»Aja! Aja!« sang die Frau.
Ich biß in das gebratene Fleisch. Neben mir saß Imnak mit untergeschlagenen Beinen. Er kaute rohen Speck, dessen Fett ihm zu beiden Seiten des Mundes herablief. Er wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel ab.
Das Festhaus war voll. Etwa vierzig Männer und Frauen drängten sich in dem Gebäude.
Imnak und ich waren mit den Mädchen schon sehr früh in den Norden gekommen. Wochenlang hatten wir im ständigen Lager gewartet. Es war noch leer gewesen. Im Frühherbst waren schließlich mehrere Familien eingetroffen, um die vor ihrer Wanderung verlassenen Unterkünfte wieder einzunehmen. So ergab es sich nun, daß wir genausogut mit dem Volk hätten nach Norden ziehen können, mit den verschiedenen Gruppen, die sich in ihre ständigen Winterquartiere begaben. Mit meiner Eile hatte ich nichts erreicht. Wir hatten gejagt und gefischt und uns mit den Sklavinnen vergnügt; ansonsten hatten wir nur gewartet.
»Ich hatte nicht erwartet, daß Karjuk ein leeres Lager aufsuchen würde«, sagte Imnak, »aber ich wußte es nicht genau. Folglich bin ich mit dir in den Norden gezogen.«
»Das Lager ist nicht mehr leer«, stellte ich fest.
Imnak zuckte die Achseln. »Da hast du recht.«
»Wo ist Karjuk?«
»Vielleicht kommt er.«
»Und was ist, wenn er nicht erscheint?«
»Dann kommt er nicht«, sagte Imnak.
Die Wochen gingen ins Land, und ich war immer unruhiger geworden.
»Machen wir uns auf die Suche nach Karjuk«, sagte ich.
»Wenn die Eis-Ungeheuer Karjuk nicht aufspüren«, antwortete Imnak, »wie wollen wir ihn finden.«
»Was können wir tun?«
»Wir können warten«, sagte er.
Und wir hatten gewartet. Und gesungen.
Die Gesänge der rothäutigen Jäger sind ihr ureigenstes Werk. Man geht davon aus, daß sich jeder Mann und jede Frau eigene Lieder zurechtlegt, so wie man auch erwartet, daß jeder schnitzen und jagen kann. Die Lieder dieses Volkes sind im allgemeinen sehr schlicht, doch einige auch sehr schön und sogar anrührend. Die Jäger begleiten sich dabei auf einer großen, mit Tabukleder bespannten Trommel, die, auf den Holzrahmen geschlagen, eine seltsame Resonanz erbringt.
Ein Mann stimmte ein Lied über das Kajakbauen an, eine Hymne an Leder, Holz und Sehnen, mit denen er arbeitete und die ihn im Polarmeer nicht im Stich lassen durften. Jemand anders ließ ein Sleenlied folgen, eine Ermutigung an das Tier, dorthin zu schwimmen, wo der Jäger es treffen kann. Das dritte Lied drehte sich um einen jungen Schurken, der eigentlich auf die Tabukjagd gehen sollte, sich aber statt dessen hinlegte und seine Stiefel an einem Felsen abschabte und seinen Gefährten später mitteilte, er habe vergeblich gejagt. Nach den Blicken zu urteilen, die durch den Saal geschickt wurden, war dieser junge Mann sogar anwesend. Später sangen zwei Frauen, die eine über das Sammeln von Vogeleiern in ihrer Jugend, die andere über die Freude beim Anblick eines Verwandten, den sie seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Ich werte es als recht positiv, daß die rothäutigen Jäger Lieder erfinden. Sie sind nicht so kritisch wie andere Völker. Für sie ist es oft wichtiger, daß ein gern gesehener Mitmensch überhaupt singt, als daß sein Lied gut ist Wenn es ein »echtes« Lied ist, das vom Herzen kommt, freuen sie sich darüber. Vielleicht ist das Lied allein dadurch »gut«. Andererseits empfinden die rothäutigen Jäger ihre Lieder als kostbar und geheimnisvoll. Sie freuen sich, daß es Lieder gibt. Bei ihnen gilt das geflügelte Wort: »Niemand weiß, woher Lieder kommen.«
»Sing, Imnak!« rief Akko.
»Sing, Imnak!« rief Kadluk.
Imnak schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein«, sagte er.
»Imnak singt nie«, sagte Poalu zu mir.
»Ich kann nicht singen«, sagte Imnak.
»Nun komm schon, sing!« riefen andere.
Zu meiner Überraschung stand Imnak auf und verließ hastig das Festhaus.
Ich folgte ihm ins Freie. Besorgt ging mir Poalu nach.
»Ich kann nicht singen«, sagte Imnak. Er stand unten am Wasser. »Mir steigen keine Lieder in den Mund, ich bin ohne Lieder. Ich ähnele dem Eis auf dem Gletscher, der niemals Blumen hervorbringt. Mir fliegt nie ein Lied zu. In meinem Herzen ist noch kein Lied geboren worden.«
»Du kannst singen, Imnak«, sagte Poalu.
»Nein«, antwortete Imnak. »Kann ich nicht.«
»Eines Tages wirst du im Festhaus singen«, sagte Poalu.
»Nein«, sagte Imnak. »Ich kann nicht singen. Geh wieder ins Festhaus!«
Sie machte kehrt. Das Festhaus unterschied sich kaum von den anderen Behausungen im ständigen Lager, außer daß es größer war. Es war halb in den Boden hineingegraben und mit doppelten Wänden versehen. Diese beiden Mauern bestanden aus Steinen. Dazwischen dienten Torfschichten, gestochen auf der Tundra, zur Isolation. Auf der Innenseite waren darüber hinaus noch Tabukfelle gespannt worden, um die Wärme zu halten. Oben im Dach war ein Rauchabzug. Beim Eintreten mußte man sich durch eine niedrige Öffnung bücken. Die Decke, gestützt von zahlreichen Säulen, bestand aus Schichten von Gras und Lehm. Das Lager umfaßte das Festhaus und zehn oder elf weitere Hütten. Die Jägervölker zählten insgesamt etwa fünfzehnhundert Seelen, die jedoch in getrennt ziehenden kleinen Gruppen lebten. Im Sommer kam man zur großen Tabukjagd zusammen, wenn die Herde von Tancred den Axtgletscher überquerte und die Tundra erreichte, doch selbst dann bildeten sich immer wieder die kleinen Gruppen, die bei der Verfolgung des Tabuk für sich arbeiteten. Gegen Ende des Sommers suchten die Jäger, die nur im Frühling oder Frühsommer zusammenkamen, wieder ihre eigenen Lager auf. Es gab etwa vierzig Lager, teilweise mehrere Tagesreisen weit voneinander entfernt. Imnaks Lager gehörte zu den zentral liegenden Siedlungen, in denen die rothäutigen Jäger den größten Teil des Jahres zubrachten. Manchmal verließen sie sie im Winter, wenn sie weitere Nahrung brauchten; dann machten sich einzelne Familien zuweilen auf die Sleenjagd und wagten sich dabei auf das Packeis hinaus. Sleen tauchten nur selten auf; ihr Fleisch reichte nicht aus, um zehn oder zwölf Familien aus einem Lager zu ernähren. Wenn es wenig Beute gibt, läßt sich manchmal ein Ausgleich schaffen, indem man die Größe der Jagdgruppe verringert oder den Bereich der Jagd erweitert. Besonders im Winter ist es wichtig, daß die Familie einen guten Jäger hat.
Imnak schaute über das Wasser.
»Einmal glaubte ich ein Lied machen zu können«, sagte er. »Ich wollte singen. Ich wollte sogar sehr gern singen – über die Welt und wie schön sie ist, über das große Meer, die Berge, die hübschen Sterne, den mächtigen Himmel.«
»Warum hast du das Lied nicht gemacht?« fragte ich.
»Eine Stimme«, sagte Imnak, »schien mir zuzuflüstern: ›Wie kannst du es wagen, ein Lied zu machen? Wie kannst du es dir anmaßen zu singen? Ich bin die Welt, ich bin das große Meer, die hohen Berge, die funkelnden Sterne, der weite Himmel! Glaubst du, du kannst uns in dein kleines Lied stecken?‹ Da bekam ich Angst und ließ es sein.«
Ich musterte ihn von der Seite.
»Seit dem Tag habe ich nicht mehr zu singen versucht.«
»Singen ist nichts Falsches«, sagte ich.
»Wer bin ich schon, daß ich mir ein Lied ausdenke?« fragte Imnak. »Ich hin ein Niemand.«
»Aber es wäre besser, ein Lied vorzutragen und damit einen Fehlschlag zu erleiden, als es gar nicht zu versuchen.«
»Ich bin zu klein«, sagte Imnak. »Ich kann nicht singen. Kein Lied läßt sich auf meiner Schulter nieder. Kein Lied kommt zu mir und bittet mich, es zu singen.«
»Kein Lied kann den Himmel einfangen«, sagte ich. »Kein Lied kann die Berge umfassen, die ganze Welt. Sie bestehen außerhalb der Welt wie Liebende, und sagen ihr, wie schön sie ist.«
»Ich kann nicht singen«, sagte er und wandte sich ab.
Aus dem Festhaus tönte Gelächter herüber. Über dem Polarmeer standen die Sterne. Die Dämmerung des polaren Winters hatte bereits eingesetzt.
Die Überreste des mächtigen Hunjerwals lagen am Strand, ein Großteil war bereits zerteilt worden, viele Knochen hatte man verarbeitet.
»Die Fleischgestelle sind voll«, sagte ich. Meine Worte galten den hohen Holzgebilden, die da und dort im Lager standen.
»Ja«, sagte Imnak.
Vor zwei Wochen war es uns gelungen, einen Bartenwal zu erlegen. Daß in einer Jagdsaison zwei Wale getötet werden konnten, war ein seltenes Fangglück. Manchmal vergingen zwei oder drei Jahre, ohne daß überhaupt ein Wal gesichtet wurde.
»Es ist gut«, sagte Imnak und betrachtete die Fleischgestelle. »Vielleicht müssen die Familien in diesem Winter nicht aufs Eis.«
Die Jagd auf dem Eis kann gefährlich sein. Durch Wind und Gezeiten getrieben, kann sich das Terrain verschieben, aufbäumen oder sogar brechen.
Die Sonne stand unter dem Horizont. Lachen schallte aus dem Festhaus.
Die Polarnacht ist natürlich nicht völlig dunkel. Die goreanischen Monde und sogar die Sterne verbreiten Licht, das von Schnee und Eis reflektiert wird und mehr als ausreichend ist, um sich zurechtzufinden. Doch sobald Wolken oder Stürme aufziehen, ist es mit dem Licht natürlich vorbei. Dann müssen die Jäger drinnen bleiben und sich mit dem Toben des Sturms abfinden.
»Ich kann mich nicht erinnern, daß die Gestelle schon einmal so schwer beladen waren«, bemerkte Imnak.
»Kein Wunder, daß die Stimmung im Festhaus so gut ist«, sagte ich.
Außer den Walen waren noch viele Sleen und Fische gefangen worden. Darüber hinaus hatten die Familien auf dem Wege nach Norden soviel Tabukfleisch mitgeschleppt, wie sie tragen konnten. Sogar die Kinder hatten mitgeholfen. Zu der Fracht gehörten auch Eier und Beeren und zahlreiche andere Güter und Leckereien, Dinge des Sommers, allerdings nicht ausschließlich für die Speisekammer – es waren auch Horn und Sehnen, Knochen und Felle darunter.
Die Sonne würde ein halbes Jahr lang nicht mehr zu sehen sein. Sie würde mir fehlen.
»Ich glaube, wir haben genug zu essen für den Winter«, sagte Imnak.
Ich betrachtete die hohen Fleischgestelle, die zum Teil über zwanzig Fuß hoch waren, um das Fleisch vor dem Angriff der Sleen, der gezähmten wie auch der wilden Sleen, zu schützen. Im Laufe des Winters, wenn die Schnee-Sleen keine Leems mehr fangen, rückten sie in Rudeln immer näher an die Lager heran, und das konnte gefährlich werden.
»Selbst wenn wir genug zu essen haben für den Winter«, sagte ich, »muß ich bald aufbrechen, wenn Karjuk nicht bald kommt, auch wenn das zur Folge hat, daß ich in der Polarnacht aufs Eis muß.«
»Bleib im Lager!« forderte Imnak mich auf.
»Du brauchst mich nicht zu begleiten, mein Freund.«
»Sei kein Dummkopf, Tarl, der mit mir jagt«, sagte er.
»Du kannst bei deinen Freunden bleiben, die sich im Festhaus vergnügen.«
»Habe keine schlechte Meinung von meinem Volk«, gab er zurück, »weil es gern lacht und sich Geschichten erzählt und singt. Die Jäger haben nicht immer ein angenehmes Leben.«
»Verzeih mir«, sagte ich.
»Im Festhaus gibt es keinen meines Volkes, so er erwachsen ist, der nicht mindestens eine Periode schlechter Jagdbeute durchmachen mußte«, sagte er. »Die Kinder wissen davon noch nichts, wir erzählen es ihnen nicht.«
Ich wußte, daß die rothäutigen Jäger ihre Kinder sehr großzügig behandelten. Sie schalten sie selten und schlugen sie fast nie. Sie schützten ihre Kleinen so gut sie konnten. Früh genug würden die Kinder erfahren, was das rauhe Gor für sie bereithielt. Bis dahin sollten sie Kinder bleiben.
»Nicht wenige Erwachsene meines Volkes haben schon Angehörige des Volkes verhungern sehen«, fuhr Imnak fort. »Oft ist das nicht der Fehler unserer Leute. Es kommt eine Krankheit oder schlechtes Wetter. Manchmal gibt es ein Unwetter, und der Schnee deckt die Atemlöcher des Sleen zu.« Er sprach sehr leise. »Manchmal gibt es auch Unfälle. Ein Kajak wird zerrissen, man stürzt. Zuweilen bricht auch das Eis. Nein, habe keine schlechte Meinung von meinem Volk. Laß sie lachen und fröhlich sein. Verachte sie nicht wegen ihrer Freude darüber, daß die Fleischgestelle schwer beladen sind.«
»Verzeih mir, mein Freund.«
»Schon geschehen.«
»Du bist ein großer Jäger«, sagte ich.
»Ich bin kein großer Jäger«, gab er zurück. »Aber es gab mal einen Tag, da tötete ich sechs Sleen.« Er grinste.
»Gehen wir ins Festhaus«, sagte ich.
Gemeinsam kehrten wir in den Kreis der anderen zurück.