2

»Mag sein, daß die Kurii eines Tages an ihrer eigenen Arroganz scheitern«, sagte Samos. Mit untergeschlagenen Beinen saß er hinter dem niedrigen Tisch. Darauf standen frisches Brot, gelb und warm, heißer schwarzer Wein mit Zucker, daneben lagen geröstetes Boskfleisch in Scheiben, gebratene Vulo-Eier und köstliche Backwaren mit Krem und Sahne.

»Das wäre zu einfach gesehen«, meinte ich. Mit vollem Mund ließ meine Aussprache zu wünschen übrig.

»Für sie ist dieser Krieg ein Sport«, gab er zurück und musterte mich ernst. »Wie anscheinend auch für manche Menschen.«

»Auf einzelne mag das zutreffen«, sagte ich, »auf die Soldaten, aber gewiß nicht auf die Kurii im allgemeinen. Wie ich die Dinge verstehe, betreiben sie den Kampf mit allem Ernst und mit größter Konzentration.«

»Ich wünschte, alle Menschen wären so ernsthaft bei der Sache«, meinte Samos.

Ich grinste und spülte die Eier mit einem guten Schluck heißen schwarzen Weins hinab. Der schwarze Wein aus den Thentisbergen ist ziemlich teuer; und schon so mancher, der Reben aus Thentis schmuggeln wollte, mußte dafür sein Leben lassen.

»Es gab schon einmal einen Augenblick, da die Kurii – oder eine Gruppe der Kurii – bereit waren, Gor zu vernichten, den Weg zur Erde freizumachen, einer Welt, die ihnen bestimmt weniger liegt als dieser Planet, Die Bereitschaft, so etwas zu tun, paßt meines Erachtens nicht besonders gut zu der Vorstellung von eitlen, stolzen Ungeheuern.«

»Seltsam, daß du sie eitel und stolz nennst«, sagte Samos.

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte ich.

»Das hatte ich auch nicht angenommen«, meinte Samos und trank einen Schluck schwarzen Wein. Ich fragte nicht weiter. Er schien amüsiert zu sein.

»Ich halte die Kurii für zu schlau und zu entschlossen«, sagte ich, »als daß man sie in dieser Sache nach dem äußeren Anschein beurteilen darf. Ein solches Vorgehen, die Übersendung einer solchen Botschaft ist sicher kaum mehr als eine Herausforderung, ein Bluff, der uns auf die falsche Fährte locken soll.«

»Aber können wir das Risiko eingehen?« fragte er.

»Vielleicht nicht«, gab ich zurück. Mit einer turianischen Gabel spießte ich eine Scheibe Fleisch auf.

Aus seiner Robe zog Samos ein langes Seidenband von der Art, die sich Sklavinnen ins Haar binden. Auf dem Stoff waren scheinbar sinnlose Zeichen sichtbar. Er winkte einen Wächter herbei. »Hol das Mädchen!« befahl er.

Ein blondes Mädchen in einer kurzen Sklaventunika wurde hereingeführt. Sie war sichtlich wütend.

Wir befanden uns in Samos’ großem Saal, in dem ich so manches Festessen mitgemacht hatte. Es war der Saal mit dem riesigen Mosaikfußboden, der eine Landkarte darstellte.

Sie schien keine Sklavin zu sein. Das amüsierte mich.

»Sie spricht eine Barbarensprache«, meinte Samos.

»Warum haben Sie mich so herausgeputzt?« fragte sie zornig. Sie sprach englisch.

»Ich verstehe sie«, sagte ich.

»Das ist vielleicht kein Zufall.«

»Vielleicht nicht«, sagte ich und wandte mich an sie. »Ich spreche englisch.«

Sie blickte mich überrascht an. Dann schrie sie zornig auf und zupfte gleichzeitig am Saum des knappen Gewands, das man ihr übergestreift hatte, als könne sie mit dieser Geste ihre Beine verhüllen, die einen prächtigen Anblick boten. »Ich mag nicht so gekleidet sein«, sagte sie. »Man hat mir nicht einmal Schuhe gegeben! Und was soll das?« Sie zerrte an einem schlichten Eisenring, der ihr um den Hals geschmiedet worden war. Ihr Hals war schmal und weich und hübsch anzuschauen.

Samos reichte einem Wächter das Haarband und machte dem Mädchen ein Zeichen. »Leg es an!« befahl er auf goreanisch.

Ich wiederholte den Befehl auf englisch.

»Wann darf ich hier wieder fort?« wollte sie wissen.

Sie bemerkte Samos’ Blick und griff zornig nach dem Band. Sie wand es sich um den Kopf und band das Haar zurück. Heftig errötete sie in dem Bewußtsein, daß sich mit der anmutigen Armbewegung auch ihre Brüste hoben, deren zarte Rundung von dem dünnen Stoff kaum verdeckt wurde.

»So ist sie zu uns gekommen«, sagte Samos, »außer daß sie eine merkwürdige, barbarische Kleidung trug.« Er gab einem Wächter ein Zeichen, der ein Bündel Kleidung auf den Tisch fallen ließ. Ich sah blaue Hosen, ein langärmeliges Flanellhemd, flache Schuhe und Socken.

Das Mädchen versuchte vorzutreten, doch die Spitzen zweier Speere hinderten sie daran.

»Äußerlich kleidest du dich wie ein Mann«, sagte ich zu ihr. »Aber darunter hast du dich auf weibliche Dinge besonnen.« Ich deutete auf den Büstenhalter und das kurze Seidenhöschen, das ebenfalls auf dem Tisch lag.

Sie errötete. »Gebt mir meine Sachen zurück!« forderte sie.

Samos winkte einen Wächter herbei, der die Kleidung auf dem Tisch zusammenschnürte.

»Du kannst selbst sehen, wie sie ausgesehen hat«, sagte Samos.

Damit meinte er natürlich das Band im Haar. Er streckte die Hand aus, eine Geste, die keine Übersetzung erforderte. Sie nahm den Stoffstreifen aus dem Haar und reichte ihn einem Gardisten, der ihn an Samos weitergab. Ich bemerkte die Blicke der Wächter und lächelte. Sie konnten es nicht abwarten, sie im Sklavengehege für sich zu haben. Sie war ein törichtes Mädchen von der Erde, denn sie bemerkte nichts davon.

»Hol deinen Speer!« wandte sich Samos an einen Wächter. »Natürlich eine Wickelbotschaft«, sagte ich. »Ja«, stimmte mir Samos zu, »und der Text ist in Goreanisch.«

Er hatte mir den Text der Botschaft bereits mitgeteilt und mit mir durchgesprochen. Nun schaute ich mir interessiert an, wie das Band um den Speer gewickelt wurde. Bei der Zubereitung wird das Band diagonal um einen Zylinder gewickelt, wobei die Ränder sich sauber berühren müssen. Anschließend wird die Nachricht in parallel zur Zylinderachse verlaufenden Zeilen geschrieben. Die Buchstabenfolge verläuft auf diese Weise über mehrere aneinanderstoßende Kanten des schräg verlaufenden Bandes. Wird die Seide abgenommen, zerfällt der Text in ein Gewirr von zerrissenen Zeilen, in Wort- und Buchstabenbruchstücke; die klare Nachricht wird durch ein Band abgelöst, auf dem sich bedeutungslose, nicht entzifferbare Wortfragmente reihen. Will man den Text lesen, muß man das Band um einen zylindrischen Gegenstand wickeln, der genauso groß ist wie das Original. Die Sicherheit einer solchen Übermittlung liegt weniger in dem Umstand, daß man einen Zylinder von gleichen Umfang finden muß, um den Text wieder lesbar zu machen, als in der Tatsache, daß ein solches Wickelband oft nicht als verschlüsselte Botschaft erkannt wird. Wer nicht gerade danach sucht, würde in dem unauffälligen Muster allenfalls ein Ornament, nicht aber eine bedeutsame oder gar schicksalhafte Botschaft vermuten.

Die Reaktion des Mädchens verriet mir, daß sie nun begriff, was es mit dem Band auf sich hatte.

»Was steht dort?« fragte sie.

»Das geht dich nichts an«, antwortete ich.

»Ich möchte es aber wissen.«

»Möchtest du Prügel beziehen?«

»Nein.«

»Dann halt den Mund!«

Sie schwieg mit geballten Fäusten.

Ich las den Text. »Grüße an Tarl Cabot. Ich erwarte dich am Ende der Welt. Zarendargar. Kriegsgeneral des Volkes.«

»Das ist Halb-Ohr«, sagte Samos, »hoher Kur, Kriegsgeneral der Kurii.«

»Das Wort Zarendargar«, sagte ich, »ist der Versuch, einen kurischen Ausdruck ins Goreanische zu übertragen.«

»Ja«, meinte Samos. Die Kurii sind keine Menschen, sondern Ungeheuer. Ihre Lautsprache entzieht sich der Übertragung in ein menschliches Alphabet. Ebenso hätte man versuchen können, Tieflaute niederzuschreiben. Unsere Buchstaben reichten einfach nicht aus.

»Bringt mich zur Erde zurück!« verlangte das Mädchen.

»Ist sie noch Jungfrau?« wollte ich von Samos wissen.

»Ja. Sie ist noch nicht einmal gebrandet worden.«

»Welches Brandzeichen willst du ihr geben?« fragte ich.

»Das einfache Kajira-Zeichen.« Er wandte sich an die Wachen. »Bringt sie in die Gehege und verkauft sie.«

»Was hat er gesagt?« wollte sie wissen. Ihr Ton verriet, daß sie es von der Erde gewöhnt war, ihren Willen durchzusetzen. Auf der Erde mochten die Männer darauf reagieren, sie waren dazu erzogen worden. Doch ein Georeaner würde so nicht mit sich sprechen lassen.

Zwei Wächter packten sie an den Armen und machten Anstalten, sie aus dem Saal zu führen. Entsetzt starrte sie mich an. »Was hat man vor?«

»Du wirst in die Gehege gebracht und dort entkleidet und mit einem Brandzeichen versehen.«

»Brandzeichen?« Sie schien mich nicht zu verstehen. Was ich ihr gesagt hatte, überstieg ihr irdisches Vorstellungsvermögen. Sie hatte noch keinen Begriff von goreanischer Realität. Sehr schnell würde sie sich darauf einstellen müssen. Eine andere Wahl hatte sie nicht. So ging es allen Mädchen, die auf der Erde übertölpelt und nach Gor in die Sklaverei verschleppt wurden.

»Soll sie unter roter Seide verkauft werden?« fragte ich Samos.

Er betrachtete das Mädchen mit Wohlgefallen. »Ja«, entschied er. »Ich werde es selbst besorgen.« Die Wächter grinsten. Wenn sie auf den Verkaufsblock kam, war sie kein Mädchen mehr.

»Du hast doch nicht etwa gesagt, man würde mich entkleiden und mit einem Brandzeichen versehen?«

»Doch«, sagte ich. »Anschließend wirst du vergewaltigt und zur Frau gemacht. Wenn du weißt, was es mit deiner Fraulichkeit auf sich hat, kommst du in die Gehege. Später wirst du verkauft.«

»Nein!« rief sie. »Das ist doch unmöglich! Nein!«

»Bringt sie fort!« befahl Samos.

»Wartet!« schrie sie und wand sich im Griff der Wächter. »Was ist dies für ein Ort?« fragte sie verzweifelt.

»Diese Welt heißt Gor«, gab ich zur Antwort. »Du befindest dich nicht mehr auf der Erde. Hier herrschen andere Gesetze. Auf Gor bist du rechtlos.«

»Nein!« rief sie. »So etwas gibt es doch nur in Romanen«

Ich lächelte.

»Nein!« rief sie. Mit hektischen Blicken sah sie sich um, betrachtete die Männer, die sie nicht losließen. Ächzend warf sie den Kopf in den Nacken und spürte dabei den Stahlring um ihren Hals. »Nein, nein!« schluchzte sie. »Ich möchte nicht auf Gor sein! Nicht als Frau auf Gor.«

Ich zuckte die Achseln.

»Sie machen doch nur einen Spaß mit mir!« sagte sie hoffnungsvoll.

»Nein«, gab ich zurück.

»Und was ist das für eine Sprache, die hier gesprochen wird?«

»Goreanisch«, antwortete ich lächelnd. »Du solltest sie schleunigst lernen. Es ist die Sprache deiner Herren.«

»Meiner Herren?«

»Ja, dir dürfte doch inzwischen klar sein, daß du Sklavin bist.«

»Nein!« schrie sie. »Nein! Nein! Nein!«

»Bringt sie fort!« sagte Samos ungeduldig.

Das Mädchen kreischte und schluchzte, doch sie wurde aus dem Saal geschleppt. Wie weiblich sie plötzlich war! Sie hatte nichts mehr von einem männlichen Wesen an sich, wie es ihre irdische Kleidung hatte andeuten wollen. Sie war, was sie war, eine Sklavin, die in die Gehege gebracht wurde.

Samos hatte das abgewickelte Band in der Hand und betrachtete es. »Arrogante Ungeheuer!« brummte er.

Ich zuckte die Achseln.

»Bis jetzt hatten wir keinerlei Hinweise«, fuhr er fort. »Jetzt haben wir dies.« Zornig hob er das Band. »Eine klare Botschaft, eine Aufforderung.«

»Sieht so aus«, sagte ich.

Wir wußten nicht, wo das Ende der Welt lag, konnten uns aber vorstellen, wo es zu suchen war. Das Ende der Welt befand sich angeblich zwischen Cos und Tyros, am Ende des Thassa, am Rand der Welt. Bisher war noch niemand zum Rand der Welt gesegelt und hatte diesen Vorstoß überlebt. Was sich dort ereignet hatte, war nicht bekannt. Manche behaupteten, das Thassa wäre endlos, und es gäbe kein Ende der Welt, das grüne Wasser erstrecke sich in unermeßlich schimmernder Weite, Seemann und Helden immer weiter lockend, bis die Männer einer nach dem anderen zugrundegegangen waren und die leeren Schiffe mit festgezurrten Rudern stumm weiterfuhren, bis die Planken verrotteten und auch das widerstandsfähigste Holz eines Tages unter der Wasseroberfläche versank.

»Das Schiff ist bereit«, sagte Samos und blickte mich an. Ein Schiff war für die Reise zum Ende der Welt vorbereitet worden, das Werk Tersites’, eines halb blinden und leicht verrückten Schiffsbauers, der auf Gor sehr umstritten war. Samos hielt ihn für ein Genie. Ich wußte, daß er den Verstand verloren hatte; ob er zugleich auch ein Genie war, vermochte ich nicht zu sagen. Es war ein ungewöhnliches Schiff mit tiefem Kiel und quadratischen Segeln, ganz im Gegensatz zu den meisten goreanischen Schiffen. Obwohl es als Rammschiff konzipiert war, besaß es einen Fockmast. Es war mit langen Rudern ausgerüstet, die von mehreren Männern bedient werden mußten. Anstelle zweier seitlich angebrachter Steuerruder hatte es ein langes Heckruder, das nach hinten ausgerichtet war. Der Rammsporn befand sich oberhalb der Wasserlinie und würde den Schaden beim feindlichen Schiff daher sehr weit oben anrichten. Im Hafen von Port Kar wurde viel über diesen Bau gelacht, doch Tersites beachtete seine Kritiker nicht. Er arbeitete fleißig, wenig essend, am Arbeitsplatz schlafend. Er überwachte das große Werk in jeder Einzelheit. Es wurde behauptet, der tiefe Kiel würde das Schiff langsam machen, die beiden Masten würden im Notfall nur mühsam umzulegen sein, das lange Steuerruder würde sich als unhandlich erweisen und nicht von einem Mann bedient werden können. Es hieß, nicht alle Ruderer könnten ihre Arbeit im Sitzen verrichten, und wenn sie zu mehreren am Ruder säßen, würden manche ihre Anstrengung nur vortäuschen.

Ich war kein Schiffsbauer, ich war Kapitän. Auch ich hatte den Eindruck, daß ein solches Schiff zu schwerfällig und langsam sein würde, daß es sich besser für Frachtdienste eignete, beschützt im Rahmen eines Konvois, anstatt auf dem schimmernden Thassa den Angriffen der schmalen Lateinersegler ausgesetzt zu sein. Wäre es meine Aufgabe, das Ende der Welt zu suchen, so hätte ich das lieber an Bord der Dorna oder Tesepkom getan, schmalen, wendigen Schiffen, deren Eigenschaften und Launen ich bestens kannte.

Andererseits war Tersites’ Schiff sehr widerstandsfähig. Es ragte zu ehrfurchtgebietender Höhe auf, mit stolz emporgeschwungenem Bug, der dem Hafenkanal zugewandt war. Wenn ich so neben dem Schiff stand und an seiner hohen Bordwand entlangschaute, hatte ich zuweilen das Gefühl, daß vielleicht nur ein solches Schiff die gefährliche und vielleicht unmögliche Reise zum Ende der Welt wagen konnte.

Tersites hatte den Bau so angelegt, daß der Bug nach Westen, wies – damit zeigte er nicht nur auf den Hafenkanal zum Meer, sondern zugleich zwischen Cos und Tyros hindurch – auf das Ende der Welt.

»Die Augen sind noch nicht aufgemalt«, sagte ich zu Samos. »Das Schiff lebt noch nicht.«

»Dann male die Augen auf«, sagte er zu mir.

»Das muß Tersites tun«, meinte ich. Er war der Schiffsbauer. Wie sollte ein Schiff ohne Augen sehen können? Für den goreanischen Seemann sind seine Schiffe Lebewesen. Dies mag man als Aberglauben abtun, viele sehen darin aber eine Art unerklärliche Realität, die ein Seemann zu spüren vermag, die er aber anderen Menschen nicht erklären kann und vielleicht auch nicht erklären sollte. Auch ich habe dieses Gefühl manchmal erfahren, spätnachts, auf dem Deck liegend, zu den Monden Gors emporschauend. Es ist eine seltsame Anwandlung. Es ist, als wären das Schiff und das Meer und die ganze Welt irgendwie am Leben. Im allgemeinen hat der Goreaner zu vielen Dingen eine viel intensivere und persönlichere Beziehung als der gebildete Erdenbürger. Vielleicht ist das darauf zurückzuführen, daß er das Opfer einer primitiveren Bewußtseinsstufe ist; andererseits mag es sein, daß wir längst Dinge vergessen haben, die ihm noch bewußt sind. Vielleicht teilt sich die Welt nur jenen mit, die zum Zuhören bereit sind. Wie die Wahrheit in dieser Frage auch aussehen mag, ob der Mensch grundsätzlich ein chemischer Mechanismus ist oder mehr als das, ein bewußtes Lebewesen, dessen Schmerz und Erkenntnis und Bewußtheit das Aufeinanderwirken von Kohlenstoff und Sauerstoff, den Austausch von Gasen, das öffnen und Schließen von Ventilen übersteigen muß – es steht fest, daß manche Menschen – und dazu gehören auch Goreaner – ihre Welt auf eine tiefgründige, vielschichtige Weise erleben, die von der Welterkenntnis der technisch orientierten Mentalität sehr entfernt ist. Der Erdenmensch stellt sich die Welt als im wesentlichen tot vor; der Goreaner sieht sie als durch und durch lebendig. Der eine gebraucht das Schlagwort von der blinden Maschine, der andere das des Lebewesens. Zweifellos übertrifft die Realität alle Metaphern, die nur dünne Strohhalme sind, mit denen wir mitleiderregende, staunende Wesen an den Toren granitener Rätsel zu kratzen versuchen. Aber wenn wir schon unseren Weg wählen müssen, auf dem wir letztlich doch versagen, haben die Goreaner in meinen Augen keine schlechte Entscheidung getroffen. Ihr Weg ist dem des Erdenmenschen zumindest nicht unterlegen. Dem Goreaner liegt seine Welt am Herzen; sie ist .sein Freund; er würde sie nicht töten.

Es mag die Bemerkung genügen, daß die goreanischen Seeleute ihre Schiffe wie Lebewesen behandeln. Anders hätten sie sie nicht so lieben können.

»Dieses Schiff ist weitgehend fertig«, sagte Samos. »Es kann bald zum Ende der Welt absegeln.«

»Findest du es nicht seltsam, daß ausgerechnet jetzt, da das Schiff vor der Vollendung steht, die Botschaft eintrifft?« fragte ich.

»Ja«, sagte Samos. »Seltsam, in der Tat.«

»Die Kurii möchten, daß wir jetzt zum Ende der Welt in See stechen«, meinte ich.

»Arrogante Ungeheuer!« rief Samos und schlug mit der Faust auf den kleinen Tisch. »Sie fordern uns damit auf, den Versuch zu machen, ihnen Einhalt zu gebieten!«

»Vielleicht«, räumte ich ein.

»Wir haben sie vergeblich gesucht. Wir waren hilflos. Wir wußten nicht, wo wir nach ihnen forschen sollten. In ungeduldiger Eitelkeit, in schändlichem Spott über unsere Unfähigkeit teilen sie uns jetzt mit, wo sie sich aufhalten!«

»Tun sie das wirklich?« fragte ich.

»›Wir sind hier‹ – das steht doch in der Botschaft. ›Kommt, sucht uns auf, ihr Dummköpfe, wenn ihr es wagt!‹«

»Mag sein«, sagte ich zweifelnd.

»Glaubst du nicht an die Botschaft?« wollte Samos wissen.

»Ich weiß nicht. Ich weiß es einfach nicht.«

»Sie machen sich über uns lustig. Für sie ist der Krieg ein Sport.«

»Vielleicht hast du recht.«

»Wir müssen handeln. Du mußt sofort zum Ende der Welt reisen.« Samos blickte mich grimmig an. »Dort mußt du Halb-Ohr suchen und vernichten.«

»Vom Ende der Welt ist noch niemand zurückgekehrt.«

»Hast du Angst?« fragte Samos.

»Warum ist die Botschaft ausgerechnet an mich gerichtet?«

»Die Kurii kennen dich. Sie respektieren dich.«

Ich respektierte meinerseits die Kurii. Ich war ein Krieger. Es gefiel mir, mich mit diesem Gegner auf die grausamen und tödlichen Kriegsspiele einzulassen. Die Kurii waren schlau und kampfesfreudig und grausam. Ich war ein Krieger.

»Lastet dir das Schicksal zweier Welten nicht schwer auf den Schultern?« wollte Samos wissen.

Ich lächelte.

»Ich kenne dich«, sagte er mit bitterem Ton. »Du bist ein Krieger, ein Söldner, ein Abenteurer. Du kämpfst, weil es dir ein Hochgefühl bereitet. Du bist frivol. Auf diese Weise bist du so verachtenswert wie die Kurii.«

»Vielleicht bin ich ein Abenteurer«, sagte ich. »Ich weiß es nicht genau, Ich habe mich mit Kurii gemessen. Ich habe in Stahl gehüllte Männer bekämpft. Ich habe die Frauen von Feinden nackt zu meinen Füßen liegen gehabt.«

»Du bist ein Söldner«, sagte er.

»Das mag sein«, gab ich zurück, »aber ich suche mir meine Kriege sorgfältig aus.«

»Seltsam«, fuhr Samos fort, »daß wir für die Zivilisation kämpfen, gegen die Barbarei der Kurii.«

Ich lächelte über das Bild, das Samos von sich selbst hatte.

»Dabei gäbe es in der Welt, für die wir kämpfen, gar keinen Platz für uns«, fuhr er fort.

Ich schaute ihn wortlos an.

»Ist das nicht ein Widerspruch? Die Menschen brauchen Kämpfer wie uns, um eine Welt zu schaffen, in der wir mißachtet und verächtlich abgetan werden. Selten erinnern sich die Menschen an jene, die ihnen die Früchte des Sieges brachten.«

»Das stimmt«, sagte ich.

»Die zivilisierten Menschen«, sagte Samos, »die kleinen und bleichen Kriecher, die Rechtschaffenen, die Gebildeten, die selbstgefälligen. Hochmütigen, die Schwächlinge und Eingebildeten – sie alle stehen auf den Schultern blutüberströmter Riesen, die rasch in Vergessenheit geraten. Du bist ein solcher blutüberströmter Riese.«

»Nein«, antwortete ich. »Ich bin nichts anderes als ein Tarnkämpfer, ein Nomade ungewöhnlicher Konflikte, ein Freund des Schwertes.«

»Manchmal weine ich«, sagte Samos und musterte mich. In einer solchen Stimmung hatte ich ihn noch nicht erlebt.

»Wenn unser Kampf erfolgreich verläuft – muß er dann unbedingt im Sieg des Trivialen und Unbeweglichen gipfeln, in der Verherrlichung des Mittelmäßigen? Soll unser Blut vergossen sein, nur um das kleine Glück zu erreichen, die Zufriedenheit der Herde, die zwischen den Dünen der Langeweile grast?«

»Auch diese Geschöpfe haben ihre Sorgen, die ihnen wichtig vorkommen«, wandte ich ein. »Und sie haben ihre Vergnügungen und suchen Anregungen. Ganze Industrien werden versuchen, ihre Langeweile zu vertreiben.«

»Aber wird nichts wirklich Bedeutung haben?« fragte er.

»Vielleicht müssen die Menschen schlafen, ehe sie erwachen.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Dort draußen warten die Sterne«, sagte ich.

»Die Kurii stehen zwischen uns und den Sternen.«

»Vielleicht dienen unsere Mühen dazu, das Tor zu den Sternen aufzustoßen.«

»Die Menschen werden niemals danach greifen«, meinte Samos.

»Einige schon.«

»Aber die anderen werden ihnen nicht helfen, und dann muß das Abenteuer fehlschlagen.«

»Mag sein«, sagte ich. »Ich weiß es nicht. Viel hängt davon ab, was der Mensch darstellt.«

»Und der ist noch nicht ergründet worden.«

»Wozu es vielleicht auch niemals kommt. Vielleicht wäre so etwas auch unmöglich. Das wahre Maß des Menschen ist das Streben nach dem, was über seine augenblicklichen Grenzen hinausgeht.«

»Mag sein«, sagte Samos lächelnd.

»Ich habe gejagt und bin gejagt worden«, fuhr ich fort.

»Warum sagst du das?«

»Und im Jagen und Gejagtwerden habe ich voll gelebt. Begreifst du, was ich sagen will? Der Konflikt, die Auseinandersetzung, selbst wenn sie den Triumph der sanftmütigen Herde zur Folge hätte, deren Mitglieder einander gleich zu sein versuchen – dieser Kampf wäre dennoch unser, etwas, das uns nicht genommen werden kann.«

»Ja«, sagte Samos.

»Unser ist der Kampf. Unsere Hand hat den Griff des Schwertes gepackt. Wir, nicht sie, haben dem Feind gegenübergestanden. Sollen sie doch darum jammern, daß sie nicht dabei waren!«

»Ja«, sagte Samos. »Ich möchte nicht anders sein als ich bin, und an keinem anderen Ort.«

»Die Bedeutung der Geschichte«, fuhr ich fort »liegt nicht in der Geschichte. Sie ist wie eine Bergkette mit vielen Gipfeln. Große Taten sind der Sinn der Geschichte. Es gibt viele Bedeutungen und viele Gipfel. Man kann zu verschiedenen Zeiten verschiedene Berge ersteigen, doch jeder Berg erstrahlt im Licht derselben Sonne.«

»Den Kurii müssen wir entgegentreten«, sagte Samos. »Du bist ein Krieger, du wirst diesen Kampf wählen. Morgen früh wird das Schiff vom Stapel laufen – mit gemalten Augen.«

Ich stand auf. »Wir wollen nichts überstürzen«, sagte ich.

Verblüfft schaute er zu mir empor.

»Wir müssen Proviant bereitstellen und außerdem eine Mannschaft anheuern. Außerdem müssen wir eine zufriedenstellende Probefahrt absolvieren, damit ich weiß, wie sich das Schiff manövrieren läßt und ob es seetüchtig ist.«

»Aber es kommt auf jede Stunde an!« sagte er. »Ich kann dir Vorräte und Männer überlassen.«

»Ich muß mich um diese Dinge kümmern«, sagte ich. »Und ich muß mir meine Männer selbst aussuchen, denn von ihnen würde ich abhängen.«

»Halb-Ohr wartet am Ende der Welt!« rief Samos.

»Soll er warten«, sagte ich.

Irritiert sah er mich an,

»Wenn er wirklich wartet«, sagte ich, »besteht kein Grund zur Eile. Außerdem mag es Monate dauern, bis ich am Ende der Welt bin, wenn ich überhaupt jemals hinkomme.«

»Damit hast du recht.«

»Außerdem haben wir En’Kara.«

»Na und?«

»Auf dem En’Kara-Markt am Sardargebirge rückt die Zeit der großen Kaissa-Spiele heran.« Es fiel mir schwer zu glauben, daß Samos das nicht wußte. »Centius aus Cos verteidigt seinen Titel gegen Scormus aus Ar.«

»Wie kannst du dich in einem solchen Augenblick um Kaissa kümmern?« fragte er.

»Das Spiel ist wichtig! Der Planet hat jahrelang darauf gewartet.«

»Ich nicht«, knurrte Samos.

Das große Finale war wegen des Krieges zwischen Ar und Cos verschoben worden; bei der Auseinandersetzung ging es um Piratenumtriebe und gegenseitige Ansprüche auf den Vosk. Der Krieg war zwar nicht beendet, doch inzwischen waren beide Spieler unter Bewachung zum Sardargebirge gebracht worden. Lurius aus Jad, der Ubar von Cos, und Marlenus aus Ar, auch Ubar aller Ubars genannt, hatten dafür einen besonderen Waffenstillstand ausgehandelt. Für die meisten Goreaner ist das Kaissaspiel eine ernsthafte Angelegenheit. Es ärgerte mich ein wenig, daß Samos die Bedeutung dieser Konfrontation nicht zu begreifen schien.

»Wie haben alle unsere Schwächen«, sagte ich.

»Stimmt. Kaissa ist eine Krankheit.«

»Oh«, antwortete ich. Wenn es sich um eine Seuche handelte, dann war aber die Mehrheit der Goreaner davon betroffen. Ich rechnete damit, für einen Stehplatz im Amphitheater, in dem der Kampf stattfand, eine goldene Tarnscheibe zahlen zu müssen. Mit einer goldenen Tarnscheibe konnte man einen trainierten Kriegstarn kaufen oder mehrere Frauen.

»Wenn eine entscheidende Aktion durchzuführen wäre, von dem das Schicksal zweier Welten abhinge«, sagte Samos, »und wenn gleichzeitig ein wichtiges Kaissaspiel stattfände – wie würdest du dich entscheiden?«

Ich grinste ihn an. »Darüber müßte ich erst einmal gründlich nachdenken. Wer wären denn die Spieler?«

Irritiert seufzend erhob sich Samos. Er lächelte. »Komm mit!« forderte er mich auf.

Er führte mich an eine bestimmte Stelle im Saal und deutete auf jenen Bereich des Landkartenmosaiks, der Cos und Tyros zeigte. Bis auf einige kleine, dicht zusammenliegende Inseln, die keine große Bedeutung hatten, war das Mosaik hier zu Ende. Niemand wußte, was hinter Cos und Tyros lag, im fernen Westen.

»Deine Gedanken sollten sich nicht mit Kaissa beschäftigen«, sagte Samos; »sondern mit dem Ende der Welt.« Er deutete auf eine Stelle, die nur kleine, glatte Fliesen enthielt.

»Vielleicht befindet sich das Ende der Welt auf der anderen Seite jener Mauer?«

Wir wußten nicht, wo die Welt im Maßstab des Bodenmosaiks enden würde.

»Möglich, möglich«, sagte Samos lachend. Er schaute sich auf dem Mosaik um. Einen Augenblick lang verweilte sein Blick zögernd auf einer Stelle im hohen Norden.

»Was ist?« fragte ich. Sein Zögern – eine kleine Schulterbewegung – war mir nicht entgangen.

Er winkte einem Wächter, uns eine Lampe zu bringen, denn wir befanden uns abseits des Lichtscheins aus dem Kohlebecken und der Fackeln an den Wänden.

Langsam schritten wir in die Tiefe des Saals. Der Wächter hob die Lampe.

»Wie du weißt«, setzte Samos an, »ist dieses Haus ein Informationszentrum. Viele Berichte treffen hier ein. Viele Nachrichten, die wir empfangen, sind unwichtig, bedeutungslos. Aber wir versuchen informiert zu bleiben.«

»Daran zweifle ich nicht«, sagte ich. Aus solchen Details mochte sich doch einmal etwas Wesentliches ableiten lassen.

»Zwei Informationen kamen uns irgendwie seltsam vor. Sie haben uns zu unterschiedlichen Zeiten erreicht und gehören im Grunde nicht zusammen. Dennoch stellen sie, jede für sich, eine Provokation dar.«

»Worum handelt es sich?« fragte ich.

»Schau!« sagte Samos. Er duckte sich und hielt die Lampe etwa einen Fuß hoch über den Boden. »Hier ist Kassau, und dort das Riff von Vars.«

»Ja.«

»Und nördlich davon Torvaldsland«, fuhr er fort, »und der Axtgletscher.«

»Ja«, warf ich ein.

»Hast du schon mal von der Herde von Tancred gehört?«

»Nein.«

»Es handelt sich um eine Tabukherde, Tiere, die im nördlichen Klima überleben können. Eine Riesenherde, eine von mehreren. Die Herde von Tancred überwintert in den Randgebieten der Nordwälder südöstlich von Torvaldsland. Im Frühling kommen die Tiere mit dünnem Fell und hungrig aus den Wäldern und ziehen in Richtung Norden.« Er deutete auf die Karte. »Dabei folgt die Herde diesem Weg: Hier aus dem Wald heraus, um Torvaldsland herum, in Richtung Osten, dann oberhalb von Torvaldsland in Richtung Westen, zum Meer. Dort folgen die Tiere der Küste des Thassa nach Norden, überqueren hier den Axtgletscher wie dunkle Wolken auf dem Eis und wandern weiter an der Küste entlang, bis sie schließlich nach Osten auf die Tundra der polaren Niederung einbiegen, um dort den Sommer über zu grasen. Rückt der nächste Winter heran, kehren sie rund und mit zottigem Fell auf demselben Weg in die Wälder zurück. Diese Wanderung findet in jährlichem Rhythmus statt – wie es in der Tierwelt üblich ist.«

»Ja und?«

»In diesem Jahr scheint die Herde ausgeblieben zu sein.« Ich musterte ihn verwirrt.

»Rote Jäger aus dem polaren Becken, die Tee und Zucker eintauschten, haben gemeldet, daß die Herde dieses Jahr nicht aufgetaucht sei.«

»Das ist in der Tat seltsam«, stellte ich fest.

»Nicht nur das – die Angelegenheit ist viel ernster«, widersprach er. »Wenn die Herde nicht kommt, geht es den Bewohnern der Polregion schlecht. Die Herde liefert ihnen die Nahrung. Sie müssen verhungern, wenn sie ausbleibt.«

»Können wir irgend etwas unternehmen?« fragte ich.

»Ich glaube nicht«, antwortete Samos. »Natürlich haben die Menschen dort auch im Winter gejagt und gewisse Vorräte angelegt, die eine Zeitlang reichen werden. Anschließend müssen sie woanders jagen. Vielleicht können sie sich bis zum Herbst auch durch Fischfang durchschlagen, bis der schwarze Meeres-Sleen zurückkehrt. Aber viele werden sterben.«

Die rothäutigen Jäger führten ein Nomadenleben, das von den Wanderungen verschiedener Tierarten abhing, insbesondere des Nord-Tabuk und vier verschiedener Arten Meeres-Sleen. Dementsprechend richtete sich ihre Jagdbeute nach den Jahreszeiten. Manchmal fingen sie den nördlichen Hai, manchmal sogar den zahnbewehrten Hunjerwal oder den weniger verbreiteten Karlwal. Trotzdem war ihre Versorgung von unsicheren Faktoren abhängig. Wenig war über die einzelnen Stämme bekannt. Wie es bei vielen einfachen primitiven Völkern der Fall ist, lebten und starben sie in ihrer Einöde, ohne daß Notiz davon genommen wurde.

»Sende ein Schiff nach Norden«, sagte ich. »Mit Vorräten.«

»Das Meer nördlich des Axtgletschers ist tückisch«, wandte Samos ein.

»Schick es trotzdem los.«

»Na schön.«

»Aber da war doch noch etwas«, sagte ich.

»Hier«, sagte er und rückte ein Stück zur Seite. Er beugte sich über das Mosaik, wo es einen Bereich des Thassa darstellte, einen Meeresarm, der halbkreisförmig in nordöstlicher Richtung der Kontur der Polarküste folgte. Dort oben war das Meer gut die Hälfte des Jahres zugefroren. Stürme und Gezeiten ließen das Eis aufbrechen, warfen es auf und türmten es zu fantastischen Gebilden, wilde, weglose Formationen, Lust und Launen einer schrecklichen Natur ausgeliefert, das gefährliche Packeis des Nordens.

Samos stellte die Lampe auf den Boden. »Hier«, sagte er. »Irgendwo hier liegt er.«

»Wer denn?« fragte ich. Auf der Karte war nichts eingezeichnet.

»Der Berg, der sich nicht bewegt«, antwortete er.

»Das haben Berge so an sich.«

»Die Eisberge des Polarmeeres treiben nach Osten«, stellte er fest.

»Ich verstehe.«

»Es gibt hier einen Eisberg, der der Parsitströmung nicht folgt.«

Die Parsitströmung ist die vorherrschende östliche Strömungsrichtung des nördlichen Meeres. Ihren Namen hat sie von den Parsits, das sind verschiedene Arten von Fischen, kleine, schmale und unauffällig gestreifte Tiere, die diesen Strom für ihre Wanderungen benutzen. In ihrem Gefolge kommen die Sleen, die sich im wesentlichen von ihnen ernähren.

»Ein Eisberg, der sich nicht in der Strömung bewegt, der nicht mit seinen Brüdern treibt«, sagte ich, »das gibt es doch nur in den Legenden.«

»Da hast du wohl recht.«

»Deine Verantwortung macht dir zu schaffen, Samos«, fuhr ich fort. »So etwas kann es nicht geben.«

Samos nickte und grinste mich an. »Du hast recht«, räumte er ein.

»Wo hast du davon gehört?« fragte ich.

»Von einem Mann aus der Polniederung, der in den Süden gekommen war, um am Sardargebirge Felle zu verkaufen.«

»Hat er diesen Berg selbst gesehen?«

»Nein.«

»Wie konnte er dann davon berichten?« fragte ich lächelnd.

»Man gab ihm eine Münze«, antwortete Samos, »damit er von seltsamen oder ungewöhnlichen Dingen berichte, von denen er erfahren hatte.«

»Das Geld hat er sich verdient«, stellte ich fest.

»Heimtückischer Sleen«, sagte Samos.

Ich lachte auf. Samos fiel in mein Lachen ein.

»Schlaue Burschen gibt es im Norden«, sagte ich.

»Ich lasse mich nicht oft hereinlegen«, erwiderte Samos.

Wir standen auf und kehrten an den kleinen Tisch zurück. Er stellte die Lampe darauf.

»Du machst dich also bald auf den Weg zum Ende der Welt?« fragte Samos.

»Die Absicht habe ich.« Ich wandte mich zum Gehen.

»Kapitän.«

Ich drehte mich noch einmal um. »Ja?«

»Wenn sich das Tor zu den Sternen jemals öffnen sollte«, sagte er, »meinst du, daß dann sich die Menschen des Namens Tarl Cabot erinnern werden?«

»Nein.«

»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte er.

»Auch ich wünsche dir alles Gute, Samos, Erster Kapitän von Port Kar.«

»Wer wird siegen – Centius aus Cos oder Scormus aus Ar?«

»Natürlich Scormus aus Ar«, gab ich zurück. »Er ist unbesiegbar. Centius ist ein guter Spieler, doch er hat seinen Höhepunkt überschritten. Er ist müde geworden. Seine großen Siege liegen hinter ihm. Er wird Scormus nicht widerstehen können.«

Ich erinnerte mich an Scormus aus Ar, den ich vor einigen Jahren im Hause des Cernus von Ar getroffen hatte. Er war ein unglaublich gutaussehender junger Mann, überaus klug, arrogant, herablassend – und gehbehindert. Er war viel allein. Es hieß, er habe noch nie eine Frau berührt. Er herrschte über das strahlende Ar mit seinem Kaissabrett. Er spielte schnell, entschlossen, gnadenlos, genial; mehr als ein Spieler hatte den Sport aufgegeben, nachdem Scormus’ Genie ihm einen Streich gespielt hatte. Für ihn war Kaissa eine Waffe. Er konnte damit seine Gegner vernichten. Centius aus Cos dagegen war schon älter; niemand wußte, wie alt. Angeblich hatten die Stabilisationsseren bei ihm erst zu wirken begonnen, als er fünfzig Winter hinter sich hatte. Er war klein und grauhaarig und unterschied sich an Persönlichkeit und Charakter sehr von dem jungen Scormus; er war ruhig, zurückhaltend und sanft; er liebte das Kaissa und seine Schönheit. Oft saß er stundenlang stumm allein am Brett und suchte nach einer außergewöhnlichen Kombination. Einmal war er im Tharna-Turnier von Sabo aus Turia besiegt worden und hatte seinen Gegner weinend vor Freude umarmt und ihm dafür gedankt, daß er an einem so schönen Spiel teilnehmen durfte. »Siegen oder verlieren sind nicht wichtig«, hatte er einmal gesagt. »Wichtig ist das Spiel – und die Schönheit.« Viele hielten ihn für verrückt. »Ich möchte lieber als der Verlierer eines wunderschönen Spiels in Erinnerung bleiben«, sagte er, »denn als Sieger von tausend mißlungenen Wettstreiten.« Er war stets aus auf der Suche nach dem vollkommenen Spiel, ohne es jemals zu finden. Schönheit gibt es wohl überall. Der Handwerker mag sie in einem Stück Leder finden, für einen anderen unsichtbar, ein Musiker in einer besonderen Tonfolge, die dem Ungeschulten entgeht. Und ein Kaissaspieler mag solche Schönheit im Arrangement der winzigen Holzstücke auf einem Brett mit roten und gelben Quadraten sehen.

»Wann kehrst du zurück?« fragte Samos.

»Nach den Spielen.«

Er begleitete mich zum äußeren Tor seines Hauses, wo ich mir den Admiralsmantel um die Schultern legte.

Kurz darauf saß ich am Steuer des Langboots und wurde zu meinem Haus gerudert. Ich sah den seidigweichen Kopf einer Urt wenige Fuß entfernt im Kanal auftauchen – ein großes Tier, etwa vierzig Pfund schwer. Diese Geschöpfe ernähren sich von dem Unrat, der in die Kanäle geworfen wird – und von ertränkten Sklaven, die ihren Herren mißfallen haben. Ich dachte an die rätselhafte Botschaft: »Grüße an Tarl Cabot. Ich erwarte dich am Ende der Welt. Zarendargar. Kriegsgeneral des Volkes.«

Ich lächelte vor mich hin.

Der Bug von Tersites’ Schiff deutete bereits auf das Ende der Welt. Bisher war noch niemand von dort zurückgekehrt.

Ich steuerte das Boot um eine Biegung des Kanals. Dabei warf Ich einen letzten Blick auf Samos’ Haus, das hoch und dunkel über dem Kanal aufragte, das Bollwerk eines Sklavenhändlers, eine düstere, abschreckende Festung.

In den Kellerverliesen dieses Hauses gab es jetzt eine neue Sklavin, ein schlankes, blondes Mädchen von der Erde, gebrandet und brutal entjungfert. Sie hatte sich in die großen Dinge der Welt eingemischt und war jetzt versklavt worden. Ich fragte mich, ob sie begriffen hatte, was mit ihr geschehen war. Und ob sie schnell genug begreifen würde, daß sie ihrem Herrn gefallen mußte, wenn sie nicht gefesselt in einem der Kanäle enden wollte.

Dann dachte ich an das bevorstehende Spiel zwischen Centius aus Cos und Scormus aus Ar.

Ich würde eine große Summe auf Scormus aus Ar setzen. Allerdings rechnete ich nicht damit, daß ich eine gute Quote bekommen würde.

Загрузка...