seinem regulären Gepäck gehören Haken, Angelschnur, Schlingen und Harpunen. Mancher Jäger ist schon monatelang herumgeirrt. Natürlich kann er auch seinen Schlitten-Sleen töten und aufzehren; in einer solchen Situation muß der Jäger aber darauf achten, der erste am Zuge zu sein. Ist ein Schnee-Sleen hungrig genug, wendet er sich auch gegen seinen Herrn, Im Norden lauern viele Gefahren, und ich hatte noch viel zu lernen. Es freute mich, in Imnaks Gesellschaft reisen zu dürfen. Ich hielt ihn zwar für absonderlich, andererseits bewunderte ich ihn sehr. Ich täuschte mich nicht darüber hinweg, daß ich ihm viel schuldig war. Zum Glück aber waren wir Freunde, und zwischen Freunden kann es keine Schuldkonten geben.
Auch ich schaute von Zeit zu Zeit zurück. Dabei ging es mir nicht nur um die Form der Landschaft, sondern um etwas anderes, das rothäutige Jäger und Krieger aus dem Süden gemein haben. Man muß wissen, ob man Verfolger hat.
Ich ließ mich ein wenig zurückfallen und trabte neben Imnak her.
»Hast du es gesehen?« fragte ich.
»Seit vier Tagen begleitet es uns«, sagte er.
»Glaubst du, Karjuk weiß von seiner Existenz?«
»Wie könnte er das nicht wissen?«
»Hast du irgendwelche Vorschläge, was wir tun sollen?«
»Wir wollen weiterfahren«, sagte Imnak. »Auf dem Eis mag es uns verlieren. Außerdem möchte ich Karjuk nicht den Rücken zudrehen.«
»Aber er ist der Wächter!« sagte ich.
»Hast du den Kopf des Eis-Ungeheuers gesehen, den er ins Lager brachte?« fragte Imnak.
»Ja.«
»Hast du ihn genau untersucht?«
»Ja«, sagte ich. »Aber Karjuk ist der Wächter«, wiederholte ich.
»Ja. Aber wen bewacht er?«